Von “virtuellem Striptease” und dem “Digitalen Tal der Ahnungslosen” –

Wie Jugendliche das Internet nutzen und wie man damit umgehen sollte

Axel Dammler
 Dammler

 

 

 

 

Dieser Artikel beleuchtet, welche Motive und Bedürfnisse hinter der Internet-Nutzung von Jugendlichen stehen. Online-Aktivitäten geschehen nicht zufällig: Sie sind einerseits eine Reaktion auf eine sich verändernde Gesellschaft, andererseits aber im Grunde auch nichts anderes als “nur” eine modernere Form von Dingen, die Jugendliche zu allen Zeiten beschäftigt haben. Vor diesem Hintergrund erläutert der Beitrag, welche Probleme tatsächlich durch die jugendliche Internetnutzung entstehen, und wie Eltern und Pädagogen damit umgehen sollten.

Liebe Leserin, lieber Leser: Ich nehme einfach mal an, dass Sie auch noch so ein “Medien-Dinosaurier” sind wie ich: Sie schauen Fernsehen, hören Radio, lesen eine Tageszeitung und vielleicht noch die eine oder andere Zeitschrift, Sie hören Musik über ihre Stereoanlage – aber das Internet nutzen Sie natürlich auch.

Die Medienvielfalt, die wir “alten Menschen” (ich selbst bin Jahrgang 1965) lustvoll kultivieren, ist den heutigen Jugendlichen komplett fremd: In vielen Jugendzimmern gibt es nur noch den Computer, der über WLAN und Flat Rate quasi nonstop mit der Welt verbunden ist. Und dieser Computer ist die mediale Schaltzentrale für alle Aktivitäten, von der Kommunikation über Communities, Email, Chat oder Skype, Unterhaltung mit Games, Musik und Videos, bis hin zur Bewältigung aller schulischen Aufgaben. Was wir Erwachsenen gewohnheitsmäßig auf verschiedene Medien verteilen, konzentriert sich bei vielen Jugendlichen ebenso gewohnheitsmäßig auf nur ein Medium.

“Digital Natives” – außer Kontrolle?

Computer und Internet sind zentraler Bestandteil des Lebens von Kindern geworden. Man spricht in diesem Zusammenhang gerne von den “Digital Natives”, also den “Ureinwohnern”, die in die digitale Welt hineingeborenen wurden – im Gegensatz zu uns Alten als den “Zuwanderern” in das virtuelle Wunderland (“Digital Immigrants”). Die Art und Weise, wie die Jugendlichen mit dem Internet umgehen, aber eben auch die Fokussierung auf dieses Medium machen Eltern und Lehrern aber zunehmend Angst. Es geht hier zunächst wohl ganz einfach um Kontrollverlust – früher hat man die Jugendlichen ja noch auf der Straße gesehen, heute findet vieles im Dunkeln des Internets statt. Weil Eltern und Lehrer aber oft einfach nicht genau wissen, was wirklich im Internet passiert, befürchten sie das Schlimmste – und werden dabei von Medienberichten unterstützt, die Ängste schüren.

Zum mehr oder weniger fundierten Wissen um handfeste Risiken und kriminelles Potenzial des Internets – vom Mobbing über Online-Sucht bis hin zu illegalem Download – kommt aber auf der anderen Seite bei vielen Erwachsenen auch noch die Unsicherheit darüber, was die Internet-Revolution für das Leben der Kinder eigentlich bedeutet und wie man damit als Erziehende umgehen soll. Jedem ist heute wohl klar, dass das Internet wichtig ist, aber wie kann bzw. sollte man es sinnvoll in die Erziehung der Kinder integrieren? Wozu sollte man aktiv anregen und wo müssen klare Grenzen gezogen werden?

Im Rahmen dieses Artikels können natürlich nicht alle relevanten Aspekte angesprochen und diskutiert werden. Vielmehr kann es nur darum gehen, die Grundzüge der Internet-Problematik anzusprechen. Wer vertiefende und umfassendere Informationen sucht, dem empfehle ich mein Buch “Verloren im Netz”, in dem ich sehr viel ausführlicher zeige, was wirklich im Internet passiert, wo echte Gefahren lauern und welche Chancen das Internet bietet.

