Sind Noten wirklich nötig?

Prof. Dr. Hans Brügelmann

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Noten erfüllen ihre eigenen Ansprüche (Objektivität, Vergleichbarkeit usw.) nicht. Verbalbeurteilungen werden zwar oft auch problematisch formuliert. Aber sie machen die Subjektivität des Urteils transparent. Und anders als Ziffernnoten können sie konkret benennen, was zu tun ist, um Schwierigkeiten zu überwinden.

Für die Kultusminister scheint die Antwort auf die Titelfrage eindeutig. Jedenfalls haben sie den notenfreien Raum in der Grundschule immer wieder eingeengt. Dies zeigen die Beschränkung auf Schulversuche etwa in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, aber auch der Trend wieder zu Kopfnoten.

Auf der anderen Seite: Als Lernbilanz sind Ziffernnoten durch viele Untersuchungen in Frage gestellt worden. Zahlen garantieren keine Objektivität und keine Vergleichbarkeit:

  • Gemessen an standardisierten Test weichen die Maßstäbe in verschiedenen Klassen erheblich voneinander ab: eine 2 in Klasse A kann einer 4 in Klasse B entsprechen.
  • Auch die Rangfolge von Arbeiten beurteilen verschiedene LehrerInnen unterschiedlich. Das gilt nicht nur für Aufsätze, sondern auch für Diktate und Mathematikarbeiten.
  • Durch selektive Informationen zu den angeblichen VerfasserInnen konnten diese Abweichungen in Untersuchungen systematisch nach oben bzw. unten verzerrt werden.
  • Selbst wenn dieselben LehrerInnen einzelne Arbeiten nach einiger Zeit erneut bewerten, sind Abweichungen die Regel, nicht die Ausnahme.

Es ist also nicht weit her mit der Aussagekraft von Ziffernnoten: Hinter einer „3“ in Deutsch beispielsweise können sich ganz unterschiedliche Profile verbergen. Vor allem für die Planung der anschließenden Förderung geben sie keine Hinweise.

Auch die Sorge, ohne Noten würden sich Kinder nicht anstrengen, hat sich in verschiedenen Untersuchungen erledigt.

Verbale Beurteilungen sind nicht objektiver als Noten. Aber sie suggerieren diesen Anspruch auch nicht. Und sie können sichtbar machen, wo die Stärken und Schwächen eines Kindes im bewerteten Bereich liegen, unter welchen Bedingungen sie zustande gekommen sind und welche Fortschritte auch hinter schwächeren Leistungen stecken.

Leider nutzen nicht alle Verbalgutachten die Möglichkeiten einer differenzierten Beurteilung. Aber das allein erklärt noch nicht, warum viele “Abnehmer” immer noch Vorbehalte gegen diese Form des Zeugnisses haben. Der Grund liegt tiefer und ist ernst zu nehmen. Eltern beispielsweise wollen nicht nur wissen, was ein Kind geleistet hat, sondern auch, was es leisten wird. Vor allem fehlt ihnen ein klares Prognosekriterium für den Übergang zum Sekundarbereich. Dafür reicht ein nur rückblickender Entwicklungsbericht nicht aus. Sind also in dieser Funktion Noten doch nötig?

Ein kleines Gedankenexperiment: Wenn Sie in Ihrem Betrieb Schule die Auswahl aus fünfzig eingegangenen Bewerbungen für eine Stelle selbst treffen könnten – wonach würden Sie sich richten: nach der Empfehlung eines befreundeten Kollegen, nach der Note des Examens, nach dem persönlichen Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch…?

Kolleginnen, die ich gefragt habe, fanden eine negative Grobauswahl nach Noten durchaus sinnvoll, aber allein nach dem Rang im Notendurchschnitt wollte niemand die Einstellung vornehmen. Auch für Betriebe sind Schulnoten nur ein Kriterium unter anderen.

Überdies zeigen Studien zur Prognosekraft von Noten: Von Schuljahr zu Schuljahr lässt sich die Rangfolge der Schülerinnen und Schüler noch recht gut vorhersagen, schwieriger wird es über mehrere Schuljahre hinweg, von einem Fach zu einem anderen, über verschiedene Schulen oder gar über die Schulzeit hinaus. Ganz schwierig ist die Vorhersage des Ausbildungs- und Berufserfolgs: Bereits nach wenigen Jahren tendieren die Korrelationen zu Examensnoten gegen null.

