Lernschwierigkeiten

Prof. Dr. Oliver Thiel

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Unter dem Begriff Lernschwierigkeiten versteht man, dass subjektive Leistungsvoraussetzungen zur Bewältigung gestellter Lernanforderungen fehlen bzw. ungenügend ausgeprägt sind, so dass der Lernende bestimmte Lerninhalte auch mit großer Anstrengung nur teilweise oder gar nicht bewältigt. Lernschwierigkeiten können grundsätzlich in allen Fächern auftreten, am bekanntesten sind jedoch Schwierigkeiten in Deutsch, Mathematik oder einer Fremdsprache. Exemplarisch wird aufgezeigt, welche Folgen Lernschwierigkeiten haben können und wie dem vorgebeugt werden kann.

Was sind Lernschwierigkeiten?

Wer wüsste nicht, dass alle an der Schule beteiligten Personen immer wieder mit den unterschiedlichsten Schwierigkeiten zu kämpfen haben:

  • Schwierigkeiten der Lehrkräfte und/oder der Kinder mit den zeitlichen oder materiellen Rahmenbedingungen,
  • Schwierigkeiten der Lehrkräfte mit den Schülern und Schülerinnen, wobei es z.T. von der Wahrnehmung abhängt, ob die Kinder selbst oder der Umgang mit den Kindern als schwierig erlebt wird,
  • Schwierigkeiten der Schüler und Schülerinnen mit den Lehrkräften
  • und schließlich Schwierigkeiten der Schüler und Schülerinnen mit den Lerninhalten bzw. dem Lernen an sich.

Um letztere – so genannte Lernschwierigkeiten – soll es in diesem Beitrag gehen. Wenn ein Kind in der Schule mit dem Lernen in einem bestimmten Bereich (z.B. beim Rechtschreiben oder beim Rechnen) besondere Schwierigkeiten hat, in anderen Lernbereichen jedoch nicht, dann wird von einer isolierten schulischen Minderleistung gesprochen. Im Alltag hat sich der Begriff Lernschwierigkeiten durchgesetzt. Um verstehen zu können, was mit Lernschwierigkeiten genau gemeint ist, muss man diesen Begriff von zwei anderen, ähnlichen abgrenzen – von der Lernbehinderung und der Lernstörung.

Von Lernbehinderung spricht man bei Kindern, die in ihrer Entwicklung bzw. ihren schulischen Leistungen im Vergleich zur Altersnorm einen erheblichen Rückstand aufweisen und deshalb einen sonderpädagogischen Betreuungsbedarf haben.

Wer von Lernstörung spricht, meint damit in der Regel eine mehr oder weniger konstante Persönlichkeitseigenschaft eines Menschen. Das ist aus pädagogischer Sicht wenig hilfreich. Aus der Feststellung, dass ein Kind eine Lernstörung hat, lassen sich noch keine handlungsleitenden Folgerungen ziehen (Lorenz, 1985, S. 70). Dazu müsste man genau erklären können, welche Persönlichkeitseigenschaften genau unter dem Attribut „lerngestört“ subsumiert werden, wie sich diese Persönlichkeitseigenschaften verändern lassen und inwieweit eine Veränderung dieser Persönlichkeitseigenschaften dann tatsächlich zu besseren Leistungen im Unterricht führt. Hierzu gibt es jedoch bislang mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse (Thiel, 2001a, S. 65f). Während einer solchen Definition also nichts Positives abzugewinnen ist, hat sie jedoch negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes, das als „gestört“ stigmatisiert wird (Lorenz, 1985, S. 70).

Unter dem Begriff Lernschwierigkeiten versteht man (vgl. Schulz 1995, S. 15), dass subjektive Leistungsvoraussetzungen zur Bewältigung gestellter Lernanforderungen fehlen bzw. ungenügend ausgeprägt sind, so dass der Lernende bestimmte Lerninhalte auch mit großer Anstrengung nur teilweise oder gar nicht bewältigt. Zu den subjektiven Leistungsvoraussetzungen werden gezählt:

  • der aktuelle Entwicklungsstand von

o Kenntnissen,
o Fähigkeiten,
o Fertigkeiten und
o Einstellungen

  • sowie sozialcharakterliche Besonderheiten wie

o Selbststeuerung,
o Werterleben,
o Leistungsmotivation u.ä.

