ADHS: Medikamentöse Therapie nicht verteufeln!

Unruhig, unaufmerksam, unbeherrscht und unverstanden – hyperaktive Kinder haben es nicht leicht und werden schnell zu Außenseitern im Kindergarten oder in der Schule. Das Problem mit dem sperrigen Terminus „Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) tritt bei Jungen häufiger auf als bei Mädchen. Die Kinder kaspern und zappeln, sind laut und ungeduldig und flippen schon bei Kleinigkeiten aus. Die Hoffnung der genervten Eltern und Lehrkräfte, das Problem werde sich mit der Zeit schon geben, geht leider nicht immer in Erfüllung, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme: Einige Symptome können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Viele der früheren „Zappelphilippe“ entwickeln sich zu zerstreuten und vergesslichen, sprunghaften und launischen Erwachsenen.

ADHS ist keine neue Störung, stellt die Stiftung Kindergesundheit klar: Die erste lehrbuchmäßige Beschreibung einer Verhaltensstörung mit den Merkmalen von ADHS stammt vom deutschen Arzt Melchior Adam Weikard bereits aus dem Jahr 1775. Die charakteristischen Symptome des „Zappelphilipp“ sind seit 1845 im beliebten Kinderbuch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Mediziners Heinrich Hoffmann dokumentiert. „ADHS gilt heute als die häufigste Verhaltensstörung bei Kindern“, sagt Priv.-Doz. Dr. Katharina Bühren, Oberärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie am kbo-Heckscher-Klinikum München.

Verträumt, abgelenkt und vergesslich

Die typischen Verhaltensweisen der Störung treten in den verschiedenen Altersstufen in unterschiedlicher Ausprägung auf:

  • Bei den meisten betroffenen Vorschulkindern mit ADHS steht ein ausgeprägter Bewegungsdrang im Vordergrund. Viele von ihnen haben schon im Kindergarten häufiger Streit mit anderen und handeln plötzlich und unüberlegt.
  • Im Schulalter fallen die Kinder vor allem in Situationen auf, wenn von ihnen erwartet wird, lange und ruhig sitzen zu bleiben oder leise zu sein.
  • Vielen Kindern fällt es schwer, sich zu konzentrieren. Sie übersehen Details, machen Flüchtigkeitsfehler, haben Probleme beim Organisieren und Planen von Aufgaben, verlieren Sachen, sind verträumt, ablenkbar und vergesslich. Diese Symptome bleiben auch im Erwachsenenalter oft noch bestehen.
  • Einige leiden unter einer erhöhten Impulsivität: Sie reagieren spontan und riskant, ohne über die Folgen nachzudenken, fallen anderen ins Wort oder haben heftige und mitunter verletzende Wutausbrüche, die im sozialen Miteinander zu schweren Konflikten führen können.

ADHS wurde noch bis in die 90-er Jahre oft als eine Störung angesehen, die ausschließlich das Kindes- und Jugendalter betrifft und mit dem Erwachsenwerden ausheilt. Mittlerweile gibt es an mehreren Universitäten Spezialambulanzen, in denen die besondere Situation der von ADHS betroffenen Erwachsenen untersucht und behandelt wird.

Nach einer druckfrischen Studie internationaler Experten tritt ADHS weltweit bei 5,9 Prozent der Kinder und 2,8 Prozent der Erwachsenen auf. Für die Studie haben 79 Wissenschaftler aus 27 Ländern und sechs Kontinenten die Fachliteratur der letzten zwanzig Jahre durchforstet, um die heutigen Möglichkeiten der Behandlung zu beurteilen und Vorurteilen und Stigmatisierungen entgegenzutreten. Die Ergebnisse wurden in einer internationalen Konsensuserklärung veröffentlicht (Faraone S. et al. 2021).

Ist das Kind nur schlecht erzogen?

