Schulübergänge gemeinsam gestalten

Inge Michels
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Wie Schulen und Lehrkräfte den Übertritt von den Grundschulen auf die weiterführenden Schulen gemeinsam meistern. „Übergänge sind keine Rennstrecke“ sagt Dr. Otto Seydel, Leiter des Instituts für Schulentwicklung in Überlingen. Jedes Kind braucht seine ganz eigene Zeit, um den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule gut zu bewältigen. Das gelingt umso besser, je bewusster Lehrkräfte den Übergang gestalten.

Susan W. aus dem Landkreis Kassel ist verunsichert. Bereits nach sechs Wochen in der neuen Schule wird wegen Ben eine Klassenkonferenz einberufen. Der Vorwurf: Ihr Sohn spiele den Clown, könne sich schlecht konzentrieren und würde sich gegenüber Lehrkräften respektlos verhalten. Dem sportlich engagierten 10jährigen, der Fußballprofi werden möchte, wird angedroht, ihn von allen außerschulischen sportlichen Wettkämpfen auszuschließen, wenn er sein Verhalten nicht ändere. Auf die Frage der Eltern, ob man ihrem Kind nicht in den ersten Wochen etwas entgegenkommen könnte, erhielten Susan W. und ihr Mann eine klare Antwort: „Wir machen bei den Kindern keine Unterschiede“.  

Damit ist genau das passiert, wovor sich Eltern und Kinder laut einer Umfrage in der Stadt Dormagen am meisten fürchten. Im „Handbuch für einen gelingenden Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule“ halten die Autoren fest: „Durch die gezielten Befragungen von Kindern wurde deutlich, dass (…) die Sorge vor Schwierigkeiten mit den neuen Lehrkräften die meist genannten Ängste und Befürchtungen vor dem Schulwechsel darstellen.“

Kennenlern-Tag und Symbole zur Begrüßung

Wie Lehrkräfte Ängste ernst nehmen, auffangen und den Übergang in ein positives Erlebnis umwandeln können, weiß Katharina Ullrich, Mitglied der Schulleitung der Georg-von-Boeselager Sekundarschule in Swisttal. Kinder aus 22 Grundschulen besuchen im Schuljahr 2017/2018 die ländlich gelegene Sekundarschule. Die Lehrerin hält Kontakt zu 44 Kolleginnen und Kollegen aus den umliegenden Grundschulen im Großraum Köln/Bonn. „Wir haben ein gut funktionierendes Konzept, um Kindern und Eltern den Übergang zu erleichtern. Dazu gehört beispielsweise, dass ich mir die Kinder im vierten Schuljahr anschaue oder mit den Lehrkräften telefoniere, um mir ein Bild von den Mädchen und Jungen zu machen, die zu uns kommen. Das ist wichtig für die Einteilung der Klassen und deren Zuordnung zu meinen Kolleginnen und Kollegen.“
Für Eltern und Kinder ist der Kennenlern-Tag vor den Sommerferien wichtig. Die Kinder bekommen zur Begrüßung ein Symbol überreicht und sehen daran auf einen Blick, mit wem sie in eine Klasse kommen. Sie lernen den Klassenraum und die Lehrkräfte kennen und spüren bei den Kooperationsspielen ein erstes Gefühl von Gemeinschaft wachsen. Währenddessen erhalten die Eltern bei Kaffee und Kuchen ein konkretes Beratungsangebot. „Aus den Rückmeldungen der Eltern wissen wir, dass danach manche Ängste abfallen und die Vorfreude steigt; gerade bei solchen Eltern, die wissen, dass ihr Kind sich nicht ganz so geschmeidig in neue Situationen einfinden kann. Wenn wir zum Beispiel im Vorhinein erkennen, ein Kind braucht klare Strukturen oder eine besondere Form der Zuwendung, dann berücksichtigen wir das.“

„Verdichtete Entwicklungsanforderungen“

Jedes Kind ist anders und startet unter seinen ganz eigenen Voraussetzungen in das Abenteuer Übergang. Unter „verdichteten Entwicklungsanforderungen“, wie Renate Niesel und Wilfried Griebel vom Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München die Zeiten von Übergängen beschreiben,  treten Stärken und Eigenheiten des jeweiligen Kindes deutlicher zutage als vorher. In jedem Fall spielen starke Gefühle eine große Rolle. Das können Ängste oder Vorfreude sein; beides zusammen im Wechsel oder als eine unklare „Gemengelage“. Lehrkräfte können Kinder gezielt danach fragen: Worauf freust du dich? Was möchtest du ausprobieren? Macht dir etwas Sorgen? Wenn eine Zauberfee dir jetzt einen Wunsch erfüllen würde, welcher wäre das?

Auch am Ritzefeld-Gymnasium in Stolberg bei Aachen achtet man darauf, den Grundschulkindern den Übergang zu erleichtern. Schulleiter Dr. Uwe Bettscheider erläutert:  „Wir versuchen, den Übergang durch ein frühes Miteinander gut vorzubereiten. Bei uns hospitieren zum Beispiel die Lehrerinnen und Lehrer der Klassen 5 und 6 einmal im Jahr in den Grundschulen. Wir bieten den Kindern der Klassen 4 einen Experimentiernachmittag in Bio, Physik und Chemie bei uns an und zusätzlich einen eintägigen (Lego-)Roboterworkshop in ihrer Schule. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich über dieses gemeinsame Tun bei den Kindern und den Lehrkräften beider Schulen Vertrauen entwickelt“.

Ben hilft sich selbst

Vertrauen – darum geht es Katharina Ullrich vor allen Dingen. Deshalb verteilt sie großzügig  Visitenkarten mit ihren Kontaktdaten. „Die gehen weg wie warme Semmeln“, lacht sie. „Aber es ist noch nie passiert, dass Eltern mich danach mit Telefonaten oder Mails bestürmt haben. Mein Eindruck ist, dass es für sie sehr beruhigend ist, zu wissen: Wenn ich eine Frage oder eine Sorge habe, kann ich darauf vertrauen, eine Ansprechpartnerin zu haben“. – Und welche Möglichkeit hat Ben gefunden, um nicht von Wettkämpfen ausgeschlossen zu werden? Der aufgeweckte Fünftklässler hat seiner Klassenlehrerin vorgeschlagen, sein Verhalten täglich mit Hilfe eines Selbsteinschätzungsbogens zu kontrollieren. Die Lehrerin ließ sich darauf ein. „Seit zwei Wochen läuft es gut“, stellt Susan W. vorsichtig optimistisch fest.

Kompakt
Der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule stellt Kinder vor besondere Herausforderungen. Sie müssen mit neuen sozialen Situationen und Ansprüchen umgehen lernen und sich eine Umgebung erschließen, die anders und vielfältiger gestaltet ist als die bisherige. Damit dies gelingt, hat die Stadt Dormagen ein Handbuch für einen gelingenden Übergang verfasst und es ins Netz gestellt.

Quelle

Ernst Klett Verlag GmbH

eingestellt am 17. April 2018

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
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