Trauer Alleinerziehender und ihrer Kinder nach dem Tod des Partners

Prof. Dr. Hans Goldbrunner

Die Trauer über den Tod nahestehender Personen ist nicht nur eine der schmerzlichsten menschlichen Erfahrungen, sondern zieht sehr widersprüchliche Gefühle nach sich. Das lässt sich besonders beim Tod eines Elternteiles in Familien beobachten. Die Trauer wird hier durch die existierenden Beziehungen geprägt und stellt gleichzeitig eine Herausforderung für die künftige Kommunikation in der Familie dar. Das lässt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben.

Der Tod eines Lebenspartners ist eine der schwersten Stresssituationen, deren Verarbeitung die Grenzen der Belastbarkeit der überlebenden Familienmitglieder aufzeigt. Das gilt insbesondere dann, wenn der Tod eines Elternteiles unerwartet in jungen Jahren eintritt und neben dem überlebenden Partner noch nicht erwachsene Kinder davon betroffen sind.

Die Trauer, die zwangsläufig einsetzt, um den Verlust einer tragenden Säule der Familie seelisch zu verarbeiten, erweist sich als ungeheuer komplex und widersprüchlich. Sie scheint zunächst eine sehr persönliche Angelegenheit der einzelnen Familienmitglieder. Sie konzentriert sich aus oberflächlicher Sicht auf die Person der Mutter oder des Vaters, die gestorben ist, und die von den einzelnen überlebenden Familienmitgliedern durchlitten wird. Die Erfahrungen, die sie in der Trauersituation sammeln, stellen zugleich Weichen für die persönliche Zukunft.

Gleichzeitig wird in der Trauer das soziale Beziehungsnetz, die Familie und das weitere soziale Umfeld berührt und verändert, Trauer trägt – was bei einer individuellen Sicht leicht übersehen wird – auch einen sozialen Charakter, und zwar in eine doppelte Richtung. Die vielfältigen und widersprüchlichen Reaktionen auf den Verlust werden durch die Erfordernisse der Familie stark gesteuert. Gleichzeitig wird das soziale Netz durch den Verlust nicht nur erschüttert, sondern muss nach der entstandenen Lücke und den damit verbundenen Erschütterungen neu geordnet werden.

Trauer vollzieht sich dabei im Widerspruch zwischen Festhalten und Loslassen, im Konflikt zwischen Fixierung an die Vergangenheit und Neuorientierung für die Zukunft. Das Janusgesicht der Trauer wird besonders eindringlich vor Augen geführt, wenn es gilt, endgültigen Abschied von einem Ehepartner und Elterteil zu nehmen. Dies soll an einzelnen Schwerpunkten näher ausgeführt werden.

Der Tod als gemeinsame Familienerfahrung

Der Verlust wird als etwas Einschneidendes erlebt, und zwar nicht nur vom überlebenden Ehepartner, sondern darüber hinaus von allen Personen, die mit dem Verstorbenen in enger Beziehung standen: neben dem Partner als dem Hauptbetroffenen den gemeinsamen Kindern, aber auch den Geschwistern, Eltern und Großeltern, Freunden, Arbeitskollegen usw. Der Verstorbene hatte unterschiedliche Beziehungen zu den Personen seines Umfeldes und sein Tod wird daher von den einzelnen Bezugspersonen sehr unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Daraus ergeben sich weit reichende Konsequenzen für die Beziehungen zwischen den Angehörigen.

Die Unterschiede in den emotionalen Reaktionen werden jedoch zu Beginn überschattet von der gemeinsamen Erfahrung des Verlustes, die alle Bezugspersonen berührt und die meist eine Gemeinschaft des Trauerns entstehen lässt, welche die unmittelbar Betroffenen sehr nahe zusammenführt. Es entsteht – wenn auch häufig nur für eine kurze Zeit – eine Art Trauersymbiose, die wichtige Funktionen im Prozess des Trauerns übernimmt. In dieser Beziehungskonstellation stehen der alle verbindende Schmerz und die gegenseitige Unterstützung bei der Verarbeitung des Todes und der Bewältigung der anstehenden Verpflichtungen im Vordergrund. Das Mitleiden, das Verständnis und der Trost der Angehörigen und Bekannten muntert die Trauernden auf und bildet einen seelischen Rückhalt, der den schweren Schicksalsschlag erträglich macht.

