Kinderschlaf in Einrichtungen - Ein bedürfnisorientierter Leitfaden

Dr. Herbert Renz-Polster
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Für den Weg in den Schlaf brauchen Kinder in der Kita vor allem das Gefühl von Geborgenheit. Wer schläft, kann nicht fliehen und sich nicht verteidigen. Daher steht bei allen Lebewesen der Schlaf unter einem Oberthema: Sicherheit. Begeben sich Kinder in der Kindertageseinrichtung in den schutzlosen Zustand des Schlafs, sind verlässliche und feinfühlige Pädagoginnen und Pädagogen gefragt. Neben der biologisch angelegten Notwendigkeit von Schlaf, gibt es entwicklungspsychologische und kulturell bedingte Einflüsse, die pädagogisch individuell beachtet werden müssen. Hierauf bezieht sich in der Folge eine fundierte Elternberatung, die den bedürfnisorientierten Schlaf eines jeden Kindes in den Blick nimmt.

Noch ist nicht einmal abschließend geklärt, wozu genau der Schlaf eigentlich gebraucht wird. Vielleicht werden im Schlaf die Abfallprodukte der harten Arbeit der Nervenzellen beseitigt, vielleicht die Boten- und Überträgerstoffe für die Kommunikation zwischen den Zellen neu gebildet, vielleicht die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen umgebaut und stabilisiert – oder alles zusammen.

Sicher ist nur, dass der Schlaf eine gefährliche Sache ist. Wer schläft, ist seiner Sinne und seiner Muskeln nicht mächtig, er kann nicht fliehen und sich nicht verteidigen. Kein Wunder, dass bei allen Lebewesen der Schlaf unter einem Oberthema steht: Sicherheit.

So hat es sich im Lauf der Evolution beispielsweise eingespielt, dass jede Tierart ihre Schlaf- und Wachzeiten so über den Tag verteilt, dass dieser einerseits ohne knurrenden Magen, andererseits aber auch nicht zwischen den Zähnen eines anderen Tieres endet. Und alle Tiere suchen für den Schlaf nach geschützten Orten. Enten, die das nicht können, weil sie nicht auf Bäumen und auch nicht in Höhlen übernachten können, schalten deshalb immer nur eine Hälfte des Gehirns ab, damit sie nicht überrumpelt werden können. Tauben öffnen im Schlaf immer wieder kurz die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie sicher sind.

Die Schlaf-Natur des Menschen

Und wir Menschen? Auch wir wollen sicher sein, und wie! Wer kann schlafen, wenn die Dielen knarren? Wer kann schlafen, wenn Sorgen auf der Seele lasten? Tatsächlich hat es die Natur so eingerichtet, dass sich auch bei der Krone der Schöpfung das Tor zum Schlaf nur unter ganz bestimmten Bedingungen öffnet – dann nämlich, wenn wir uns geborgen und geschützt fühlen. Erst dann bildet sich dieser magische Stoff, der den Weg in den Schlaf ebnet: Entspannung.

Und so stellt der Schlaf in unserem menschlichen Verhaltensrepertoire eine wirklich seltsame Ausnahme dar: Anders als die meisten anderen Dinge des Lebens können wir den Schlaf nicht erreichen, indem wir uns anstrengen. Man kann uns das Glück auf Erden versprechen, wenn es uns gelingt in zehn Minuten einzuschlafen, wir schaffen es trotzdem nicht. Man kann uns die schwersten Strafen androhen, auch das macht den Weg in den Schlaf nicht kürzer. Ja, es mag dort oben einen Schlafengel geben. Aber wir können ihn nicht einfach zu uns herunterziehen. Er muss uns finden.

Und das ist bei den Kindern ganz genauso. Als besonders wehr- und hilflose Geschöpfe sind sie noch stärker darauf angewiesen, dem Sandmännchen Bedingungen zu stellen. Auch für sie führt der Weg in den Schlaf deshalb über die vom Erwachsenen bekannten Stationen: Werden Kinder müde, so suchen sie verstärkt nach Sicherheit. Erst wenn diese gegeben ist, können sie sich entspannen. Jetzt erst küsst sie der Schlaf.

