Gewalt unter Geschwistern im Alltag der Familie

Gertrud Ennulat
Gertrud Ennulat

Geschwisterbeziehungen sind reich an Konflikten, die verbale, versteckte und körperliche Gewalt beinhalten. Ich werde nach Ursachen ihrer Entstehung fragen, aber auch nach Gründen suchen, wieso diese Gewalttätigkeiten für die beteiligten Kinder wichtig sind und warum sie von Müttern und Vätern stillschweigend geduldet oder verurteilt werden. Gewalt unter Geschwistern hat eine Funktion innerhalb der Sozialisation von Kindern in der Familie. Die entsprechenden Vorkommnissen werden ein Leben lang nicht vergessen, manchmal erst im Erwachsenenalter geklärt, manchmal nie.

Nein, es ist kein außergewöhnliches Phänomen, über das ich schreibe. Allerdings fällt der Blick auf Gewalt zwischen Geschwistern schwer. Wer sich auf meinen Text einlässt, hat die rosarote Brille abgesetzt, den Wunsch nach der heilen Familie aufgegeben und nimmt in Kauf, dass in dunklen Ecken aufgeräumt wird. Dann lässt ein nüchterner und liebevoller Blick die Ambivalenz der in einer Familie wirkenden Kräfte zu. Auf das System der Familie hat diese Bereitschaft eine sehr entlastende und befreiende Wirkung.

Gewalt unter Geschwistern – ein alter Hut

Ich erinnere mich noch gut an die Religionsstunde, als die Mordsgeschichte von Kain und Abel erzählt wurde. Hin- und hergerissen zwischen Brudermörder und tot geschlagenem Opfer wusste ich nicht, mit wem ich mich solidarisieren sollte. Der väterliche Gott verweigert dem einen Bruder seinen Respekt und blickt nicht wohlgesonnen auf seine Opfergabe. Bis heute habe ich Mühe mit diesem eifernden Gott, der die Gabe des einen Geschwisters bevorzugt und den anderen dadurch tief beschämt. Nicht gesehen zu werden, das verletzt und tut weh, weil die eigene Person plötzlich als nichtswürdig und bloß gestellt erlebt wird. Gefühle von Eifersucht, Zwietracht und Neid steigern das innere Potenzial der Aggression, bis es nicht mehr zum Aushalten ist. Am Ende entlädt sich die Gewalt gegen den brüderlichen Rivalen.

Blutrünstig geht es in der Bibel weiter. In der Geschichte von Josef und seinen Brüdern gibt es doch tatsächlich einen Vater, der aus der Schar seiner vielen Söhne einen einzigen bevorzugt und zu Papas Liebling macht. Dieser Josef, Sohn der früh verstorbenen Lieblingsfrau des Vaters, wächst in seine Rolle als bevorzugtes Kind hinein, das sich den älteren Brüdern überlegen fühlt und gleichzeitig ihren Hass und ihre Eifersucht zum Kochen bringt. So wird er für sie ein Bruder, der nicht mehr zum Aushalten ist, weil seine Gegenwart eine unerträgliche Demütigung und Beschämung bedeutet. Papas Liebling soll am eigenen Leib spüren, was er seinen Brüdern angetan hat! Sie werfen ihn in einen ausgetrockneten Brunnenschacht und wollen ihn dort seinem Tod überlassen. Da aber auch diese Geschwister nicht über einen Kamm zu scheren sind, meldet sich der Widerstand eines Bruders, bei dem sich ein letztes Restchen Familiensolidarität erhalten hat, und Josef wird als Sklave an eine vorbeiziehende Karawane verkauft. Dem Vater gegenüber spielen die gewalttätigen Brüder ein doppelbödiges Spiel. Josefs in Blut getränkter Mantel lässt ihn glauben, sein über alles geliebter Sohn sei tot.