Die Ausbildung einer tragfähigen Trauergemeinschaft ist jedoch kein Automatismus, sondern davon abhängig, ob die Trauer gezeigt werden darf, wie stark die engere Kleinfamilie in das soziale Netz eingebettet ist und ob Bindungen nach außen vorhanden sind, die im Todesfall als Hilfe genutzt werden können. Die Qualität des Trauerns ist sehr stark davon geprägt, wie stark sich die engere Kernfamilie bereits vor dem Tod nach außen geöffnet hat und in welchem Umfang sie dem sozialen Umfeld Einblick in die Trauer gewährt, ob sie außerfamiliäre Unterstützung in Anspruch nehmen und Anregungen und Korrekturen aufgreifen kann.

Auch unabhängig von Personenverlusten grenzen sich Familien in bestimmten Phasen vorübergehend von ihrer Umgebung ab, um ein eigenes Familienleben zu entwickeln oder familieninterne Aufgaben ohne Einmischung von außen zu bewältigen, etwa junge Eltern mit kleinen Kindern. Chronische körperliche und seelische Erkrankungen, Alkoholprobleme oder Konflikte mit dem sozialen Umfeld begünstigen ebenfalls Rückzugstendenzen. Darüber hinaus können schambesetzte Todesarten wie Suicid dazu führen, dass die Familie die Öffentlichkeit meidet. In derartigen Fällen trägt die Isolation dazu bei, dass nach dem Tod eines Familienmitgliedes auf die Anteilnahme des sozialen Umfeldes nicht im erforderlichen Umfang zurückgegriffen werden kann und die Kernfamilie in ihrer Trauerarbeit weitgehend auf sich selbst gestellt – und nicht selten überfordert – ist.

Die soziale Isolierung der trauernden Familie

Der Mangel an sozialer Einbettung wird noch deutlicher, wenn man den abnehmenden Stellenwert von Trauerritualen in modernen westlichen Gesellschaften berücksichtigt. In den meisten Gesellschaften gibt es zahlreiche Rituale und ungeschriebene Normen, die den Rahmen des gemeinsamen Trauerns festlegen. Diese Normen betreffen Ort und Zeit des Trauerns, legen fest, wer an der Trauer Anteil nehmen soll und wer ausgeschlossen ist, in welchen Formen Trauernde ihre Gefühle ausdrücken dürfen, welche Verhaltensweisen gestattet und unterstützt werden und welche Reaktionen als problematisch bezeichnet werden. Gesellschaftliche Normvorgaben dienen in erster Linie der Unterstützung und Akzeptanz der Trauer, sie üben jedoch auch Druck aus und kontrollieren unauffällig den schmerzlichen Prozess des Trauerns, der jedoch kaum wahrgenommen wird, insbesondere wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen vom sozialen Umfeld sensibel und flexibel interpretiert werden.

Da die Ausübung von tradierten Trauerritualen immer weniger anerkannt wird, bricht für viele Trauernde dieser soziale Schutzraum weg, sie sehen sich mit ihren intensiven quälenden und bedrohlichen Gefühlen allein gelassen und müssen einen ganz persönlichen Weg durch ihre Trauer finden, wobei zusätzlich erwartet wird, dass sie der Umgebung möglichst wenig zur Last fallen. Für die Familie bedeutet der Wegfall von Trauerriten eine Verunsicherung, da durch tradierte Normen auch der Umgang der Familienmitglieder miteinander in einen schützenden Rahmen integriert war.

Heute muss jede Familie gleichsam ihre eigene Trauerkultur neu erfinden. Das eröffnet einerseits Chancen, eigene Regeln des gemeinsamen Trauerns und der Alltagsgestaltung nach dem Tod eines Mitgliedes zu entwickeln, es lassen sich jedoch Risiken nicht ausschließen, dass einseitige Beziehungsstrukturen ausgebildet werden, in denen etwa Kinder vernachlässigt oder in eine spezifische Rolle, z.B. als Partnerersatz, gedrängt werden, bestimmte Probleme ausgeklammert werden oder in Extremfällen Trauer sogar missbraucht wird, um Abhängigkeiten zu erzeugen oder unangemessen lange aufrecht zu erhalten.