Zu den wiederkehrenden Vorurteilen, Mythen und „Fakenews“ gehört die Behauptung, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose handelt, um eine erfundene Störung, die es gar nicht wirklich gibt, und deren medikamentöse Behandlung lediglich dazu dient, die nervigen und störenden Kinder ruhigzustellen.

Viele Eltern eines ADHS-betroffenen Kindes werden außerdem mit einem weiteren, weit verbreiteten Vorurteil konfrontiert: Man wirft ihnen vor, erzieherisch nachlässig und nicht streng genug zu sein, ihr umtriebiges Kind sei deshalb einfach schlecht erzogen, böse oder dumm.

„Die von ADHS betroffenen Kinder sind aber weder böse oder dumm noch schlecht erzogen“, unterstreicht PD Dr. Katharina Bühren mit großem Nachdruck. „Viele von ihnen entwickeln einen kaum zu bändigenden Bewegungsdrang, sind aufbrausend, können leicht ausrasten und mit ihren unvermittelten Wutausbrüchen Eltern, Spielkameraden und Lehrkräfte zur Weißglut bringen. Sie wirken deshalb als ungehorsam, unwillig oder dumm, obwohl sie meist normal begabt und nicht selten sogar überdurchschnittlich intelligent sind“.

Die Schule ist oft überfordert

Zwar sitzen laut Statistik heute in jeder Schulklasse ein bis zwei von ADHS betroffene Kinder. Doch viele Lehrkräfte sind mit dem Krankheitsbild ADHS so wenig vertraut, dass sie das Kind lieber auf eine Förderschule mit Förderschwerpunkt Lernen (früher „Sonderschule“) schicken möchten, anstatt den Eltern die Untersuchung ihres Kindes bei einer Fachärztin oder einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu empfehlen.

Die medikamentöse Behandlung der Störung wird in diesem Jahr 85 Jahre alt: Es war 1937, als der US-amerikanische Psychiater Charles Bradley die Symptomatik des hyperaktiven Kindes genauer beschrieb und mit einem amphetamin-haltigen Medikament die ersten therapeutischen Erfolge hatte. Seither ist die Wirksamkeit der Behandlung mit Stimulanzien in weit über 6.000 Publikationen bestätigt worden.

Dennoch wird die medikamentöse Behandlung von Kindern mit ADHS seit langen Jahren kontrovers diskutiert. Manche Medien schüren immer wieder Zweifel an der Existenz des Leidens und vermuten hinter seiner Behandlung mit Stimulanzien wie „Ritalin“ eine Verschwörung zur Ruhigstellung des umtriebigen Kindes.

Das Kind braucht eine Chance

Die in den Medien oft einseitig und unsachlich geführte Debatte darf jedoch nicht dazu führen, dass den betroffenen Kindern und ihren oft verzweifelten Eltern eine nachweislich wirksame und sichere Therapie vorenthalten wird, betont die Stiftung Kindergesundheit in ihrer Stellungnahme. Bei der Therapie geht es nicht darum, die Kinder brav zu machen: Sie sollen vielmehr eine Chance erhalten auf eine Behandlung, die ihnen eine ungestörte Entfaltung ihrer Fähigkeiten ermöglicht. Sonst drohen das Scheitern in der Schule, Defizite in der Bildung, Arbeitslosigkeit sowie weitere psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, ein erhöhtes Risiko für Drogenmissbrauch oder eine Delinquenzentwicklung.

Es ist nicht leicht, für das einzelne Kind mit einer ADHS die optimale Behandlung zu finden. Als wünschenswert gilt eine „multimodale“ Therapie, d.h. eine individuelle Kombination aus verschiedenen Therapieformen. Mögliche Elemente der Behandlung sind die Aufklärung und Beratung sowie Schulung der Eltern, eine Verhaltenstherapie, Konzentrationstrainings und die Verordnung von Medikamenten.