Wie kleine Kinder schlafen

Dass kleine Kinder anders schlafen als Erwachsene, hat gute Gründe. Hier eine kurze Zusammenfassung, was über den Schlaf kleiner Kinder bekannt ist.

  • Kleine Kinder haben einen sehr unterschiedlichen Schlafbedarf. So wie manche Kinder „gute Futterverwerter“ sind, so scheinen manche gute Schlafverwerter zu sein – und umgekehrt! Manche Babys schlafen im Neugeborenenalter elf, andere dagegen 20 Stunden pro Tag (im Mittel liegen sie bei 14,5 Stunden). Mit sechs Monaten kommen manche Säuglinge mit neun Stunden aus, andere brauchen dagegen bis zu 17 Stunden (durchschnittlich schlafen sie jetzt 13 Stunden). Im zweiten Lebensjahr liegt der tägliche Schlafbedarf im Schnitt bei zwölf Stunden – je nach Kind plus/minus zwei Stunden. Mit fünf Jahren kommen manche Kleinkinder mit neun Stunden aus, andere brauchen aber noch immer 14 Stunden …
  • Kleine Kinder brauchen eine Weile, um einen Rhythmus zu finden. Während der Schlaf beim Neugeborenen gleichmäßig über Tag und Nacht verteilt ist, lässt sich ab zwei bis drei Monaten immerhin schon ein Muster erkennen: Jetzt wickeln die Babys einen immer größeren Teil ihres Schlafs in der Nacht ab. Trotzdem halten die meisten Babys mit fünf bis sechs Monaten immer noch etwa drei Tagesschläfchen, wenige Monate später kommen viele von ihnen dann tagsüber schon mit zwei Schlafportionen aus. Und sobald sie laufen können, begnügen sich viele von ihnen, aber eben längst nicht alle, mit einem einzigen Mittagsschlaf. Und mit vier, spätestens fünf ist auch der bei den allermeisten Kindern Geschichte.
  • Dass ein Baby die ganze Nacht ohne Pause schläft, ist eher selten. In der Wissenschaft zählt deshalb ein Baby dann zu den „Durchschläfern“, wenn es nach Angaben der Eltern von Mitternacht bis fünf Uhr Ruhe gibt. Im ersten Lebenshalbjahr wachen (nach Elternangaben) 86 Prozent der Säuglinge regelmäßig nachts auf. Etwa ein Viertel davon sogar drei Mal und mehr. Zwischen 13 und 18 Monaten wachen noch immer zwei Drittel der Kleinkinder regelmäßig nachts auf. Jungs wachen nachts insgesamt häufiger auf als Mädchen. Auch Babys im Elternbett melden sich häufiger (dafür aber kürzer …). Und noch eine Gemeinheit ist da zu berichten: Gestillte Kinder sind mit dem Durchschlafen insgesamt später dran als nicht gestillte Kinder.

Kinder sind „gemeinschaftliche“ Schläfer

Und genau hier kommen die Großen ins Spiel. Denn wenn Kinder sich auf die „Suche nach Sicherheit“ machen, ist das natürlich so eine Sache. Kinder können nicht selbst für ihre Sicherheit sorgen. Kann ein Baby allein dafür sorgen, dass es zugedeckt wird,wenn das Feuer ausgegangen ist? Und kann ein Kleinkind einen Wolf verjagen? Die Kleinen suchen ihre Sicherheit deshalb zunächst einmal bei den ihnen vertrauten Erwachsenen. Von denen dürfen sie annehmen, dass sie im Fall des Falles alles geben.