Die Vergrößerung der Kluft zwischen der trauernden Kleinfamilie und dem erweiterten sozialen Netz macht sich besonders beim Tod eines Elternteiles bemerkbar. Sie trägt nicht nur dazu bei, dass die Trauer ausgeprägt individuelle Züge erhält, sondern dass darüber hinaus die innerfamiliären Beziehungen einen noch höheren Stellenwert erhalten, als dies in unserer modernen Gesellschaft mit der starken Trennung zwischen Privatsphäre und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ohnehin der Fall ist. Die Überlagerung der Familienbeziehungen mit den intensivsten Formen des Trauerns, die vom sozialen Umfeld kaum mehr aufgefangen werden, konfrontiert die Familie mit zusätzlichen Belastungen, die zunächst eine Chance für ihre Tragfähigkeit darstellen, in vielen Fällen aber auch ihre Grenzen aufzeigen und zu zusätzlichen Enttäuschungen beitragen, die neben der ursprünglichen Trauer verarbeitet werden müssen.

Das spontane Zusammenspiel in der trauernden Familie

Das manifestiert sich zunächst im unmittelbaren affektiven Erleben der Trauer, das sich vor allem im alltäglichen Umgang innerhalb der Familie widerspiegelt. Die überlebende Mutter oder der Vater sind nicht nur auf die eigene Trauer konzentriert, sondern nehmen auch wahr und müssen sich damit auseinandersetzen, wie die Kinder auf den Tod reagieren, sei es in Form von Weinen, trotzigem Leugnen, unbekümmertem Handeln als ob nichts geschehen wäre, einem abrupten, unerklärlichen Stimmungswechsel oder ängstlichen Anklammerungsversuchen.

Umgekehrt registrieren Kinder den Stimmungsumschwung bei Mutter oder Vater, das offene oder unterdrückte Weinen, beobachten nach schlaflosen Nächten die Verlangsamung der Bewegungsabläufe und die Ringe unter den Augen, registrieren Appetitlosigkeit und andere Anzeichen des Verlustschmerzes. Sie verstummen selbst, wenn sie mit ihren Aufmunterungsversuchen kein spontanes Lachen wie früher erzeugen können. Kinder nehmen die subtilen nonverbalen Reaktionen der Eltern sehr genau wahr, selbst wenn sich diese bemühen, sich zu beherrschen und die Kinder nicht über Gebühr mit der eigenen Trauer zu belasten.

Der Elternteil bzw. das jeweilige Kind haben nicht nur den eigenen Schmerz zu ertragen, sondern sind im alltäglichen Miteinander mit den unterschiedlichen Trauersymptomen der übrigen konfrontiert und müssen diese aushalten ohne zu flüchten. Sie versuchen spontan, sich gegenseitig zu ermuntern, extreme Reaktionen zu kontrollieren oder auch sich gegenüber erdrückenden Emotionen zu behaupten. Nach dem Tod eines Familienmitgliedes entwickelt sich ein subtiles interaktives Zusammenspiel zwischen den Überlebenden, das sich durch ein extremes Gefühl von Nähe und Intimität auszeichnet, auch wenn die Nähe zuweilen sehr schmerzhaft und ambivalent erlebt wird.

Gleichzeitig wird deutlich, dass sich das Erleben und Interagieren nicht primär auf die unmittelbaren Beziehungen zwischen den Lebenden bezieht, sondern dass es einem Dritten, nämlich dem Verstorbenen gilt. Es ergibt sich die paradoxe Situation, dass innerfamiliäre Beziehungen einen hohen Stellenwert erhalten, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern mit Blick auf den Verstorbenen, wodurch sie gleichzeitig ausgehöhlt zu werden drohen.

Daher ist es verständlich, dass Kinder zeitweise mit ihren eigenen Gefühlen kaum wahrgenommen werden, weil sie sich gegenüber der dominanten Trauer etwa der Mutter oder des Vaters dezent im Hintergrund halten und die Rolle eines unauffälligen Trösters übernehmen. Zuweilen mag hier der Eindruck entstehen, dass Kinder sich bemühen, den Ausfall des Verstorbenen zu ersetzen, indem sie Aufgaben im Haushalt übernehmen oder sich in der Schule besonders anstrengen. Kinder entwickeln im Trauerfall zuweilen erstaunliche Initiativen, den Verlust zu bewältigen und die entstandene Lücke in der Familie auszufüllen. Das gilt auch dann, wenn ihre Initiativen nach außen kaum in Erscheinung treten. Sie führen gleichsam Regie im Hintergrund.