Um sich diesem Thema anzunähern, macht es Sinn, zunächst etwas weiter auszuholen und kurz die Vogelperspektive einzunehmen. Ich arbeite seit 1992 als Kinder- und Jugendforscher mit Jugendlichen und verfolge seit dieser Zeit auch den Umgang der Kids mit Computer und Internet. Doch der Wandel, den Kindheit und Jugend seit dem erfahren haben, trifft nicht nur die neuen Medien. Die Lebenswelt insbesondere die der Jugendlichen ist eine ganz andere geworden, und dabei nicht unbedingt eine bessere.

Um nur drei Aspekte kurz zu beschreiben:

  • Aus einer angenehmen Vielfalt der Möglichkeiten ist mittlerweile eine komplette Überforderung der Jugendlichen geworden. Wie soll man denn z.B. heute aus über 400 IHK-Geprüften Ausbildungswegen für sich den richtigen Beruf finden? Wie aus der Vielfalt der Freizeitmöglichkeiten das passende finden? Jugendliche reagieren auf diese unbegrenzte Vielfalt mit Multioptionalität: Sie nutzen die Möglichkeiten aus, die sich Ihnen bieten, lassen sich aber nicht mehr festlegen. Man spielt immer noch gerne Fußball und Basketball, aber eben nicht mehr im Verein, weil man die starren Trainingszeiten nicht akzeptieren mag.
  • Es wird immer der Werteverlust der Gesellschaft beklagt, doch genau das Gegenteil ist der Fall: Es gibt einen Überfluss an Ideologien und moralischen Werten. Allein, was typisch männlich oder typisch weiblich ist bzw. sein soll, lässt sich heute kaum noch greifen – zu viele unterschiedliche Vorstellungen gibt es dazu. Und in diesem Chaos sollen Jugendliche sich zurechtfinden und ihre eigene Identität finden …
  • In diesem Zusammenhang ist es auch problematisch, dass Jugendlichen heute die Gegner und Feindbilder fehlen, an denen man sich reiben und seine eigene Persönlichkeit schärfen könnte. In meiner Jugend gab es Franz-Josef Strauß und Helmut Kohl, über die man sich als Jugendlicher herrlich aufregen konnte – die einen aber auch dazu brachten, selbst Stellung zu beziehen und sich in der Gesellschaft zu verorten. Die heutige Politikergeneration um Kanzlerin Merkel steht dagegen so wenig für klare Botschaften und Positionen, dass sie weder als Vorbild, noch als abschreckendes Beispiel taugt. Politik – und damit aber auch die Gesellschaft als Ganzes – ist für viele Jugendliche immer stärker zu einem “Un-Thema” geworden. Man dreht sich einfach weg, interessiert sich nicht – und nimmt damit quasi seinen Abschied aus der erwachsenen Gesellschaft, zieht sich in sein privates Reservat zurück.

Diese Beispiele zeigen schon, dass die massive Hinwendung zum Internet nicht nur aus dem Pragmatismus der Jugendlichen oder dem Neuigkeitswert des Mediums entstanden ist. Vielmehr muss man das Internet fast schon als Gegenmodell zur erwachsenen Gesellschaft begreifen – eine Art Gegengesellschaft, in der die Jugendlichen vieles anders und einiges sogar deutlich besser machen als wir Erwachsenen.