Kein Wunder ist rund um die Erde das immer Gleiche zu beobachten: Sobald Kinder müde werden, spannt sich bei ihnen eine Art unsichtbares Gummi an – ihr Bindungssystem wird aktiviert. Sie wollen sicher sein, dass sie unter dem Schutz ihrer vertrauten Erwachsenen stehen. Je nach Alter und Vorerfahrung schöpfen Kinder dieses Gefühl aus der unmittelbaren körperlichen Nähe ihrer Betreuungsperson(en), oder aber es reicht ihnen, wenn sie wissen, dass sie an einem guten, sicheren Ort schlafen, an dem ihr Schlaf von vertrauten Menschen bewacht ist.

Ein hungriges Gehirn – auch im Schlaf

Menschenkinder bringen aber noch ein weiteres Erbe in den Schlaf mit, das dafür sorgt, dass ihr Schlaf anders aussieht als der ihrer Eltern. Menschenkinder werden im Vergleich zu den anderen Säugetieren in einem sehr unreifen Zustand geboren. Vor allem das Gehirn liegt zunächst einmal nur in einer Schmalspur-Variante vor – es muss seine Größe in den ersten drei Lebensjahren immerhin verdreifachen! Dieser Entwicklungsspurt hat Auswirklungen auch auf den Kinderschlaf. Denn beim kleinen Kind bleibt das Gehirn auch im Schlaf aktiver als im späteren Leben. Das braucht viel Energie – insbesondere Babys, aber auch Kleinkinder wachen deshalb häufiger auf, um „nachzutanken“. Zudem ist der Schlaf zumindest beim Säugling gerade nach dem Einschlafen noch längere Zeit sehr leicht und traumbeladen – Babys lassen sich deshalb oft nicht ablegen, ohne dass sie wieder aufschrecken.

Wege in den Schlaf

Ein Kind will zum Schlafen nicht nur müde, warm und satt sein – es will sich auch sicher fühlen. Und dazu braucht es zunächst einmal seine erwachsenen Begleiter – das eine Kind braucht sie dringender als das andere, das eine Kind länger als das andere. Erfährt ein Kind immer wieder eine solche liebevolle Begleitung in den Schlaf, dann baut es allmählich eine eigene Sicherheit auf, seine eigene „Schlafheimat“. Es hat aus Erfahrung gelernt: Meine vertrauten Erwachsenen wachen über meinen Schlaf. Es ist deshalb ein Missverständnis, wenn Eltern oder auch Erzieherinnen meinen, beim Schlaf ihres Kindes käme es vor allem darauf an, den einen Trick zu finden, mit dem Babys plötzlich problemlos in eine Art Koma fallen. Diesen Schalter gibt es nicht. Und wenn, dann funktioniert er nur beim Nachbarkind.

Es ist auch ein Missverständnis, dass Babys verwöhnt würden, wenn sie die Begleitung in den Schlaf bekommen, die sie von Natur aus erwarten. Zu 99 Prozent der Menschheitsgeschichte hätte ein allein schlafendes Baby den nächsten Morgen nicht erlebt – es wäre von Hyänen verschleppt, von Schlangen angeknabbert oder von einer plötzlichen Kaltfront unterkühlt worden. Die allermeisten Babys, die jemals auf dieser Erde gelebt haben, schliefen deshalb im Nahbereich ihrer schützenden, wärmenden und auch nährenden Mutter (oder später auch anderer Bezugspersonen). Und doch mussten die Kleinen stark und selbstständig werden. Von wegen Verwöhnung durch Nähe!

Und wir sollten Babys, wenn sie nicht allein in den Schlaf finden können, auch keine Schlafstörung unterstellen. Sie funktionieren im Grunde einwandfrei. Der spanische Kinderarzt Carlos Gonzales hat es einmal so ausgedrückt: „Wenn man mir die Matratze wegnimmt und mich zwingt, auf dem Boden zu schlafen, wird mir das Einschlafen sehr schwerfallen. Heißt das, ich leide unter Schlaflosigkeit? Natürlich nicht! Geben Sie mir die Matratze zurück, und Sie werden sehen, wie gut ich schlafen kann! Wenn man ein Kind von seiner Mutter trennt und ihm das Einschlafen schwerfällt, leidet es dann unter Schlaflosigkeit? Sie werden sehen, wie gut es schläft, wenn Sie ihm seine Mutter zurückgeben!“

Vielmehr geht es darum einen Weg zu finden, der dem Kind signalisiert: Hier kann ich mich wohlfühlen, hier kann ich entspannen. Dann klappt auch der nächste Schritt – der Weg in den Schlaf.