Eltern übersehen häufig die Fähigkeiten von Kindern, die sie entwickeln, um die Trauer in der Familie zu erleichtern. Zuweilen entwickeln Eltern auch Schuldgefühle den Kindern gegenüber, wenn ihnen bewusst wird, in welchem Umfang sie Verantwortung für das Zusammenleben entwickeln. Wenn sich Eltern jedoch nicht zu sehr auf ein Kind fixieren und nach einer Periode der intensiven Trauer wieder besser in der Lage sind, ihm Freiräume zu gestatten, findet das Kind meist spontane Möglichkeiten, wie es seine Trauer ausleben kann, z.B. indem es sich zurückzieht, Selbstgespräche führt oder sich verstärkt Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie wie Großeltern, Freunden oder Lehrern zuwendet.

Auch die Weigerung, an bestimmten Ritualen wie Friedhofsbesuchen teilzunehmen, ist als Anzeichen zu werten, dass Kinder eigene Wege des Trauerns entwickeln und sich dadurch stärker von Vater oder Mutter abgrenzen. Distanzierung vom Familienleben ist in diesem Kontext kein Anzeichen von Entfremdung, sondern ein Versuch, einen eigenen Trauerstil zu entwickeln, ohne den Rest der Familie zu sehr zu belasten.

Das spontane lautlose Zusammenspiel wie auch die Abgrenzung zwischen den trauernden Familienmitgliedern wird in seiner Funktion für die Verarbeitung des Verlustes und für die Weiterführung der familiären Aufgaben oft übersehen. Defizite und Lücken, Trauer zuzulassen, werden häufig unbewusst von anderen Familienmitgliedern aufgegriffen und ausgefüllt. Das zeigt sich nicht nur in Form von Trost, Verständnis und Unterstützung, sondern bei extremen und bedrohlichen Reaktionen und Fixierungen an den Verstorbenen auch in konfrontativen Verhaltensweisen, wenn sich etwa ein Kind weigert, bestimmte Tätigkeiten auszuüben.

Aus diesen Gründen ist die Familienstruktur während der Zeit der intensiven Trauer meist unbemerkt einem starken Wandel ausgesetzt. Es muss nicht nur die Lücke des Verstorbenen ausgefüllt werden, sondern das eigene Erleben, die Wahrnehmung und die Reaktionen darauf eröffnen eine neue Dimension im familiären Miteinander, die sich auch auf die weitere Zukunft nachhaltig auswirkt. Das erschließt zunächst neuartige positive Familienerfahrungen, kann jedoch auch zu Spannungen und Unzufriedenheit beitragen.

Der verbale Austausch über die Trauererlebnisse

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Trauerarbeit der Familie ist die verbale Kommunikation, die an das spontane Verhalten anknüpft und es in die sprachliche Ebene übersetzt, das unmittelbare Erleben aber nicht ersetzen kann. Das Aussprechen von Gefühlen, Erinnerungen, Fantasien oder Wünschen erhält eine befreiende Wirkung, wenn es von einer akzeptierenden Grundhaltung begleitet wird, die das Gesagte offen und unvoreingenommen aufnimmt, ohne es inhaltlich zu bewerten. Quälende Gefühle und Gedanken verlieren ihren bedrohlichen Charakter, wenn sie in Worte gefasst werden und geduldige Zuhörer finden, die das Gesagte nicht sofort sachlich zurecht rücken, sondern den emotionalen Hintergrund zu erahnen suchen. Klare Informationen über den Todeshergang in einer kindgemäßen Form sind zwar wichtig, setzen die Wunschfantasien und Ängste von Kindern (und Erwachsenen) jedoch nicht außer Kraft.

Es ist für den Fortschritt der Trauer in der Familie sehr hilfreich, wenn die widersprüchlichen Gefühle aller Beteiligten zunehmend in Worte gefasst werden können und auf diese Weise für die Mittrauernden in gewissem Umfang nachvollziehbar werden. Dennoch wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass alles ausgesprochen, verstanden und aufgeklärt werden könnte. Worte sind nur (zuweilen unbeholfene) Annäherungsversuche an das widersprüchliche Erleben, die nicht selten Anlass zu Missverständnissen geben. Es darf hier nicht übersehen werden, dass sich die schreckliche Konfrontation mit dem Tod der rationalen Analyse entzieht.