Internetnutzung als Gegenreaktion auf die Gesellschaft

Ich gehe so weit zu behaupten, dass die jugendliche Internetnutzung eine Gegenreaktion darauf ist, wie sich die Gesellschaft heute den Jugendlichen präsentiert:

  • Ob wir das wollen oder nicht: Wir bewegen uns hin zu einer Gesellschaft, die in jeder Beziehung immer mobiler wird. Dass man einen Job von der Ausbildung bis zur Rente beibehält, womöglich auch noch im gleichen Unternehmen, ist ein Modell der Vergangenheit. Stattdessen werden Stichworte wie lebenslanges Lernen, räumliche Mobilität und Flexibilität beim Wechseln zwischen unterschiedlichen Berufen immer mehr zum Standard werden. Die New Economy hat es anfang dieses Jahrtausends vorgemacht: Es zählt immer weniger der Ausbildungsweg, sondern vielmehr, was man im neuen Job an Inspiration und Motivation mitbringt – das notwendige Handwerkszeug lernt man dann schon im Laufe der Zeit im Unternehmen selbst.
  • Und das Internet ist das Instrument, um diese Flexibilität im Alltag umzusetzen. Die Vernetzung im Web ermöglicht nicht nur das konstante Mitwachsen und Mitlernen im beruflichen Bereich, sondern vor allem auch das Kontakt halten mit Freunden und professionellen “Seilschaften”, wenn man eben nicht mehr sein Leben lang am gleichen Ort bleiben kann. Communities wie Facebook, Werkenntwen, oder StudiVZ sind nichts anderes als eine Heimat im virtuellen Raum, die ihren Nutzern erlauben, trotz aller Mobilität im Alltag ihre Identität und Kontinuität bei ihren Beziehungen zu bewahren.
  • In diesem Zusammenhang muss man auch den virtuellen Striptease sehen, den viele Jugendliche in den Communities betreiben. Wir Erwachsenen schütteln den Kopf darüber, wie sich die Jugendlichen dort präsentieren, wie viel sie über sich preisgeben. Das ist auch in der Tat ein Problem, selbst wenn die Jugendlichen hier schnell dazu lernen (es ist z.B. auffällig, wie viele Profile auf SchülerVZ in letzter Zeit nur noch Hinterköpfe statt Gesichter zeigen). Aber: Die Jugendlichen präsentieren sich hier ehrlich und authentisch so, wie sie wirklich sind. Da wird nichts vorgetäuscht oder geschummelt – und wann sind wir Erwachsenen schon mal so ehrlich wie die Jugendlichen in ihren Profilen? Denken Sie aber auch hier vor allem an eine immer mobiler werdende Gesellschaft der Zukunft, in der man immer weniger Zeit haben wird, tiefgründige Freundschaften zu schließen. Man kann es dann bei der oberflächlichen Freundlichkeit belassen, die wir Deutschen bei den (sehr mobilen!) Amerikanern so gerne belächeln. Oder aber man gibt sich und den anderen die Möglichkeit, sich schnell und ernsthaft kennenzulernen, in dem man viel von sich preisgibt.

Wie gesagt: Es geht nicht darum, ob wir diese gesellschaftlichen Entwicklungen gutheißen oder nicht. Sie werden kommen, egal wie wir darüber denken, und unsere Kinder müssen darauf vorbereitet sein. Gerade die Communities muss man also als ein Symptom unserer Zeit sehen, als ein notwendiges Werkzeug, um in der heutigen Zeit bestehen zu können. Gleiches gilt natürlich auch für die vielfältigen Formen des Informations- und Wissensmanagements im Web. Heute kann niemand mehr alles wissen und können, das Internet aber kann es. Und die “Weisheit der Massen”, manifestiert in Wikipedia und den zahlreichen Foren, in denen alle möglichen Probleme diskutiert und gelöst werden, ist jederzeit und für jeden zugänglich. Das Internet ist das ideale Instrument, um durch unsere heutige Wissensgesellschaft zu navigieren.