Der Schlaf in den Einrichtungen

So viel zu den theoretischen Grundlagen. Sie sollten helfen, um den Kinderschlaf ein kindgerechtes „pädagogisches Gerüst“ zu bauen:

1. Sicherheit kann nicht erzwungen werden

Kinderschlaf kann nicht dadurch „geschaffen“ werden, indem man dem Kind die Begleitung in den Schlaf verweigert. Bis heute wird dies immer wieder behauptet (zum Beispiel von Annette Kast-Zahn, der Autorin des Buches „Jedes Kind kann schlafen lernen“, die darin die in den USA der 1970er-Jahre entwickelte Methode des „kontrollierten Schreienlassens“ popularisiert).

Laut dieser Theorie „lernen“ Babys alleine einzuschlafen und alleine durchzuschlafen, indem man ihnen die Begleitung in den Schlaf nach einem eskalierenden Zeitplan einfach entzieht. Die Eltern legen das Kind ins Bett und lassen es dort immer längere Zeitabstände weinen, bevor sie wieder nach ihm schauen (und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, denn körperliche Tröstung ist in dem Programm nicht vorgesehen).

Die Befunde der Hirnforschung widersprechen der Annahme, dass Kinder dadurch wirklich einen sicheren Schlaf erlernen. Kindliches Lernen wird nämlich durch positive Gefühle angetrieben, durch Wohlbefinden und innere Anteilnahme. Gestresste Kinder sind nicht lernbereit. Sie nehmen nichts auf, sie sind damit beschäftigt, den Moment zu überleben.

Auch wenn um dieses Programm herum viele verlockende Behauptungen aufgestellt werden (etwa, die Kinder lernten durch das Training „sich selbst zu trösten“) sollte das Grundproblem dieser Programme nicht vergessen werden: Die Kinder werden so lange mit Frustration und ihren negativen Emotionen konfrontiert, bis sie einschlafen – das Kind „lernt“ nicht alleine zu schlafen, es wird in Wirklichkeit schlicht und einfach dazu gezwungen.

Warum die Babys trotzdem irgendwann Ruhe geben, hat jedoch einen anderen Grund. Sie machen das, was alle Säugetiere tun, wenn sie in einer ausweglosen Situation feststecken. Sie werden stumm. Sie verfallen in das, was Biologen als Schutzstarre bezeichnen. Wer weder durch Kämpfen noch durch Fliehen entkommen kann, tut gut daran Energie zu sparen. Und wer gelernt hat, dass die Hilfe nach der er ruft, nicht kommen wird, sollte nicht auch noch die Raubtiere auf sich aufmerksam machen. Das Kind wird nicht ruhig, weil es Trost gefunden hat (welchen denn auch?), es hat schlichtweg resigniert. Kinder auf dem Weg in den Schlaf Tröstung vorzuenthalten entspricht deshalb keiner modernen, kindgerechten Pädagogik und kann für keine Einrichtung empfohlen werden.

2. Müde Kinder dürfen schlafen

Wenn Kinder müde werden, so zeigen sie das an: Babys bekommen einen leeren Blick, reiben sich mit den Händchen am Ohr oder im Gesicht herum, werden besonders anhänglich. Viele suchen auch nach der Brust, weil sie intuitiv wissen: Da kann ich erst satt werden und dann gemütlich einschlafen. Ältere Kinder zeigen uns ihre Müdigkeit, indem sie quengelig oder besonders kuschelig werden, glasige Augen bekommen und gähnen. All dies signalisiert uns: Jetzt ist es an der Zeit, mich in den Schlaf zu begleiten!