Obwohl dies Persönlichkeitseigenschaften des Lernenden sind, handelt es sich bei Lernschwierigkeiten weder um eine Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes noch um eine Krankheit. Ursachen für Lernschwierigkeiten sind im komplexen Zusammenwirken zwischen psychischen, physischen und sozialen Faktoren des Schülers auf der einen Seite und den im Bildungs- und Erziehungsprozess gesetzten Bedingungen auf der anderen Seite zu suchen.

Eigenschaften des Kindes allein reichen zur Ursachenerklärung nicht aus. Lernschwierigkeiten treten nur in konkreten Situationen unter bestimmten Bedingungen auf und müssen deshalb auch in diesen Situationen analysiert und charakterisiert werden. Erst eine ungenügende Passung der Voraussetzungen des Lernenden mit den Lernanforderungen führt dazu, dass Schwierigkeiten auftreten und sich verfestigen (Schulz 1994, S. 6-7).

Lernschwierigkeiten können prinzipiell in jedem Fach, Lernbereich oder Stoffgebiet auftreten. Am bekanntesten und für die Schullaufbahn des betroffenen Kindes am bedeutendsten sind jedoch extreme Lernschwierigkeiten in folgenden Fächern:

  • im Mathematikunterricht: Rechenschwäche / Dyskalkulie
  • im Deutschunterricht: Lese-Rechtschreib-Schwäche / Legasthenie
  • im Fremdsprachenunterricht: Fremdsprachen-Legasthenie

Extreme Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht werden umgangssprachlich als Rechenschwäche bezeichnet (Schulz, 1995, S. 39). Als Fremdwort ist auch der Begriff Dyskalkulie gebräuchlich, obwohl er ursprünglich für ein Versagen im Mathematikunterricht geprägt wurde, das auf einem Hirnschaden beruht (Cohn, 1961, S. 301). Der von Ranschburg (1916) geprägte Begriff Arithmasthenie wird heute nur noch selten verwendet.

Treten extreme Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht auf, so handelt es sich meist um eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS). Der ebenfalls von Ranschburg (1916) geprägte Ausdruck Legasthenie sollte möglichst vermieden werden (Spitta, 1977). Für ihn gilt das, was oben schon über den Begriff Lernstörung gesagt wurde.
Ich möchte zunächst anhand eigener empirischer Forschungsergebnisse aufzeigen, in welchem Ausmaß Lernschwierigkeiten in der Schule auftreten und wie diese mit verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften der betroffenen Kinder in Zusammenhang stehen. Anschließend werde ich an einem Einzelfall exemplarisch beschreiben, wie Lernschwierigkeiten verschiedene Probleme auf pädagogischer, sozialer und innerpsychischer Ebene hervorrufen und verstärken können. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen, wie sich Lehrkräfte und Eltern verhalten sollten, wenn Kinder Lernschwierigkeiten bekommen.

Empirische Ergebnisse zu Lernschwierigkeiten

Die im Folgenden berichteten empirischen Ergebnisse wurden aus Daten berechnet, die im Rahmen der Forschungsprojekte SABA (Schulische Adaptation und Bildungsaspiration) und SABA Plus unter der Leitung von Renate Valtin und Irina Würscher erhoben wurden. Anschließend werde ich noch auf Ergebnisse zweier Forschungsprojekte unter der Leitung von Marianne Grassmann eingehen. An allen Forschungsprojekten war ich selbst beteiligt.

Mit SABA wurde eine 1994 begonnene Längsschnittuntersuchung im 5. und 6. Schuljahr fortgesetzt. Untersucht wurden 41 Grundschulklassen aus verschiedenen Berliner Bezirken u.a. mit der Zielstellung, die schulische Entwicklung von Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Schulleistung und schulbezogene Persönlichkeitsmerkmale zu beschreiben (Valtin 1999, S. 112). Die Aussagen beziehen sich auf eine Stichprobe von etwa 300 Schülerinnen und Schülern aus Berlin, die im Frühjahr 1999 die sechste Klasse besuchten.