„Hat ein Facharzt oder eine Fachärztin bei einem Kind die Erkrankung nach einer sorgfältigen und umfassenden Untersuchung klar diagnostiziert, ist der Nutzen einer medikamentösen Behandlung eindeutig nachgewiesen“, betont PD Dr. Katharina Bühren.

Für die medikamentöse Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS sind in Deutschland verschiedene Wirkstoffe in einer Vielzahl von Arzneimitteln zur Einnahme zugelassen. Bei diesen Wirkstoffen können zwei Gruppen unterschieden werden: einerseits die sogenannten Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin, Lisdexamfetamin), andererseits die sogenannten Nicht-Stimulanzien (Atomoxetin und Guanfacin). Die Stimulanzien sind den Betäubungsmitteln zugeordnet, ihre Verordnung unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz.

Die Medikamente regen die Tätigkeit bestimmter Gehirnregionen an und beeinflussen das Dopamin-System, das für die Kontrolle von Aktivität und Aufmerksamkeit eine Rolle spielt. PD Dr. Katharina Bühren: „In vielen Fällen ermöglicht erst die Einnahme des Medikaments, dass die elterlichen Erziehungsmaßnahmen oder eine Verhaltenstherapie ihre Wirkung entfalten können“.

Medikamente beugen späteren Risiken vor

Auch die internationalen Autoren der anfangs erwähnten Studie kamen nach der Analyse der bisher vorliegenden Forschungsergebnisse zu einer eindeutig positiven Beurteilung der medikamentösen Behandlung von ADHS. Sie stellten fest:

  • Die medikamentöse Behandlung reduziert das Risiko von späteren Unfallverletzungen, Schädel-Hirn-Traumata, Drogenmissbrauch, Tabakkonsum, Bildungsschwäche, Knochenbrüchen, sexuell übertragbaren Infektionen, Depressionen, Suizid, kriminellen Aktivitäten und Schwangerschaften im Teenageralter.
  • Die Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten sind in der Regel mild und können durch eine Änderung der Dosis oder des Medikaments verringert werden.
  • Nicht-medikamentöse Behandlungen von ADHS-Symptomen sind weniger wirksam als medikamentöse Behandlungen, sie sind jedoch häufig nützlich bei Problemen, die auch nach der Verordnung des Medikaments bestehen bleiben.

Das Kind wird nicht süchtig

Hartnäckig hält sich die Behauptung, die Medikamente zur Behandlung des ADHS-Syndroms würden das Kind süchtig machen. Diese Befürchtung sei jedoch nach dem gegenwärtigen Wissenstand unbegründet, betont die Stiftung Kindergesundheit.

Zwar unterliegen einige der zur ADHS-Behandlung eingesetzten Medikamente dem Betäubungsmittelgesetz. Der Grund hat aber mit den Kindern nichts zu tun: Der Inhaltsstoff Methylphenidat wird wegen seiner aufputschenden Wirkung häufig missbräuchlich verwendet – von Erwachsenen. Bei den von ADHS betroffenen Kindern wirkt es allerdings nicht aufputschend: Es gleicht aus, beruhigt und hilft dem Gehirn des Kindes, Umweltimpulse besser zu verarbeiten.

Zerstreut, aber höchst kreativ

Erwachsene Zappelphilippe haben oft eine gemeinsame Eigenschaft, berichtet die Stiftung Kindergesundheit: Wenn etwas sie besonders interessiert, können sie sich regelrecht „zusammenreißen“ und sich diesem Problem äußerst intensiv und anhaltend widmen. Ihre oft hohe Kreativität befähigt die zerstreuten Chaoten in manchen Berufen zu großen Leistungen.

Viele Erwachsene mit ADHS arbeiten als Manager, Vertreter, Verkäufer, Politiker, Moderatoren, Entertainer, Künstler, Wissenschaftler und Erfinder. Wolfgang Amadeus Mozart soll ebenso ein hyperaktives Kind gewesen sein, wie Albert Einstein, Salvador Dali oder Thomas Alva Edison.

Quelle

Stiftung Kindergesundheit

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
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