Zwischen Liebe und Hass – die Bandbreite geschwisterlicher Beziehungen

Niemand kann sich seinen Bruder oder seine Schwester aussuchen. Geschwister wird ein Junge oder Mädchen nicht durch eigenen Entschluss, sondern weil in der Familie ein weiteres Kind geboren wird. Die passive Form weist darauf hin, dass damit auch Momente des Leidens verbunden sein können, schließlich verändert sich die Rangfolge der Geschwisterreihe, meist auch die Anzahl der bisher gewohnten Streicheleinheiten der Eltern. Abneigungen, Ablehnungen, Feindschaft und Rivalitäten gehören zum täglichen Brot, sobald mehr als ein Kind mit Mutter und Vater aufwächst. “Tag für Tag muss ich diesem Idiotengesicht bei den Mahlzeiten gegenüber sitzen. Manchmal könnte ich mit der Faust reinschlagen. Ich kann ihn einfach nicht ausstehen, diesen Idiotenbruder!” Der Originalton eines 13-Jährigen gegenüber seinem um ein Jahr jüngeren Bruder ist so richtig dazu angetan, den Prozess der Desillusionierung im Hinblick auf Geschwisterbeziehungen in Gang zu setzen.

Natürlich gibt es auch das Gegenteil. Ein 11-Jähriger, der seine kleine Schwester vergöttert, sie fast täglich von der Kita abholt und offensichtlich bezaubert ist vom Charme des kleinen Mädchens, um deren Gunst er regelrecht buhlt, sagt: “Bevor sie geboren wurde, war es bei uns ätzend langweilig. Aber jetzt gibt es immer etwas zu lachen bei uns!”

Groß sind die Gegensätze in der Qualität von Geschwisterbeziehungen; Zwischenstufen sind kaum auszumachen. Offensichtlich pendeln Brüder und Schwestern zwischen heiß und kalt, sind sich jedoch nur in ganz seltenen Fällen gleichgültig. So verwundert die Äußerung eines Mädchens nicht: “Ich bin froh, dass ich meinen Bruder habe, auch wenn ich ihm an manchen Tagen mit dem größten Vergnügen den Hals umdrehen könnte! Er kann so schrecklich fies und biestig sein. Aber ich mag ihn halt.”

Geschwister bilden emotional bedeutsame Beziehungen untereinander und können die Gegensatzspannung von Liebe und Hass aushalten. Neutralität gibt es kaum. Das erklärt die hohe Konflikt- und Streitanfälligkeit in ihrem Zusammenleben. Offensichtlich schaffen sie sich immer wieder Anlässe, um sich dadurch von ihren Spannungen zu befreien. Dabei sind die Ausdrucksformen geschwisterlicher Streitigkeiten sehr vielfältig. Tag für Tag erfinden sie neue Varianten des immer gleichen Spiels: Dem Bruder oder der Schwester eins auszuwischen, zu ärgern, etwas wegzunehmen, Lügengeschichten in die Familie zu setzen, den Wert der Person vermindern, einen üblen Streich spielen, das Handy verstecken, die Freundin ausspannen… Bei solchen Alltagsereignissen unterscheiden sich Kinder und Erwachsene voneinander. Während die Eltern schnell auf der Palme sind, genervt auf das Gezerre der Kinder reagieren, scheint die Toleranz der beteiligten Geschwister größer zu sein. Ein 14-Jähriger sagt nüchtern: “Wenn meine Schwester mal wieder so einen richtigen Scheiß in meinem Zimmer gemacht hat, dann bleib ich ganz cool, speicher das ab, und wenn ich dann mal selber so richtig mies drauf bin, dann kriegt sie das zurück, hinterher fühl ich mich super. So ist das bei Geschwistern. Meine Mutter flippt da aber total aus.”