Da die oben genannte Definition von Lernschwierigkeiten für eine empirische Untersuchung ungeeignet ist, betrachte ich im Folgenden vereinfachend solche Kinder, deren Note in Deutsch, Englisch oder Mathematik 1,5 Standardabweichungen unter dem Mittelwert ihrer Klasse liegt. Nach dieser Definition haben insgesamt 12 % der Kinder Lernschwierigkeiten, jeweils ca. 6 % in Deutsch, in Englisch bzw. in Mathematik. Diese Zahl (6 %) geben z. B. auch Lorenz und Radatz (1993, S. 15) für die Rechenschwäche an. Dass sich Lernschwierigkeiten nicht nur in schlechten Zensuren äußern, sondern auch zu schlechteren Ergebnissen in Schulleistungstests führen, erwartet man. Sie haben aber auch negative Auswirkungen auf die Lernfreude, die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und die empfundene Schwierigkeit der Aufgaben. Und natürlich wirken sie sich auch auf die weitere Schullaufbahn der betroffenen Kinder aus: Die befragten Kinder mit Lernschwierigkeiten streben häufiger als andere einen Haupt- oder Realschulabschluss an und bekommen deutlich häufiger nur eine Empfehlung für die Hauptschule.

Ihre schulischen Misserfolge führen die Kinder mit Lernschwierigkeiten häufiger als andere darauf zurück, dass sie unkonzentriert sind, ein schlechtes Gedächtnis haben und nicht so begabt sind. Da das vor allem Gründe sind, die sich vom Kind selbst kaum beeinflussen lassen, hat dies negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der Betroffenen. Die befragten Kinder mit Lernschwierigkeiten geben demzufolge in der Untersuchung auch häufiger als andere an, oft unglücklich zu sein, nichts zu taugen, bei den Klassenkameraden nicht anzukommen, ein Außenseiter und ein Versager zu sein und ein anderer sein zu wollen. Außerdem sind sie häufiger der Meinung, von den Lehrerinnen und Lehrern nicht gerecht behandelt zu werden. Sie geben häufiger an, dass nur wenige Lehrkräfte Spaß verstehen, dass viele sie wie kleine Kinder behandeln und alle ihre Lehrerinnen und Lehrer glauben, Pünktlichkeit und Ordnung sei das Wichtigste. Sie sehen aber auch, dass viele Lehrkräfte Verständnis für ihre persönlichen Probleme haben.

Wenn es um die Einschätzung der eigenen Klasse geht, geben die Kinder mit Lernschwierigkeiten der untersuchten Stichprobe häufiger als andere an, dass in ihrer Klasse jeder nur auf seinen eigenen Vorteil sieht, wenn es um die Noten geht. Trotzdem schätzen sie den Zusammenhalt der Klasse positiver ein. Sie geben auch häufiger an, dass die anderen Kinder helfen, wenn jemand aus der Klasse Hilfe braucht, und dass sich viele aus der Klasse darum kümmern, wenn andere Probleme haben. Diese Einschätzung kann daher kommen, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten sowohl von ihren Lehrkräften als auch von ihren Mitschülern vor allem Verständnis für ihre persönlichen Probleme und mitfühlende Anteilnahme erfahren, was jedoch ihre Rolle als „Problemkind“ eher verstärkt. Wichtiger wäre eine kompetente fachliche Förderung, die dem betroffenen Kind hilft, seine Schwierigkeiten zu überwinden.

Bei einem Forschungsprojekt von Marianne Grassmann ging es u. a. um die Frage, welchen Einfluss außerschulische Erfahrungen mit Geld auf die Entwicklung von Rechenfertigkeiten haben. 87 Kinder aus Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen wurden kurz nach ihrer Einschulung im August 2004 einzeln zu ihren Erfahrungen und Fähigkeiten im Umgang mit Geld interviewt (Grassmann/Klunter/Köhler/Mirwald/Raudies, 2005). Am Ende von Klasse 2 wurden 76 dieser Kinder erneut einzeln befragt (Grassmann/Klunter/Köhler/Mirwald/Raudies/Thiel, 2007) und zum Ende der Klasse 3 wurde ein schriftlicher Test eingesetzt. Diesen haben noch 31 Jungen und 30 Mädchen bearbeitet. Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich nur auf diese 61 Kinder. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erfahrungen mit Geld einen deutlich schwächeren Einfluss auf das Rechnen mit Geld (am Ende von Klasse 2) als auf die Fähigkeiten im Umgang mit Geld (zum Schulanfang) haben. Dies erwartet man auch, da schließlich in zwei Schuljahren einiges passiert. Der Einfluss der Fähigkeiten im Umgang mit Geld auf das Rechnen ist etwas stärker als der Einfluss der Erfahrungen, da es sich bei den Fähigkeiten zum Großteil auch um Fähigkeiten im Rechnen handelt.