Die gute Nachricht ist dabei vielleicht, dass die Jugendlichen trotz der anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und trotz ihres Umganges mit dem Internet noch lange keine Aliens von einem anderen Stern sind. Sie sind eigentlich gar nicht so verschieden von uns, als wir jung waren, denn im Grunde machen die Jugendlichen immer noch das Gleiche wie wir früher – sie machen es jetzt nur (auch) im Internet. Die Internet-Aktivitäten der Jugendlichen entstehen nicht zufällig – sie sind bedingt durch die zentralen Grundbedürfnisse der Jugend, z.B.:

  • Finden einer eigenen Persönlichkeit: Die Schlüsselaufgabe der Jugend ist das Finden der eigenen Identität, auch in Abgrenzung zu den Eltern. Das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten, nicht nur zu zeigen, wer man ist, sondern auch auszuprobieren, wer man sein könnte – einfach, in dem man in verschiedene Rollen schlüpft oder sich immer wieder verändert. Früher konnte man sich nur bei den Klamotten, Frisuren, oder der Dekoration des eigenen Zimmers austoben, heute geht das auch im Web. Und Jungs können ihre Spezialthemen – seien es Sport, Musik, Technik oder Games – herrlich über die vielen Angebote im Web kultivieren um für den Wissenswettkampf und das Fachsimpeln auf dem Schulhof gerüstet zu sein.
  • Integration: Jugendliche wollen dazu gehören. Heute geht es dabei eben nicht nur um die coole Clique auf dem Schulhof, sondern um die Liste der Freunde in der Community – auch die signalisiert nämlich, dass man dazu gehört. Und wenn man am Nachmittag mit den Freunden über Instant Messaging Dienste wie MSN oder ICQ und Communities wie SchülerVZ vernetzt ist, dann dient das weniger dem Austausch wichtiger Informationen. Vielmehr vergewissert man sich so ständig, dass man miteinander verbunden, also integriert ist.
  • Liebe und Sex: Die Suche nach einem Partner ist der stärkste Treiber jugendlichen Verhaltens. Und dass das Internet eine gute Plattform für das Dating ist, zeigt schon der Erfolg der Flirt- und Partnersuche-Websites für Erwachsene. Und natürlich schauen die Jugendlichen auch, was so “auf dem Markt ist”.
  • Abwechslung: Jugend ist ständig auf der Suche nach Stimulation – Stagnation bedeutet erwachsene Langeweile, jedes Neue, das man sich erschließt, ist ein Schritt nach vorne bei der eigenen Entwicklung. Jugendliche sind immer auf der Suche nach der neuen Sensation, dem neuen Kick, um dem eigenen Leben neue Impulse zu geben. Und all das bietet das Internet natürlich – wo sonst gibt es soviel Vielfalt und Stimulation?

Das Internet ist also nicht nur ein Zeichen der Zeit, es ist auch noch das perfekte Jugendmedium, weil es die jugendlichen Grundbedürfnisse so perfekt befriedigt. Damit ist alles wunderbar, oder?

Auf dem Weg zu Medienmonokultur

Nein, es ist nicht alles wunderbar, ganz im Gegenteil – denn sonst wäre dieser Artikel auch nicht notwendig. Der Grund, warum ich die bisherigen Punkte so ausführlich beschrieben habe, ist nicht, dass es die ganze Wahrheit ist und das Internet perfekt sei. Vielmehr ist es in einem ersten Schritt wichtig, dass wir Erwachsenen das Internet als das akzeptieren, was es ist: Eine Notwendigkeit in der Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Wir müssen es begreifen als einen notwendigen Schritt in die Zukunft – den wir im Übrigen genauso machen müssen wie unser Nachwuchs.

Der zweite, ebenso notwendige Schritt ist aber, auch die Grenzen zu erkennen und zu ziehen – und darum soll es nun gehen. So toll wie es ist: Ein Allzweckmedium ist das Internet nämlich nicht, und so exorbitant manche Stärken dieses Mediums sind, eklatant sind andererseits auch manche Schwächen.