Auch wenn es die Erwachsenen noch so nervt, es ist einfach so, dass Aggression unter Geschwistern eine die Kinder beruhigende Funktion hat. Da sie sich meist innerhalb des geschützten Raums der Wohnung abspielt, die Gegner bekannt und berechenbar, ihre Fehler und Schwächen einschätzbar sind, gewinnt ein Kind auf diese Weise ein Gefühl dafür, dass es lebendig ist. Schubsen, Kneifen, Kratzen und Beißen, Beleidigungen aussprechen, leichte Verletzungen zufügen, damit können Kinder sehr gut leben. Ein 9-Jähriger sagt: “Also manchmal krieg ich so eine Wut auf meinen Bruder, da schlag ich zu. Neulich hat sogar die Nase geblutet, da bin ich furchtbar erschrocken, da hat es mir so leid getan, und ich fand das gut, dass mein Bruder abends beim Essen trotzdem neben mir gesessen ist.”

So kann an manchen Tagen der Alltag unter Geschwistern aussehen. Sich morgens die Nase blutig schlagen und am Abend gemeinsam im Zimmer im Bett liegen, sagen, dass es leid tut und die körperliche Nähe zum Bruder oder zur Schwester als etwas Schönes und Vertrautes wieder zu erleben.

Kämpfen macht Spaß

Wer zwei auf dem Boden miteinander ringenden Kindern zuschaut, staunt über die Kraft, welche beide aufbringen; Ihre Gesichter sind knallrot, Schweiß läuft von der Stirn, sie setzen Hände, Füße, den Körper, Zähne und Zunge ein, sind verbissen ineinander gekeilt und sagen hinterher: “Ich fühl mich ganz toll. Wenn ich Sieger bin, noch toller. Kämpfen macht Spaß!” Jeder Kampf macht klar: ich habe Kraft, habe es geschafft, werde beachtet, bin nicht mehr der kleine unbedeutende Dreck. Da Kinder in ihrem Denken konkret sind, steht in ihrem Wertesystem Körperkraft ganz oben. Kämpfe mit Gewinnern und Verlierern entsprechen ihrer Sicht der Welt, die in gut und böse, schwarz und weiß eingeteilt ist. Kämpfen macht Spaß, und Gewalt übt eine große Faszination aus.

Der Erwachsene als Zeuge und Richter bewertet die Streitereien der Kinder

Meist ist die Toleranz der streitenden Kinder größer als die der Erwachsenen. Warum regt mich das so auf?, fragen sich manche Mütter oder Väter. Sie haben sich zwar vorgenommen, ruhig und sachlich zu bleiben, müssen aber ernüchtert feststellen, dass dies nicht geht. Eltern stecken nun mal nicht in dicken Ritterrüstungen oder laufen mit einer Elefantenhaut durch die Wohnung, sondern reagieren auf die Emotionen und heftigen Affekte, die durch den Streit ihrer Kinder geweckt geworden sind, wehren sich dagegen, weil sie aus ihrer eigenen Befindlichkeit gerissen worden sind, spüren, wie ihr Adrenalinspiegel steigt, Wut hochkommt. Ohne es zu wollen, werden sie angesteckt von den Streitereien der Kinder. Nun müssen sie Stellung nehmen, den Kampf als gerechte Richter beurteilen und sind gleichzeitig enttäuscht und genervt, suchen nach Worten der Erklärung, fangen an, das Verhalten der Kinder zu bewerten, und plötzlich ist es da, das Wort von der Gewalt. Aufgeschreckt vom Gedanken, gewalttätige Kinder zu haben, geistern Angstfantasien durch die Wohnung. Wenn dann im Fernsehen zufällig an diesem Tag von der Zunahme der Gewaltbereitschaft der Kinder die Rede ist, dann geht es den Eltern und Kindern schlecht.