Und dann geht der Streit schon los. Eltern stellen sich den Kinderschlaf nämlich manchmal wie eine Art Bilanzbuch vor: Die Stunden, die in der Kita verschlafen werden, schläft das Kind dann in der Nacht eben nicht. Entsprechend werden die Erzieherinnen immer wieder aufgefordert, die Kleinen gar nicht oder nur „dosiert“ schlafen zu lassen oder gar nach bestimmten Zeiten wieder aufzuwecken. Die Kleinen sollen stattdessen zum Beispiel durch Spielangebote aufgemöbelt werden.

Nun ist der Wunsch der Eltern nach ungestörten Nächten natürlich berechtigt, und tatsächlich besteht auch beim Kind eine Beziehung zwischen der Länge des Tagschlafs und der des Nachtschlafs. Nur – sie ist nicht so linear wie das Bilanzmodell es suggeriert.

Viele Eltern müssen zum Beispiel feststellen, dass der Schuss auch nach hinten losgehen kann. Denn zum einen werden Babys und kleine Kinder nicht einfach immer ruhiger, müder und schlafbedürftiger je länger sie wach sind. Vielmehr führt Schlafmangel gerade bei den etwas aktiveren Kleinkindern leicht zu Stress und den kriegt die Familie dann abends in der vollen Breitseite ab, weil das Kleinkind nun eben ein dünnhäutiges, forderndes, belastetes – eben gestresstes Kind ist. Die oft einzige Zeit des Tages mit dem Kind gerät dann unter Druck und mündet oft in beständige Missverständnisse. Der dadurch entstehende Beziehungsstress wiederum vermasselt das Einschlafen, weil die Kinder keine Entspannung finden können – ein Teufelskreis. Vielmehr sollten sich Eltern glücklich schätzen, wenn ihr Kind, dem in der Kita ja einiges an Selbstregulation abverlangt wird, dort dann auch das vorfindet, was ein gutes Kinderleben eben auszeichnet: Möglichkeiten zur Wirksamkeit, aber eben auch Möglichkeiten zur Entspannung. Hier kann ich toben und hier darf ich auch zur Ruhe kommen.

Die Möglichkeit auch die Entspannung zu genießen, ist für die Kinder umso wichtiger, als viele von ihnen heute mit ihrem Schlafrhythmus ganz schön unter Druck geraten sind. Ihr Tag beginnt ja oft schon früh – und oft ohne dass sie ihren Nachtschlaf zu Ende geschlafen haben. Auch der Tag ist nicht selten ganz schön durchgetaktet – und zwar am Takt der Großen. Nicht wenige Kinder schlafen im Grunde heute nicht mit sondern gegen ihr eigenes Müdigkeitsgefühl. Umso wichtiger, bei Ruhebedarf auch wirklich zur Ruhe kommen zu dürfen.

Und genau bei dem „Zur Ruhe kommen“ liegt dann auch der Kompromiss, der Eltern, Kita und Kind zusammenbringen kann: Ein Kind, das müde wird, hat einen Anspruch auf eine Ruhephase. Es darf sich vom Spiel zurückziehen, es darf im Schutzbereich einer vertrauten Person „chillen“ – vielleicht klinkt es sich von sich aus wieder ins Spiel ein. Wird es aber immer müder und schlafhungriger – dann darf es schlafen. Schlafentzug ist auch für Kinder Folter.

3. Kleine Kinder schlafen nicht „irgendwie“ und auch nicht „egal wie“

Was Kinder für den Weg in den Schlaf brauchen, ist vor allem eines: das Gefühl von Geborgenheit. Natürlich wollen sie vorher etwas gegessen haben (manche auch nicht), wollen warm sein, und natürlich wollen sie auch müde sein. Aber das Allerwichtigste ist, dass sie sich wohl und sicher fühlen. Das erklärt, warum viele Kinder in den unmöglichsten Situationen einschlafen können: Sie kuscheln sich auf’s Sofa, sie hängen beim Spielen plötzlich mit glasigen Augen da … Gerade in Einrichtungen mit einer weiten Altersspanne sind solche Schläfchen außerhalb der ritualisierten gemeinsamen Ruhezeit ganz normal. Gut, wenn man ihnen Raum geben kann: Entweder schläft das Kind jetzt dort weiter, wo es eingeschlafen ist (wenn es dort sicher ist und zum Ablauf passt), oder es wird an einen oder seinen Schlafplatz getragen. Also: Wenn ein Kind einschläft, ist das zunächst einmal ein Vertrauensbeweis und sollte begleitet werden.