Um zunächst beim Thema Information zu bleiben: Das Internet ist hier ein “Pull-Medium”. Dies bedeutet, dass sich der User die gewünschten Informationen aus dem Internet herauszieht – ob mit Google oder über einen anderen Weg. Hier ist das Internet perfekt: Es ermöglicht uns, schnell und gezielt an die Informationen zu kommen, die wir suchen – kein anderes Medium kann dem Web hier das Wasser reichen. Das Internet ist aber andererseits kein “Push-Medium”, das Informationen aktiv an den Nutzer herantragen kann. Anders ausgedrückt: Wir finden das was wir suchen, nicht mehr und nicht weniger. Was es darüber hinaus alles gibt, findet uns aber nicht. Wir alle rennen mit Scheuklappen durch die virtuelle Welt, denn wir besuchen immer die gleichen Websites – Jugendliche sind da nicht anders als wir Erwachsenen. Wir Erwachsenen vermeiden dabei z.B. gerne dissonante und unbequeme Information sondern nutzen eher das, was uns in unseren Einstellungen bestärkt – wer politisch links ist, wird eher auf Spiegel.de gehen als ein CDU/CSU-Wähler.
Bei den Jugendlichen gibt es ein anderes Problem: Bei ihnen dominieren die Kommunikation über Chats und Netzwerke und Unterhaltung mit Seiten wie Youtube die Nutzung. Das Internet ist ein hervorragendes Informationsmedium, doch die Jugendlichen nutzen es dafür kaum – nur, wenn sie absolut müssen.

Dazu kommt noch ein anderes Problem: Kein Mensch liest gerne am Bildschirm. Studien haben z.B. gezeigt, dass man bei mehrseitigen Artikeln, wie man sie z.B. auf Spiegel.de findet, mit jeder Seite, die man weiterklicken muss, 40 % der Nutzer verliert. Das Internet verleitet einfach dazu, nur noch Schlagworte und Links aufzunehmen, das Wissen dahinter bleibt aber auf der Strecke, weil niemand mehr so tief in Themen eintaucht – von den Problemen des Kopierens und der Plagiate ganz zu schweigen …

Und hier liegt tatsächlich eine große Gefahr des Internets: Wir Erziehenden müssen verhindern, dass es zu einer Medienmonokultur kommt, dass die mediale Welt der Kids nur noch aus Google, Wikipedia und Youtube besteht. Die ganze Vielfalt der Welt, aber auch nur eine solide Allgemeinbildung ist aus solchen Quellen nicht zu speisen – das Internet allein führt uns ins “Digitale Tal der Ahnungslosen und Fachidioten”.

Übertragen auf die Erziehung heiß das: Ja – man muss den Kindern und Jugendlichen das Internet beibringen. Man muss ihnen aber auch vermitteln, was das Internet alles nicht kann. Dass eine Zeitung oder Bücher eben ganz anderes und sehr viel tiefgehenderes Wissen vermitteln können.

Empathie im sozialen Netz?

Ein anderer, wichtiger Aspekt ist das Thema der neuen Heimat in virtuellen Netzwerken. Vereinfacht ausgedrückt ist hier so lange alles im Lot, wie die Jugendlichen sich dort mit den gleichen Freunden treffen, die sie auch jeden Tag in der Schule sehen. Dann sind Chats und Communities nichts anderes als die moderne (und sozial verträglichere!) Variante des Dauertelefonierens, mit denen gerade weibliche Teenager früher ihre Eltern in den Wahnsinn getrieben haben. Der einfache Rat an die Eltern und Lehrer ist also, sich einfach mal neigen zu lassen, mit wem das Kind online kommuniziert. Kennt man die Visagen, ist alles im grünen Bereich. Was die dann genau miteinander bereden, geht die Erwachsenen natürlich nichts an – aber glauben Sie mir: So aufregend ist das nicht …

Das Entscheidende ist hier die sprichwörtliche Erdung in der Realität: So lange das, was in der Virtualität stattfindet, in der Realität verwurzelt ist, wirkt die Realität als wichtiges Korrektiv für alles, was online stattfindet. Dinge wie Online-Mobbing finden vor allem bei Personen statt, zu denen man keinen engen Kontakt hat, also z.B. Klassenkameraden, die nicht zur eigenen Clique gehören – guten Freunden würde man so etwas weder online noch offline antun.