Der Lernerfolg beim Rechnen mit aber auch ohne Geld ist nur zu einem Teil auf das Geschehen im Unterricht, die individuelle Leistungsbereitschaft und Anstrengung des Kindes oder genetische Dispositionen zurückzuführen. Was ein Kind schon vor Beginn einer entsprechenden Unterrichtseinheit wusste und konnte, ist entscheidend für seinen Lernerfolg. Dies wurde bereits in vielen anderen Untersuchungen nachgewiesen (vgl. Stern, 2003). Das bedeutet, dass bei drohenden Lernschwierigkeiten möglichst früh reagiert werden muss. Die Untersuchungsergebnisse zeigen aber auch, dass sowohl die Vorleistungen als auch der Lernzuwachs im Unterricht von den Alltagserfahrungen des Kindes beeinflusst werden. Hier erhalten wir einen Hinweis, wo Hilfe angesetzt werden kann: Alltagserfahrungen lassen sich beeinflussen.

Im Rahmen einer Untersuchung zu mathematischen Kompetenzen von Schulanfängern (Grassmann/Klunter/Köhler/Mirwald/Raudies/Thiel, 2002, 2003) hatten wir zuvor mit einem kleinen schriftlichen Test die mathematischen Fähigkeiten von etwa 800 Erstklässlern aus Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen zum Beginn und zum Ende des Schuljahres 2001/02 erfasst. Parallel dazu wurde zum Schuljahresbeginn eine Befragung der Lehrkräfte dieser Kinder durchgeführt. Dabei wurden u. a. mit einem Fragebogen die Einstellungen der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer zum Mathematikunterricht und zu Vorkenntnissen im Mathematikunterricht der Klassenstufe 1 erhoben. Es liegen vollständige Daten von 36 Klassen mit ihren Lehrkräften vor.

Es wurden für verschiedene Aufgaben ganz unterschiedliche Zusammenhänge zwischen den Einstellungen der Lehrkräfte und dem Leistungszuwachs der Klasse während des Schuljahres gefunden. Welcher Unterricht erfolgreich ist, hängt also nicht nur von den Voraussetzungen der Kinder ab, sondern auch davon, was unterrichtet wird.

Bei einigen Aufgaben war die Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten von Bedeutung. Eine Aufgabe zur Orientierung verlangte z. B. von den Kindern, in ein Raster aus 3×3 Kästchen in das mittlere Kästchen ein Kreuz und in das Kästchen darüber einen Punkt zu zeichnen. Dabei waren die Klassen besser, deren Lehrkräfte die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zum Beginn des Schuljahres eher negativ beurteilt hatten. Diese Lehrkräfte legten besonders großen Wert darauf, sprachliche Ausdrücke wie „in der Mitte“ und „darüber“ mit den Kindern zu üben.

Es wurden auch Grundaufgaben der Addition und Subtraktion gestellt, die am Ende von Klasse 1 automatisiert sein sollten. Bei diesen Aufgaben war der Leistungszuwachs in denjenigen Klassen größer, deren Lehrkräfte ein kleinschrittiges, stark anleitendes Vorgehen bevorzugten. Im Gegensatz dazu waren bei einer Aufgabe, die bewegliche Raumvorstellungen verlangt, diejenigen Klassen im Vorteil, deren Lehrkräfte der Meinung waren, dass die Kinder in der Lage sind, eigene Lösungswege zu finden. Bewegliche Raumvorstellungen können nämlich nicht in einem angeleiteten Lehrgang erworben werden, sondern beruhen auf individuellen Erfahrungen. Ähnliches gilt sicher auch, wenn Beziehungen im Zahlenraum erkannt und flexibel zur Lösung komplexerer Rechenaufgaben eingesetzt werden sollen.

Ein weiterer Befund dieser Untersuchung muss hier genannt werden. Es gab sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen. Bei der Additionsaufgabe ohne Möglichkeit des Abzählens z.B. erhöhte sich der Anteil richtiger Lösungen pro Klasse im Mittel um 36 Prozentpunkte. Es gab jedoch auch eine zum Schulbeginn sehr gute Klasse, in welcher der Anteil um 13 Prozentpunkte abnahm, während in einer anfangs sehr schlechten Klasse eine Leistungssteigerung um 70 Prozentpunkte zu beobachten war. Die Lehrerinnen dieser beider Klassen unterschieden sich in ihren Meinungen zum Unterricht kaum. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass für die Entstehung von Lernschwierigkeiten nicht einzelne Faktoren isoliert verantwortlich sind, sondern ein komplexes Bedingungsgefüge betrachtet werden muss.