Es ist unser mechanistisches Denken, das uns in die Irre führt. Schon die Gesundheit lässt sich nicht auf physische Prozesse reduzieren, um wie viel geringer ist die Berechenbarkeit oder gar Steuerbarkeit psychischer Entwicklungen.

Was aber ist die Alternative? Ein Wettbewerbssystem mit knappen Plätzen kommt ohne Beurteilung des Entwicklungspotentials von Bewerberinnen und Bewerbern nicht aus. Sinnvoll sind solche Einschätzungen aber nur, wenn kenntlich gemacht wird, unter welchen Vorbehalten sie stehen:

  • Jede Prognose gilt nur für den Kenntnisstand zu einem bestimmten Zeitpunkt. Schon im nächsten Monat könnte das Urteil anders ausfallen.
  • Prognosen sind persönliche Einschätzungen und gelten nur für die urteilende Person. Eine andere mag mit guten Gründen zu einem anderen Urteil kommen.
  • Prognosen werden nur selten eindeutig ausfallen; in der Regel sind Stärken und Schwächen im Leistungsprofil und im Wechselspiel von persönlichen Merkmalen und individuellen Lebensumständen in der Einschätzung gegeneinander abzuwägen.
  • Jede Prognose für den Übergang zur Sekundarstufe gilt nur im Blick auf eine dort unterstellte Schulsituation, auf bestimmte Lehrerinnen und Lehrer mit einer bestimmten Unterrichtspraxis, auf eine bestimmte Zusammensetzung der Klasse, ein bestimmtes Schulklima…
  • Prognosen gelten nur befristet, z.B. von der vierten zur fünften Klasse. Schon in der achten, erst recht in der Ausbildung kann die Entwicklung erheblich abweichen.

Eine “begründete Empfehlung” beim Übergang in die Sekundarstufe, muss deshalb den hypothetischen Status der Prognose ausweisen. Ziffernnoten verschleiern diese Einschränkungen. Sie suggerieren stabile Eigenschaften, wo (Miss-) Erfolge nur durch eine Interaktion von Kind und Umwelt zu erklären sind.

Darum brauchen wir auch in prognostischer Perspektive Entwicklungsberichte – und ein Schulsystem, das jungen Menschen Entwicklung zugesteht und deshalb Entscheidungen revidierbar hält. Denn erwartungswidrige Lebenswege sind der Normalfall – nicht die Ausnahme!

Literatur

  • Arbeitsgruppe Primarstufe (2006): Sind Noten nützlich und nötig? Zifferzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine wissenschaftliche Expertise. Grundschulverband e.V.: Frankfurt . Weitere Informationen è http://www2.agprim.uni-siegen.de/notengutachten.htm
  • Bartnitzky, H., u. a. (Hrsg.): Pädagogische Leistungskultur. Beiträge zur Reform der Grundschule. Bde. 119, 121, 124. Grundschulverband: Frankfurt. Bd. 119 (2005): Materialien für Klasse 1/2 (Deutsch, Mathematik, Sachunterricht); Bd. 121 (2006): Materialien für Klasse 3/4 (Deutsch, Mathematik, Sachunterricht); Bd. 124 (2007): Ästhetik, Sport, Englisch – Arbeits-/Sozialverhalten è www.grundschulverband.de
  • Ingenkamp, K. (Hrsg.) (1971): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Beltz: Weinheim/ Basel (9. Aufl. 1995).
  • KMK (1968): Erläuterung der Notenstufen bei Schulzeugnissen und Einzelergebnissen in staatlichen Prüfungszeugnissen. Vereinbarung vom 34.10.1968. Kultusministerkonferenz: Bonn.
  • Valtin, R. (Hrsg.) (2002): Was ist ein gutes Zeugnis? Noten und verbale Beurteilung auf dem Prüfstand. Juventa: Weinheim/München.

Quelle

Grundschulzeitschrift, Jg. 13, Heft 132, 4 (überarb. 2013).

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Autor

Dr. Hans Brügelmann, Fachreferent für Qualitätsentwicklung beim Grundschulverband, war bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen.

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Erstellt am 11. Juni 2001, zuletzt geändert am 5. November 2013

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