Der Schlüssel zum Verständnis, was da passiert ist die (fehlende) Empathie. Menschliches Sozialverhalten baut darauf auf, mit den Mitmenschen mitzufühlen, sie nicht verletzen zu wollen. Ohne Empathie käme keine Gemeinschaft zustande, doch Empathie kann sich nur aus dem direkten Kontakt mit anderen entwickeln. Und hier liegt eine große Gefahr des Internets: Die Virtualität schafft Distanz zwischen den agierenden Personen – und das verhindert Empathie. Man kann das mit dem Steinewerfer auf der Autobahnbrücke vergleichen: Der nimmt die Autos unter sich als leblose Gegenstände wahr und versetzt sich nicht in die Menschen, die in diesen Autos sitzen. Würde er an die Familie denken, die vielleicht gerade unter ihm durchfährt, würde er sein Handeln überdenken. Genauso gilt: Würde man sich in den Menschen hineinversetzen, über den man gerade ein Gerücht im Internet posted, würde man sein Tun vielleicht noch mal überdenken. Im Internet fehlt jedoch die Rückkopplung durch die Reaktionen des anderen, man sieht keine Mimik, keine Gestik, sondern man hat es nur mit virtuellen Gegenständen zu tun – und denen fühlt man sich nicht verpflichtet. Ein Beispiel zur Illustration: Die gleichen Jugendlichen, die massenweise illegal Songs aus dem Internet “saugen”, kämen nie auf die Idee, eine CD in einem Geschäft zu stehlen …

Um es grundsätzlich auszudrücken: Viele Probleme, die wir heute mit dem Internet haben, kommen daher, dass wir Menschen kognitiv eigentlich nicht dazu in der Lage sind, mit einem indirekten Kontaktmedium wie dem Internet umzugehen – wir brauchen die direkte Rückkopplung. Und dies zeigt sich nur deswegen stärker bei den Jugendlichen, weil die mehr mit dem Internet machen als wir Erwachsenen.

Trotzdem muss man natürlich gegensteuern! Deswegen auch hier die Übertragung auf die Erziehung: Den Jugendlichen muss klar gemacht werden, dass man es hier nicht mit Bits und Bytes zu tun hat, sondern mit denkenden und fühlenden Menschen.

Verlieren wir unsere Kinder an die Online-Sucht?

Ein Schlagwort, das immer häufiger auftaucht, ist die Online-Sucht. Das ist keine Erfindung der Medien, sondern ein real existierendes Phänomen, das etwa 3 bis 5% der Jugendlichen betrifft. Online-Sucht hat genau die gleichen negativen Konsequenzen wie jede andere Sucht auch – mir sind Fälle bekannt, bei denen die Schule geschmissen oder Jobs verloren wurden.

Online-Sucht entsteht aber eher nicht durch das stundenlange Chatten in Online-Communities, sondern vor allem durch Online-Rollenspiele wie World of Warcraft. Hier schlüpfen die Spieler in Rolle wie Zauberer, Elfen etc. und spielen als diese Figuren im Team in aufwändig gestalteten 3D-Welten. Für die meisten Rollenspieler ist dies ein ganz normaler Zeitvertreib: Genauso, wie sich Erwachsene einmal in der Woche zum Kegeln verabreden, verabreden sich die Spieler, um gemeinsam eine Aufgabe in der Online-Welt zu bewältigen. So weit, so normal und ungefährlich.

Die Suchtgefahr setzt dann ein, wenn das Dasein und die Rolle in der virtuellen Welt als befriedigender und schöner erlebt werden als das eigene Dasein in der realen Welt. Wenn man sich Selbstbestätigung, Anerkennung und Sozialkontakte nur noch aus der virtuellen Welt holt, dann besteht akute Gefahr! Gerade männliche Jugendliche sind hier gefährdet, da sie sich über den eigenen Status definieren – und wer den in der Realität z.B. nicht durch sportliche Leistung oder Coolness gewinnen kann, der könnte geneigt sein, dieses Fehlen durch virtuellen Status aus einer Onlinewelt zu kompensieren.