Exemplarische Darstellung eines Einzelfalls

Oliver, der Junge, von dem ich im folgenden berichten möchte (vgl. Thiel 2001b, S. 17), war neun Jahre alt und besuchte die dritte Klasse, als er beim PAETEC (heute DUDEN) Institut für Lerntherapie in Berlin-Treptow vorgestellt wurde. Er war körperlich und geistig normal entwickelt, hatte jedoch extreme Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht. Bei einer Diagnose wurde festgestellt, dass ihm wichtige Lernvoraussetzungen fehlten:
1. Oliver hatte mit großen Richtungsproblemen zu kämpfen. Er wechselte häufig die Hände und die Arbeitsrichtung bei praktischen Tätigkeiten und hatte auch im symbolischen Bereich die Arbeitsrichtung noch nicht bewusst erfasst. Dies führte zu Problemen beim Schreiben und Lesen zweistelliger Zahlen (Zahlendreher), beim Benennen des Vorgängers und beim Setzen der Zeichen „<“ und „>“ sowie beim Verstehen und Einhalten einer Rechenrichtung.
2. Außerdem hatte er Vorstellungsprobleme im mathematischen Bereich. Er hatte kaum Zahlvorstellungen aufgebaut und die Rechenoperationen nicht über Handlungen erfasst. Die einzige Methode, die Oliver zur Verfügung stand, um z.B. Additionsaufgaben zu lösen, war das Zählen.
Durch seine Richtungsprobleme konnte er beim Rechnen zu sehr verschiedenen Ergebnissen kommen, ohne zu wissen, warum sein jeweiliges Ergebnis nicht richtig sein sollte. Er tat doch immer das gleiche: zählen. Oliver fragte sich wahrscheinlich: „Warum sind meine Ergebnisse meistens falsch und die der anderen Kinder richtig?“ Und dachte sich dann: „Die können etwas, was ich nicht kann. Aber was kann das sein?“ Viele Ergebnisse wurden von Oliver auswendig gelernt. Aber schon im Zahlenraum bis 1000 (Klasse 3) gibt es allein eine halbe Million Plusaufgaben, so dass es unmöglich wird, alle Ergebnisse auswendig zu lernen.
Bei den anderen Kindern und der Lehrerin stieß Olivers Verhalten auf Unverständnis. Dass 8 + 5 = 13 ist und nicht 31, sieht man doch. Die Eltern meinten, Oliver sei schusselig und mache deshalb Fehler, die nicht sein müssten.
So lange das Auswendiglernen noch half, ging es in der Schule noch recht gut. Und wenn ihm zu Hause geholfen wurde, hatte Oliver auch die Hausaufgaben richtig. Deshalb hatte die Lehrerin manchmal den Eindruck, Oliver wolle sie ärgern und sage absichtlich ein falsches Ergebnis, obwohl er es verstanden hatte. Die Lehrerin gab sich trotzdem große Mühe. Oliver brauchte offenbar besondere Förderung. Also wurde er besonders oft aufgerufen, musste den Förderunterricht besuchen und bekam spezielle Übungsaufgaben für zu Hause. Oliver fasste diese gut gemeinten Maßnahmen als Bestrafung auf. Er dachte sicherlich: „Die weiß doch genau, dass ich das nicht kann. Die will mich bloß quälen.“ Damit war Oliver in einen pädagogischen Teufelskreis (Breuninger 1999, S. 64) geraten: Mangelnde Beachtung von Lernvoraussetzungen, Fehleinschätzung von Defiziten und in manchen Fällen auch ungenügende fachdidaktische Sachkompetenz führen zu falscher Förderung, Leistungsabfall und immer wiederkehrenden Misserfolgen, die gegenseitiges Misstrauen und Vorurteile hervorrufen.

In der Grundschule vergeht in der Regel kaum ein Tag ohne Rechenübungen. So war Oliver immer wieder Misserfolgserlebnissen ausgesetzt. Er reagierte mit Provokationen und versuchte als Klassenkasper die Anerkennung zu bekommen, die ihm im Leistungsbereich versagt blieb. Andere Kinder reagieren mit Rückzug und Hemmungen. Beide Verhaltensweisen stellen für das betroffene Kind Kompensationen seiner Misserfolge dar. Das verständliche Verhalten wiederum, das Lehrer, Eltern und Mitschüler dann als Reaktion darauf zeigen, wird vom betroffenen Kind als Druck oder Strafe interpretiert und löst neue Kompensationen auf Seiten des Kindes und neue Repressionen auf Seiten der Erwachsenen aus. Es entsteht ein sozialer Teufelskreis (Breuninger 1999, S. 64).