Von Familie zu Familie wird die Grenze zum Bereich dessen, was als Gewalt bezeichnet wird, verschieden gezogen. Was in der einen Wohnung in den Rahmen der unter Kinder üblichen Aggression gehört, bekommt in der anderen Wohnung das Etikett Gewalt. Frauen reagieren sensibler auf körperliche Attacken unter Geschwistern als Männer und benutzen das Wort Gewalt im Gespräch mit den Kindern, um auf die Gefährlichkeit ihres Tuns hinzuweisen. Dabei kann auch die Rede von der Angst sein, die mit der plötzlich aus einem Menschen herausbrechenden destruktiven Energie der Gewalt verbunden ist.

Kinder brauchen viele Übungsfelder, um zu lernen, wie sie ihre Interessen gegen den Widerstand anderer durchsetzen können. Irgendwann lernen sie, dass eine große Befriedigung entsteht durch das Gefühl von Macht und Bedeutungszuwachs, sobald der Gegner hilflos auf dem Boden liegt und um Gnade wimmert. Wenn ein Kind in einem solchen Moment des Sieges keine Hemmung in sich spürt, den Gegner zu treten und zu quälen, dann hat es eindeutig die Grenzen der üblichen Aggression überschritten und bewegt sich im Bereich der körperlichen Gewalt, in dem bewusste Schädigung, Verletzung oder Vernichtung des Gegners einkalkuliert wird.

Gewalterfahrungen zeichnen sich aus durch Wucht und überwältigende Energien, gegen die schwer anzukommen ist. Gewalt will klein machen, ist rücksichtslos, unerbittlich, zielt auf Einschüchterung durch Druck. Wer Gewalt erleidet, fühlt sich erniedrigt, und sein Grundvertrauen in sich und das Umfeld wird massiv gestört. Ein Kind, das Gewalt erfahren hat, wird konfrontiert mit einer Fülle schwer auszuhaltender Gefühle. In vielen Fällen warten Kinder – als Technik des Überlebens und als Schutz vor der eigenen Ohnmacht und Erniedrigung – auf die Stunde der Rache, um das erlittene Unrecht und die Scham zu tilgen.

Ein Geschwister wird zum Bündnispartner eines Elternteils

Wenn ich von außen auf das System einer Familie mit Kindern schaue, dann bin ich immer wieder fasziniert von den dort gültigen Theaterplänen. An manchen Tagen spielen alle heiter und gelassen im Komödienstadel mit, an anderen Tagen laufen skurrile und kabarettreife Szenen ab, von denen jedoch am nächsten Tag nichts mehr zu spüren ist, weil es dann plötzlich dramatisch zugeht. Elternteile und Geschwister kämpfen mit sichtbaren und unsichtbaren Bandagen ums Überleben, suchen Bündnispartner, um ihre eigene Position zu stärken, brauchen Sündenböcke, um sich zu entlasten, sind alle überzeugt von der Richtigkeit ihres Verhaltens und ahnen gleichzeitig, dass es so nun doch nicht weitergehen kann. Weh dem, der als Besucher von außen kommt. Ehe er sich versieht, wird er vereinnahmt und soll Partei ergreifen. Doch nur durch eine neutrale Haltung kann er neue Impulse ins Familiengefüge bringen; alle können davon profitieren, wie das folgende Beispiel zeigt:

Seit einem halben Jahr besucht die knapp 7-jährige Nadine dieselbe Schule wie ihr 12-jähriger Bruder. Schon im Vorfeld war zu spüren, dass dem Jungen die Aussicht gar nicht passt, ein Mitglied seiner Familie an seiner Schule haben zu müssen. Konflikte und Streitereien zwischen den beiden Geschwistern nehmen zuhause überhand, das Mädchen beschwert sich bei der Mutter über die Drohungen, mit denen sie der große Bruder immer wieder einschüchtert. Eines Tages wartet er nach der Schule versteckt hinter einer Gartenmauer auf seine jüngere Schwester. Als sie nahe genug ist, stürzt er sich auf sie, verprügelt sie so schlimm, dass eine Nachbarin erschrocken aus der Wohnung kommt. Das Mädchen liegt weinend am Boden, hält ihre Hände schützend vor den Kopf, aber der Bruder tritt sie weiter mit Füßen. Die Nachbarin greift ein, bringt das Mädchen nach Hause und hat den Mut, mit den Eltern zu sprechen.