Ganz unmöglich aber ist folgende Haltung, die immer wieder vorgebracht wird (ich habe inzwischen den Verdacht, dass sie manchmal auch Personalmangel kaschieren soll): Ein Kind, das müde ist, wird schon schlafen! Entsprechend finden sich in solchen Einrichtungen dann an allen möglichen und unmöglichen Plätzen irgendwelche Nestchen, Schlafkojen oder Bettchen, und von den Kleinen wird erwartet, dass sie sich darin bei Bedarf selbstständig verkriechen. Wie gesagt, ein müdes Kind wird schon schlafen! Das stimmt eindeutig nicht. Bei einem Kind, das müde wird, aktiviert sich das Bindungssystem, das heißt, es sucht jetzt die Nähe zu vertrauten Beziehungspersonen und es sucht die bekannten, sicheren Abläufe. Ein rituelles, liebevolles und achtsames (Beziehungs-)Angebot rund um den kindlichen Schlaf muss in jeder Einrichtung vorgehalten werden – Kinder haben sonst auch in ihren Wachzeiten keine leuchtenden Augen und sind ihren Emotionen ausgeliefert.

4. Schlaf ist eine „Stammesangelegenheit“

In weiten Teilen der Welt ist es ganz normal, dass kleine Kinder nicht nur von ihren Eltern in den Schlaf begleitet werden. Solange sich Kinder in ihren Beziehungen geborgen fühlen können, finden sie auch in den Einrichtungen oft überraschend gut in den Schlaf. Einzige Voraussetzung: Diese anderen Menschen müssen ihnen vertraut sein, und sie müssen sich verlässlich und feinfühlig um sie kümmern können. Und hier müssen die Einrichtungen dann auch liefern. Es gibt nun einmal kaum einen größeren Vertrauensbeweis als an einem fremden Ort die Augen zu schließen und sich in den schutzlosen Zustand des Schlafs fallen zu lassen.

Tatsächlich machen sich Eltern um das Schlafen in der Betreuung oft mehr Sorgen, als sie müssten. Denn Kleinkinder sind in dieser Hinsicht erstaunlich flexibel: Nur weil sie zu Hause nicht ohne Mamas Hand einschlafen können, heißt das noch lange nicht, dass sie auch in der Kita oder bei der Tagesmutter immer die unmittelbare Körperwärme brauchen. Vielen Kindern reicht allein schon die Anwesenheit anderer Kinder, um ruhig zu werden – da schwingt wohl noch das evolutionäre Erbe in ihnen mit, dass wir im Schutz der Gruppe sicher und geborgen sind. Tatsächlich machen viele Einrichtungen die Erfahrung, dass Kinder, wenn sie die Wahl haben, einen  Schlafplatz bevorzugen, an dem sie sich zu einem anderen Kind – oder anderen Kindern – gesellen können. Das spricht eindeutig gegen die in manchen Einrichtungen noch immer gängigen Gitterbetten! Viel besser sind Schlafhöhlen, Schlafkörbe oder Matratzen.

Checkliste

Eine bedürfnisorientiert arbeitende Kindertageseinrichtung erkennen Eltern daran, dass hier das individuelle Wohl der Kinder im Mittelpunkt steht:

  • Ein Kind, das müde ist, darf schlafen.
  • Ein Kind, das nicht müde ist, muss nicht schlafen.
  • Ein Kind, das weint, wird getröstet.
  • Ein Kind, das Nähe braucht, bekommt Nähe.

Elternberatung I: Sollen Eltern ihre Kinder auf das Schlafen in der Kita vorbereiten?