Oliver hätte am liebsten alles gemieden, was mit Rechnen zu tun hat. Aber er wusste genau, dass das nicht ging. Sogar zu Hause drohten Streit und Strafen (bis hin zu Schlägen). Oliver war in einem Konflikt, aus dem es irgendwie zu fliehen galt. Einige Kinder laufen in einer solchen Situation tatsächlich weg, andere werden krank oder flüchten sich in Tagträume. Aber dies sind nur vermeintliche Lösungen, da sie im Schulalltag weitere Probleme nach sich ziehen. Es gibt einen Stoffplan, der bewältigt werden muss. Wenn ein Kind den Umgang mit Zahlen meidet, bleibt es zwangsläufig hinter den anderen zurück. Weil in der Mathematik eines auf das andere aufbaut, entstehen Lücken, die mit der Zeit immer größer werden (vgl. Betz/Breuninger 1982, S. 15f). Zu dem pädagogischen und dem sozialen ist ein innerpsychischer Teufelskreis (Breuninger 1999, S. 65) hinzugekommen: Mangelnde Motivation, schlechtes Arbeitsverhalten, Angst, Stress und Blockierung hindern das Kind am Lernen und Leisten.

Wenn nicht eingegriffen worden wäre, hätte sich Oliver irgendwann mit seinen dauernden Misserfolgen abgefunden. Er hätte nur noch Misserfolge erwartet. Erfolge hätte er nur noch dem Zufall zugeschrieben. Doch Oliver hatte Glück. Er bekam eine integrative Lerntherapie (vgl. Schulz 2001, S. 34f) beim PAETEC (heute Duden) Institut für Lerntherapie. Eine integrative Lerntherapie ist eine ganzheitliche Entwicklungsförderung, bei der Familie und Schule des Kindes mit einbezogen werden. Schwerpunkt einer integrativen Lerntherapie bildet die Arbeit an den fachlichen Inhalten, mit denen das Kind Schwierigkeiten hat. Zuvor und begleitend müssen jedoch auch die fehlenden Lernvoraussetzungen des Kindes entwickelt und Selbstwertgefühl und Motivation wieder aufgebaut werden. Mit dieser Therapie, deren Kosten vom Jugendamt übernommen wurden, konnten die entstandenen Teufelskreise durchbrochen werden. Oliver erfuhr mit fortschreitender Sicherheit im Rechnen, dass die Schwierigkeiten doch nicht an ihm lagen. Dies wirkte sich nicht nur positiv auf seine Leistungen im Mathematikunterricht sondern auch auf sein Selbstwertgefühl aus. So konnte Oliver nicht nur seine Lernschwierigkeiten überwinden, sondern brauchte auch seine Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr zu zeigen.

Schlussfolgerungen

Lernschwierigkeiten entstehen in der Schule, so dass ihnen dort auch als erstes begegnet werden muss. Dabei ist die beste Hilfe eine schulische Prävention. Insbesondere müssen die diagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte verbessert werden. Dazu gehört z. B. das Wissen um zentrale Hürden im jeweiligen Lernprozess, aber auch das Bewusstsein, dass die Ursachen der Probleme nicht nur beim Kind, sondern durchaus auch im außerschulischen und im schulischen Umfeld liegen – bis hin zum eigenen Unterricht. Hier ist insbesondere die Lehrerausbildung gefordert. Kein Lehramtsanwärter sollte die Universität verlassen dürfen, ohne sich intensiv mit dem Thema „Ursachen und Erscheinungsformen gelingender und misslingender Lernprozesse“ (vgl. Schipper 2002, S. 51) in seinem jeweiligen Fach beschäftigt zu haben. Aber auch die Initiative älterer Lehrkräfte ist nötig. Lehrerinnen und Lehrer, die den Eindruck haben, auf den Umgang mit Lernschwierigkeiten nicht richtig vorbereitet zu sein, sollten sich um entsprechende Fortbildungen bemühen. In vielen Fällen könnte durch mehr Rücksichtnahme auf individuelle Lernvoraussetzungen und durch individualisierten Unterricht der Entstehung von extremen Lernschwierigkeiten vorgebeugt werden. Und je früher sich anbahnende Lernschwierigkeiten von kompetenten Lehrkräften erkannt werden, desto einfacher ist es gegenzusteuern und die Entstehung von Teufelskreisen zu verhindern.