Theoretisch ist Ähnliches auch bei den Communities wie SchülerVZ denkbar: Wer in der Realität keine Freunde hat, könnte geneigt sein, dies durch virtuelle Freunde auszugleichen – und das kann dann auch in die Sucht und den Abschied aus der Realität führen. Praktisch sieht es aber eben – wie bereits geschildert – so aus, dass virtuelle Freunde und reale Freunde deckungsgleich sind. Und dann braucht man keine Angst vor einer Sucht haben.

Die gleiche Grundregel wie bei den Communities gilt aber auch bei Online-Rollenspielen oder auch bei Shootern wie Counter Strike: So lange die Jugendlichen in der Realität geerdet sind, besteht keine Gefahr, dass sie in die Sucht oder irgendein anderes extremes Verhalten abdriften könnten: Die Realität wirkt als Korrektiv deutlich stärker, als es jedes Internet-Angebot vermag. Gefährlich wird es immer nur dann, wenn dieses Korrektiv fehlt, wenn die Virtualität zur Realität wird. Damit ist die Grundregel Nummer 1 für alle Erziehenden eigentlich, nur dafür zu sorgen, dass die Erdung der Kinder und Jugendlichen in der Realität erhalten bleibt.

Dabei empfiehlt sich auch eine gewisse Gelassenheit: Jugend ist nun mal eine Phase der Extreme, in der die Jugendlichen bewusst Grenzen austesten – zum einen, weil sie eine hohe Reizstärke suchen, zum anderen, weil sie in manchen Dingen einfach nur sprichwörtlich “zu doof” sind (so ist z.B. das Risikozentrum im Gehirn bei Jugendlichen nicht ausgereift). Die gute Nachricht ist aber, dass bei der großen Mehrheit mit zunehmendem Alter irgendwann Normalität und Ruhe einkehrt. Die heute 20- bis 30-Jährigen Männer, die in ihrer Jugend oft stundenland “gezockt” haben, sagen heute beispielsweise meistens, dass sie entweder keine Zeit mehr zum Spielen oder einfach andere Interessen haben.

So wird auch der Enthusiasmus für virtuelle Netzwerke oder Online-Rollenspiele ganz sicher nachlassen, wenn aus heutigen Jugendlichen einmal junge Erwachsene werden. Allerdings sollten diese Erwachsenen in ihrer Kindheit und Jugend eben auch gelernt haben, mit dem Medium Internet so umzugehen, dass sie es für ihr weiteres Leben und für unsere Gesellschaft sinnvoll einsetzen können.

Weiterführende Literatur

Axel Dammler (2009): Verloren im Netz. Macht das Internet unsere Kinder süchtig? Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh.
Die Inhalte: Wie sieht die Lebenswelt der heutigen Jugend aus? Was machen die Jugendlichen wirklich im Netz? Wo liegen die Risiken des Internets und wie kann man ihnen begegnen? Folgen der Internetnutzung für das Individuum und die Gesellschaft. Forderungen für einen sinnvollen Umgang mit dem Internet.

Autor

Axel Dammler ist geschäftsführender Gesellschafter von iconkids & youth, dem größten deutschen Spezialinstitut für Kinder- und Jugendforschung. Geboren 1965 in Lemgo, hat er nach seinem Abitur in München Kommunikationswissenschaft studiert. Er arbeitet seit 1992 mit jungen Zielgruppen und hat seitdem zahlreiche Studien zu nationalen und internationalen Medien- und Konsumgütermärkten durchgeführt. Er arbeitet außerdem als Berater und hat neben seinem aktuellen Buch zum Thema Jugend und Internet auch mehr als 50 Artikel sowie ein Marketing-Fachbuch und einen Elternratgeber veröffentlicht. Axel Dammler ist Vater zweier Töchter und lebt mit seiner Familie bei München.

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Erstellt am 7. Februar 2014, zuletzt geändert am 7. Februar 2014