Bei diesem Ereignis spielt die Nachbarin die wichtige Rolle der nicht direkt betroffenen Person. Sie ist nicht ins Familiensystem eingebunden und verhindert auf diese Weise, dass der Vorfall heruntergespielt wird, was in vielen Familien als Technik im Umgang mit gewaltsamen Konflikten häufig der Fall ist. Dann heißt es: “Da misch ich mich nicht ein! Das hat er nicht so gemeint! Und im Übrigen müssen Kinder ihre Angelegenheiten selber regeln! Schwamm drüber, reden wir nicht mehr davon!”

Das Geschehen wird nicht ernst genommen. Da viele Erwachsene einem falschen Erziehungsideal huldigen, das ihnen vorgaukelt, Kinder seien mündig und müssten ihre Angelegenheiten selbstständig unter einander regeln, vergessen sie, dass Kinder diese Kompetenzen erst erwerben müssen und sie als Erwachsene auf diesen mühsamen Wegen eine wichtige Begleitfunktion haben. Wer sich feige aus der Verantwortung stiehlt, der lässt sein Kind im Stich, denn es hat keine Chance, die Steuerung der gewalttätigen Kräfte im Kontakt mit einem Erwachsenen zu lernen. Es bleibt allein und läuft ins Leere.

Die Nachbarin scheut die Konfliktsituation nicht, liefert das weinende Kind auch nicht wie ein Postpaket unter der Haustür ab, sondern informiert die Mutter darüber, was sie gesehen hat. Im günstigen Fall überwindet die überraschte Mutter ein aufsteigendes Gefühl der Beschämung und Bloßstellung, sagt auch nicht, “das ist privat, das ist unsre Sache, das geht sie überhaupt nichts an,” sondern nutzt die Gelegenheit zum Gespräch. Dabei zeigt sich schnell, was läuft: Nadine ist enttäuscht, dass ihr Bruder sie in der Schule überhaupt nicht wahrnimmt. Sie hatte es sich so schön vorgestellt, einen großen helfenden Bruder an ihrer Seite zu haben. Enttäuscht durch diese Zurückweisung, fängt sie an, den Bruder zuhause schlecht zu machen. Sie schleicht sich in der großen Pause zur Raucherecke und petzt zuhause seine Untaten. Für den Jungen verengt sich auf diese Weise der ursprünglich familienfreie Raum Schule.

Das Mädchen ist stolz über die neue Rolle, das verlängerte Kontrollorgan der Mutter zu sein, genießt die neue Sonderstellung bei der Mutter, liefert dabei auch mal erlogene Informationen ab, ignoriert gleichzeitig die Warnungen und Drohungen des Bruders und genießt zuhause die Streitereien zwischen Mutter und Sohn. Sie zieht daraus den Schluss, Mamas Mitstreiterin und Liebling zu sein. Ihr Bruder ist in der Gunst der Mutter in den Keller gefallen, zumal diese in der permanenten Angst lebt, jetzt, wo er in die Pubertät komme, würde er zwangsläufig auf die schiefe Bahn geraten. Als er seine Schwester auf der Strasse überwältigt, handelt er in diesem Sinne.

Wenn Eltern sich mit einem Kind verbünden, um Einblick in die Intimität der Kinderwelt zu gewinnen, dann kann das böse enden, weil Übergriffe und Grenzverletzungen stattfinden, welche die Kinder übel nehmen, gegen die sie sich aber meist nicht direkt wehren können. Kinder brauchen ihre Subsysteme, denn sie leben in verschiedenen Rollen an verschiedenen Orten: im Klassenzimmer, im Kindergarten, auf dem Fußballplatz, in der Klavierstunde, auf der Strasse… In ihren unterschiedlichen Kinder- und Jugendwelten entfalten sich die verschiedenen Facetten ihrer Person. Dabei erleben sie die Eltern als Eindringlinge.