Trotz aller guten Bemühungen kann jedoch immer einmal eine verfahrene Situation entstehen. Oft lassen die Rahmenbedingungen schulischen Lernens es nicht zu, die Lernvoraussetzungen eines jeden Kindes angemessen zu berücksichtigen. Keine Lehrerin wird einen Schüler bewusst quälen wollen. Aber es gibt immer wieder Schüler, die das so empfinden. Für die Lehrerin ist es dann wichtig, nicht „verletzt“ zu sein, sondern zu versuchen, die Hintergründe zu verstehen. Das Teufelskreismodell von Betz und Breuninger (1982) ist sehr hilfreich, um die Mechanismen zu durchschauen, die zu einer solchen Situation führen, ohne jemandem die Schuld hierfür zu geben. In einem solchen Fall sollten weder Lehrkräfte noch Eltern scheuen, Experten von außerhalb einzuschalten. Denn aus eigener Kraft ist es oft nicht möglich, einen einmal entstandenen Teufelskreis wieder zu durchbrechen. Der Schulpsychologische Dienst ist hier der erste Ansprechpartner.

Wird bei Lernschwierigkeiten Hilfe außerhalb der Schule gesucht, so ist es wichtig, dass dies kompetente Hilfe ist. Einem Kind, das sich wegen andauernder schulischer Misserfolge für einen Versager hält, hilft es nicht dauerhaft, wenn nur sein Selbstwertgefühl gestärkt wird (nach dem Motto: „Ich kann immer noch nicht richtig rechnen, aber ich fühle mich gut dabei.“). Lernschwierigkeiten in einem Fach lassen sich nur überwinden, wenn mit dem Kind intensiv an den grundlegenden Inhalten des Faches gearbeitet wird. Eine solche Arbeit hat Erfolg, wenn die individuellen Lernvoraussetzungen des Kindes berücksichtigt und entwickelt werden. Dies leistet eine integrative Lerntherapie, deren Ziel es ist, den Anschluss des Kindes an den Regelunterricht wieder herzustellen und die belastenden emotionalen und sozialen Begleitsymptome zu überwinden (Schulz 2001, S. 34). Hier muss jedoch vor „Schwarzen Schafen“ bei den Anbietern solcher Therapien gewarnt werden. Derzeit darf sich in Deutschland noch jeder unabhängig von seinem Ausbildungsstand selbst zum Lerntherapeuten ernennen. Dies ist sicher mit ein Grund dafür, dass die Ursachen für Lernschwierigkeiten oft allein beim Kind gesucht werden und Ursachenzuschreibungen erfolgen, die wissenschaftlich klingen (z.B. Teilleistungsstörungen, kortikale Assoziationsdefizite, linkshirniges Denken), deren Art der Feststellung aber häufig im Dunklen bleibt, so dass die Diagnose selbst kaum überprüft werden kann (Schipper 2002, S. 51). Hier schließe ich mich der Forderung von Schipper (a.a.O.) nach einem „Therapeuten-TÜV“ an, der auch im Sinne seriöser Anbieter von Lerntherapien sein dürfte.

Gesetzliche Grundlagen für integrative Lerntherapien

Haben sich bei einem Kind extreme Lernschwierigkeiten herausgebildet, so braucht das Kind Hilfe. Solche Schwierigkeiten verschwinden nicht von selbst. Auch Nachhilfe ist in vielen Fällen dann nicht mehr ausreichend. Der Umgang mit extremen Lernschwierigkeiten, wie Rechenschwäche oder Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist jedoch in den einzelnen Bundesländern verschieden geregelt.
Oft müssen die Eltern die Kosten für eine integrative Lerntherapie selbst tragen. Zunehmend gibt es jedoch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung vom Jugendamt zu erhalten. Die gesetzliche Grundlage hierfür bietet das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG; SGB VIII). Dabei kommen zwei Wege in Frage:

1. Hilfe zur Erziehung nach § 27
2. drohende seelische Behinderung nach § 35a

Nach § 27 des KJHG haben die Eltern eines Kindes oder Jugendlichen einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (Absatz 1). Diese Hilfe umfasst insbesondere „die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen“ (Absatz 3).
Eine Kostenübernahme nach § 35a des KJHG ist möglich, wenn das Kind durch seine Lernschwierigkeiten stark psychisch belastet ist und sich dies in deutlichen psychosomatischen Erscheinungen äußert. Dies muss in der Regel von einem Arzt oder Psychologen bescheinigt werden. Ein Rechtsanspruch auf die Übernahme der Kosten einer integrativen Lerntherapie durch das Jugendamt entsteht, wenn festgestellt wird, dass das Kind von einer seelischen Behinderung bedroht ist, falls nichts gegen die Lernschwierigkeiten getan wird.