Das Sprechen zieht weitere Konsequenzen nach sich. Es schafft Distanz zum unmittelbaren, emotional gefärbten Erleben und ermöglicht das Nachdenken über die Bedeutung des Verstorbenen. Indem die Trauernden das lähmende Schweigen, die Sprachlosigkeit, das monotone Weinen und Klagen überwinden und in der Lage sind, ihr Empfinden in Worte zu fassen, finden sie über den Dialog mit anderen zunehmend zu sich selbst und sind dadurch in der Lage, ihr Selbstbild der veränderten Lebenssituation anzupassen.

Die anfängliche Trauer, die alles Leben zu überwuchern drohte, wird relativiert und verliert ihren bedrohlichen Charakter. Das zeichnet sich ab, wenn differenziertere Gefühle benannt werden und deutlich wird, dass der Verstorbene unterschiedlich wahrgenommen wird und sich der Charakter der Trauer im Laufe der Zeit wandelt. Wo zu Beginn ein dumpfer Verlustschmerz im Vordergrund stand, taucht im weiteren Fortschritt des Trauerns eine breite Palette an Gefühlen auf, etwa Freude und Dankbarkeit über die vielen schönen Erinnerungen, Sehnsucht beflügelt die Fantasie, es entstehen aber auch kaum erwartete Emotionen wie Wut, Ärger, Ängste oder Eifersucht.

Der verbale Kommunikationsprozess in der Trauer ist jedoch äußerst störanfällig. Mangelhafte sprachliche Ausdrucksfähigkeit kann eine unüberwindliche Schweigemauer aufbauen. Die verbreitete Tendenz zur Idealisierung des Verstorbenen erschwert das Aussprechen negativer Gefühle. In diesem Zusammenhang spielen auch soziale Normen eine wichtige Rolle, insbesondere die Vorstellung, über den Toten nur Gutes zu sagen (De mortuis nil nisi bene). Falsche Rücksichtnahme gegenüber dem zerbrechlichen „Haupttrauernden“ ist kaum zu überwinden, da sie die Artikulation destruktiver Gefühle nicht zulässt.

Im Normalfall tragen derartige Kommunikationsbarrieren vorübergehenden Charakter und werden durch die Heftigkeit der Trauerreaktionen überwunden, ähnlich wie bei Hochwasser Sandbänke und Gestrüpp in einem Flussbett von den anstürmenden Wassermassen weggerissen werden. Dennoch können die Behinderungen auch hartnäckiger Natur sein und den Trauerfluss nachhaltig blockieren. Die aufgestauten Gefühle finden dann nur über pathologische Symptome einen Weg nach außen, die jedoch häufig erst einige Zeit nach dem Trauerereignis auftreten, so dass der ursächliche Kontext kaum mehr zu erkennen ist. Selbst psychologischen Fachleuten fällt es dann schwer, etwa bei Suchtverhalten, Konzentrations- und Leistungsstörungen, aggressivem Verhalten oder burnout den Zusammenhang zur ursprünglichen Verlusterfahrung zu diagnostizieren.

Neben den Chancen und Risiken der Kommunikation stellt die Bewältigung des familiären Alltags eine weitere Herausforderung dar. Während zu Beginn der Trauerzeit die Vernachlässigung von Haushalt, Beruf und Schule von der Umwelt noch häufig mit Nachsicht behandelt wird, lässt sich gegenwärtig ein starker Druck von außen beobachten, zu einem geregelten Alltag zurückzukehren. Die „Restfamilie“ kann überfordert sein, die familiären Aufgaben des verstorbenen Elternteiles auf die Überlebenden zu verteilen, besonders wenn an eingefahrenen Rollenmuster starr festgehalten werden. Andrerseits erwachsen aus der modernen Liberalisierung von Familienstrukturen nicht selten Problem, insbesondere wenn alltägliche Probleme und notwendige Entscheidungen nicht verbalisiert werden können oder wenn in einer autoritären Weise einseitige Lösungen diktiert werden.