In den Wochen und Monaten vor dem Betreuungsstart überlegen viele Eltern, wie sie ihrem Kind die Umgewöhnung leichter machen können. Wird ihm das Schlafen woanders vielleicht leichter fallen, wenn es auch zu Hause alleine einschlafen kann? Sollen wir ihm besser vorher das Stillen ab- und einen Schnuller angewöhnen, ein Kuscheltier etablieren und das Einschlaftragen abschaffen? So verständlich diese Überlegungen auch sind: Unserer Erfahrung nach ist es am besten, wenn Eltern zu Hause erst einmal gar nichts verändern, nur weil ihr Kleines in die Kita kommt. Wem sollte das auch helfen? Das Kind wird ohnehin bald merken, dass in der Betreuung Vieles anders ist als zu Hause. Da gibt es neue Kinder und andere Erwachsene, das Essen schmeckt anders, die Routinen und Tagesabläufe sind anders, und die Schlafenszeit ist eben auch anders als zu Hause. Zur Überraschung ihrer Eltern kommen gerade kleine Kinder mit solchen klaren Unterschieden erstaunlich gut klar.

Es ist, als unterschieden sie fortan zwischen zwei Welten: Der Welt bei der Tagesmutter oder in der Kita, wo es Müsli zum Frühstück gibt, andere Kinder zum Spielen, den täglichen Ausflug in den Park und die Mittagsschlafzeit danach im Matratzenlager. Und die Welt zu Hause, in der es morgens Milch aus Mamas Brust gibt und in der natürlich nur im großen Bett geschlafen wird. Solange Kinder beide dieser Welten als sichere Orte erleben, können sie sich meist gut an die Gegebenheiten hier wie da anpassen und verblüffen damit Eltern wie Betreuer: „Wie, Anton legt sich bei euch freiwillig mittags mit seinem Teddy hin? Also bei uns macht er das nie!“

Elternbernberatung II: Wie die Betreuung den Schlaf zu Hause verändert

Manchen Kindern sind nach dem Krippenstart zu Hause keine größeren Veränderungen anzumerken: Sie schlafen allenfalls ein bisschen früher ein, ausgepowert vom Spielen und von all den neuen Eindrücken. Doch viele Babys und Kleinkinder stecken den Krippenstart nicht ganz so locker weg. Sie fühlen sich zwar wohl in der Betreuung und lassen sich dort auch gut füttern, schlafen legen und beruhigen – doch wenn sie dann wieder zu Hause sind, holen sie sich intensiv all die elterliche Nähe, auf die sie nun für ein paar Stunden verzichten mussten. Das hat nichts damit zu tun, dass die Kinder „Rückschritte“ machen würden, vielmehr ist jetzt das Bindungssystem der Kinder einfach (und verständlicherweise) stärker aktiviert. Eltern sollten dem gelassen Raum und Beachtung geben und ihren Kindern jetzt besonders viel Nähe und Begleitung anbieten, gerade auch am Abend und in der Nacht.

In Bezug auf die Nächte heißt das: Mit dem Betreuungsstart werden viele Babys und Kleinkinder wieder häufiger wach und verlangen nach Milch und Nähe – als wollten sie ihre Vorräte auffüllen für die Stunden des Tages, an dem sie von den Eltern getrennt sein werden. Ältere Krippenkinder wünschen sich nachmittags häufig einen ausgedehnten Mittagsschlaf im großen Bett, bei dem Mama oder Papa von Anfang bis Ende dabei bleiben und sie im Arm halten – als Rückversicherung, dass sie nun wirklich wieder da sind und heute nicht mehr weggehen.

Zum Weiterlesen:

Herbert Renz-Polster (2016): Schlaf gut, Baby! Der sanfte Weg zu ruhigen Nächten. Gräfe & Unzer Verlag GmbH

Quelle

Wir übernehmen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS), Ausgabe 2/2017, S. 4-9.

Foto: Jürgen Hudelmayer

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Autor

Dr. med. Herbert Renz-Polster, geb. 1960, ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg.

eingestellt am 04. April 2017

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