Rat und Hilfe finden Eltern betroffener Kinder bei der Schulberatung, beim Schulpsychologischen Dienst, beim Jugendamt und in vielen Regionen auch bei Vereinen und Elterninitiativen. Immer häufiger gibt es an den Schulen auch speziell ausgebildete Beratungslehrer für Lernschwierigkeiten (insbesondere für Lese-Rechtschreib-Schwäche und Rechenschwäche).

Literatur

  • Betz, D./Breuninger, H. (1982): Teufelskreis Lernstörungen. Analyse und Therapie einer schulischen Störung. München, Wien, Baltimore.
  • Breuninger, H. (1999): Teufelskreise. Lerntherapeutisches Kompendium. Braunschweig.
  • Cohn, R. (1961): Dyscalculia. In: Archives of Neurology, 4, S. 301-307.
  • Grassmann, M./Klunter, M./Köhler, E./Mirwald, E./Raudies, M./Thiel, O. (2002): Mathematische Kompetenzen von Schulanfängern. Teil 1. Kinderleistungen – Lehrererwartungen. Potsdam.
  • Grassmann, M./Klunter, M./Köhler, E./Mirwald, E./Raudies, M./Thiel, O. (2003): Mathematische Kompetenzen von Schulanfängern. Teil 2. Was können Kinder am Ende der Klasse 1? Potsdam.
  • Grassmann, M./Klunter, M./Köhler, E./Mirwald, E./Raudies, M. (2005): Kinder wissen viel. Auch über die Größe Geld? Teil 1. Potsdam.
  • Grassmann, M./Klunter, M./Köhler, E./Mirwald, E./Raudies, M./Thiel, O. (2007): Kinder wissen viel. Auch über die Größe Geld? Teil 3. Potsdam.
  • Lorenz, J. H. (1985): Über einige pathologische Fälle von Rechenstörungen. In: Mathematikunterricht. 31, (6), S. 70-77.
  • Lorenz, J. H./Radatz, H. (1993): Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover.
  • Ranschburg, P. (1916): Die Leseschwäche (Legasthenie) und Rechenschwäche (Arithmasthenie) der Schulkinder im Lichte des Experiments. Berlin.
  • Spitta, G. (1977): Legasthenie gibt es nicht… Was nun? Kronberg.
  • Schipper, W. (2002): Das Dyskalkulie-Syndrom. In: Die Grundschulzeitschrift, 158, S. 48-51, Seelze.
  • Schulz, A. (1994): Fördern in Mathematik. Was kann ich tun? Berlin.
  • Schulz, A. (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin.
  • Schulz, A. (Hrsg.) (2001): Rechenschwäche? Lese-Rechtschreib-Schwäche? Probleme in Englisch? Ihr Kind hat eine Chance! Ein Ratgeber für Eltern. Berlin.
  • Stern, E.: Lernen – der wichtigste Hebel der geistigen Entwicklung. Vortrag am Hanse-Wissenschaftskolleg vom 13. Januar 2003
  • Thiel, O. (2001a): Rechenschwäche und Basisfunktionen. Volxheim.
  • Thiel, O. (2001b): „Die will mich nur quälen!“ Wie Lernschwierigkeiten zu Verhaltensauffälligkeiten führen können. In: Grundschulunterricht, 48, (12), S. 17-18, Berlin.
  • Valtin, R. (1999): NOVARA, NOVUS und SABA. Kurzbericht über drei Studien aus der Grundschulforschung. In: Brügelmann, H./Fölling-Albers, M./Richter, S./Speck-Hamdan, A.: Jahrbuch Grundschule. Fragen der Praxis – Befunde der Forschung. Seelze.

Autor

Oliver Thiel
A.o. Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Dronning Mauds Minne Hochschule für Kindergartenlehrerausbildung in Trondheim, Norwegen.
Der Autor arbeitet in der ersten Phase der Lehrerbildung und trägt durch eine fachlich fundierte Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern dazu bei, dass Lernschwierigkeiten vorgebeugt wird.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

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Dronning Mauds Minne Høgskole for barnehagelærerutdanning
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Erstellt am 29. Januar 2003, zuletzt geändert am 20. Mai 2015

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