Dagegen führt die erfolgreiche, gemeinsam erreichte Bewältigung aktueller Probleme, die früher Aufgabe des Verstorbenen waren, die Handlungsfähigkeit der Familie ebenso wie die Autonomie und das neu gewonnene Rollenverständnis der Familienmitglieder vor Augen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Todestag bekommen auch die trauerfreien Intervalle mehr Gewicht, während sich abzeichnet, in welchem Rhythmus der Schmerz auftritt und wie man damit umgehen kann.

Besteht eine gewisse Offenheit im Gespräch und wird in der Familie nicht an einem starren Trauerschema festgehalten, ist es auch möglich, Unterschiede im Erleben zuzulassen. Die vorwurfsvolle Bemerkung: „Wie redest du über deine verstorbene Mutter!“ wird überflüssig, wenn akzeptiert wird, dass das Kind sich auch über die idealisierte Mutter manchmal geärgert hat.

Für die Mutter hat der fehlende Vater einen anderen Stellenwert als für Sohn oder Tochter. Sie verknüpft mit ihm zahlreiche Facetten der partnerschaftlichen Beziehung, des Aufbaus einer gemeinsamen Existenz, der guten Zusammenarbeit und gelösten Konflikte in der Erziehung. Sohn oder Tochter erinnern sich an eine andere Beziehungsgeschichte. Der offene Austausch über den Verstorbenen führt die differenzierten Beziehungen in der Vergangenheit vor Augen und trägt dadurch zur weiteren Strukturierung der Beziehungen der Restfamilie bei.

Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass das Gewahrwerden der Differenzen auch sehr schmerzhaft sein kann. Dadurch wird die ursprüngliche Trauer vorübergehend noch intensiviert, da die Einheit und Harmonie in der Familie nicht so weit zu reichen scheint, wie man es sich wünschte und zunächst auch in der Trauersymbiose erlebte. Ängste, nicht verstanden und akzeptiert zu werden, brechen auf. Der Verlust eines Familienmitgliedes sensibilisiert für Verlassenheitsängste, die nicht unbegründet sind, da innerfamiliäre Todeserfahrungen vorhandene Ablösungstendenzen von Kindern beschleunigen und zuweilen zum Auseinanderbrechen der ganzen Familie beitragen können. Das Risiko des Auseinanderdriftens ist jedoch dann am größten, wenn hartnäckig an der anfänglich wichtigen Trauersymbiose festgehalten wird und Unterschiede und Spannungen nicht zugelassen werden.

Die Pflege und Integration des Vermächtnisses

Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass überkommene Traditionen wie das Trauerjahr, die früher das Ende der Trauer markieren sollten, sich heute als unrealistisch erweisen, hält sich dennoch die Vorstellung, dass die Trauer zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen ist oder sein sollte. Das Ende wird allerdings vorrangig nach psychologischen Kriterien ermittelt. Es wird dann angenommen, wenn die Erinnerung an den Verstorbenen nicht mehr mit schmerzhaften Gefühlen verbunden ist, wenn Trauernde in ihren alltäglichen Verrichtungen nicht mehr beeinträchtigt sind und wenn neue Bindungen eingegangen werden können.

Dabei wird leicht übersehen, dass innerpsychisch auch auf längere Sicht Erinnerungsspuren des Verstorbenen zurückbleiben, die eine kritische Auseinandersetzung erforderlich machen, die allerdings weniger mit affektiver Erschütterung verknüpft sind. Vor allem beim Tod eines Elternteiles, der als Fundament der Familie anzusehen ist, bestehen subtilere moralische Bindungen, die sich nicht auf emotionalem Wege auflösen lassen, sondern häufig in ihrer Tragweite erst zum Vorschein kommen, wenn der emotionale Trauerprozess abzuklingen beginnt. Der Verstorbene hinterlässt ein normatives Vermächtnis, dem sich die Restfamilie verpflichtet fühlt. Diese Thematik verdient besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Beziehung Alleinerziehender zu ihren Kindern, da sie manche Erziehungsprobleme nach dem Tod eines Elternteiles und besonders nach dem Eingehen einer neuen Partnerbeziehung verständlich macht.

Zunächst eine nicht unbekannte Episode aus dem familiären Alltag: Wenn ein heranwachsendes Kind der strengen Mutter gegenüber behauptet „Papa würde mich verstehen und mir erlauben, abends länger weg zu bleiben!“ kommt zum Ausdruck, wie sich das Kind durch den verstorbenen Vater unterstützt fühlt, während es annimmt, dass die (strenge) Mutter einen „Verrat“ am Vermächtnis des (freizügigen) Vaters begeht. Die Bemerkung regt die Mutter zum Nachdenken an, ob sie tatsächlich zu hart gegenüber den Wünschen des Kindes ist. Sie hat Schwierigkeiten, ihre eigenen Erziehungsziele umzusetzen, wenn ihr bewusst wird, dass das Kind sie mit denen des verstorbenen Vaters vergleicht, von dem es keine Erinnerungen an Verbote hat. Die Mutter wird sich fragen, ob der Vater auf die Probleme der pubertierenden Tochter ähnlich reagieren würde wie auf die charmanten Annäherungsversuche der „angebeteten Prinzessin“ zu Lebzeiten.

Das Beispiel verdeutlicht, dass der Verstorbene auch noch Jahre nach seinem Tod als eine Art Leitbild in der Familie imaginär anwesend ist und das Familienleben in einer Form mitbestimmt, die der aktuellen Situation nicht gerecht wird. Die Familie hat das Gefühl, als ob er ihr Tun von außen beobachtet und einer Zensur unterwirft. Gesinnung und Verhalten der Familienmitglieder werden unsichtbar durch die Vorstellung beeinflusst, welche Haltung der Verstorbene in der jeweiligen Situation einnehmen, ob er das jeweilige Verhalten akzeptieren oder missbilligen würde. Das wird besonders bei lebensentscheidenden Ereignissen deutlich, für die keine eindeutigen Maßstäbe vorliegen.

Familienmitglieder haben das Bedürfnis, den Verstorbenen auf der Suche nach angemessenen Wertvorstellungen und bei Sinnfragen in ihr weiteres Leben einzubeziehen. Das ist jedoch nicht eine ausschließlich persönliche Angelegenheit des einzelnen, sondern bedarf eines fortgesetzten Dialogs innerhalb der Familie. Das moralische Erbe wird nicht wie in einem Museum etwa von einem Familienmitglied konserviert, das sich als „Sprecher“ des Verstorbenen fühlt, sondern es wird in einem lebendigen Klärungsprozess zwischen den Familienmitgliedern ausgehandelt, da keine eindeutigen Orientierungswerte vorliegen, sondern vielfach heterogene Vermutungen über die Werte und Normen des Verstorbenen.

Wenn das Gespräch und die Auseinandersetzung um das Vermächtnis vermieden werden, können derartige Leitbilder, über die häufig kontroverse Meinungen aufkommen, nicht hinterfragt und an die aktuellen Bedürfnisse angepasst werden. In der Einbindung des Verstorbenen bei der Suche nach Zielen und Leitbildern der Lebensgestaltung wird eine moralische Bindung aufrecht erhalten, die allerdings an sich verändernde Bedingungen angepasst werden muss. Auf diese Weise nimmt der Verstorbene weiter am Familienleben teil, ohne wirklich anwesend zu sein.
 

Ausblick

Der Tod eines Elternteiles tangiert nicht nur einzelne Personen, sondern verändert die gesamte Familie. Angemessene Trauerarbeit kann nur geleistet werden, wenn auch die Erschütterung des familiären Lebens berücksichtigt wird. Das ist zunächst mit zusätzlichen Belastungen verbunden, eröffnet jedoch zahlreiche Potentiale innerhalb der Familie nicht nur für die Verarbeitung des Verlustes, sondern auch für die Entwicklung einer umfassenderen Lebensperspektive für alle Familienmitglieder.

Weiter führende Literatur:

  • Goldbrunner, Hans (1996): Trauer und Beziehung. Systemische und gesellschaftliche Dimensionen der Verarbeitung von Verlusterlebnissen. Mainz. Matthias-Grünewald-Verl.
  • Ders. (2006): Dialektik der Trauer. Ein Beitrag zur Standortbestimmung der Widersprüche bei Verlusterfahrungen. Berlin, LIT-Verl.

Autor:

Prof. Dr. Hans Goldbrunner, Psychologe, Familien- und Paartherapeut, Supervisor

Professor für Psychologie/Sozialpsychologie an der Universität Duisburg-Essen (im Ruhestand)
Kirchfeldstr. 73, 40882 Ratingen
Tel. 02102/51197

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Erstellt am 8. September 2004, zuletzt geändert am 15. November 2013

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