Deshalb brauchen Kinder, die mit Geschwistern in der Familie aufwachsen, auch Raum für Aktivitäten ohne die vertrauten Familienmitglieder. Ein Mädchen sagt drastisch: “Ich finde es schon gut, mit Brüdern und Schwestern aufzuwachsen. Aber es gibt Tage, da kann ich keinen von ihnen riechen. Wenn ich meine Clique nicht hätte, ich glaub, ich würde verrückt werden.”

Der Ehekrieg findet auf der Strasse statt

Wenn es in der Beziehung zwischen Mutter und Vater kriselt, Konflikte, Auseinandersetzungen und Streit den Alltag bestimmen, die Angst vor dem Kampf der Eltern gegeneinander sich über die Kinder legt, dann kommen Geschwister in Not, weil der Wunsch nach Solidarität und Loyalität sie fast zerreißt. Hin- und hergerissen zwischen Mama und Papa bilden sich Koalitionen, um sich gegen massiv aufsteigende Verlassenheitsängste zu stabilisieren. Die bisher verlässlich einschätzbaren geschwisterlichen Bündnisse verändern sich.

Wenn die Brücke, welche die Liebe zu beiden Elternteilen gewährleistet, nicht mehr begehbar ist, schließt sich ein Teil der Geschwister zusammen in der Partei Ich bin für Mama, die anderen in der Partei Ich bin für Papa. Konfrontiert mit tiefer Verlassenheitsangst, Trauer, Wut und Ohnmacht erfahren die Kinder beider Lager, dass sie ihre heftigen Gefühle nicht gegen die eigentlichen Verursacher richten können. Sie sitzen in der Falle und halten Ausschau nach Ersatz. Was liegt näher als die geballte Ladung der Affekte aus Schmerz und Enttäuschung gegen Bruder oder Schwester zu richten?

Dann beginnen auf dem Schlachtfeld der Kinderliga die Kämpfe gegen den Bruder oder die Schwester, die bei Ehestreitigkeiten Papas oder Mamas Position einnimmt. Nicht selten entladen sich heftige Spannungen in gewalttätigen Auseinandersetzungen auf der Strasse, dem Spielplatz, dem Schulhof, der Bushaltestelle. Die sich entladende Wut tobt sich innerhalb der Geschwisterbeziehungen aus. Nur so kann sie sich überhaupt ausdrücken. Ein Mädchen erzählt: “Als unsre Eltern mit den Streitereien anfingen, meine Mama oft betrunken war, da hatte ich eine schlimme Wut auf meinen Bruder, weil der immer sagte, die Mama hat recht, es geschieht dem Papa recht, wenn sie ihn rauswerfen will. Ich konnte das nicht mehr hören, weil ich wollte, dass sie zusammen bleiben. Und da hab ich ihn einmal vor dem Supermarkt grün und blau gehauen. Hinterher hat er mir richtig leid getan. Das kam einfach so über mich.”

Schauen, was läuft

Der Umgang mit Konflikten in der Familie legt die Grundlage für die Kompetenzen der Kinder im Umgang mit ihren aggressiven Kräften. Sensibel spüren Kinder, ob ihre Eltern Konflikte meiden wie die Pest, sie im Vorfeld bereits hemmen wollen und alles tun, um sie ja nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, weil aggressiv gefärbte Äußerungen sie in Bedrängnis bringen. Wenn Eltern aber bei den geringsten Differenzen zwischen ihren Kindern die moralische Keule Friede, Friede hervorholen, das Feuer zwischen den streitenden Geschwistern löschen wollen, dann entsteht eine zwanghafte Friedfertigkeit, die das Hervorbrechen von Gewalt unter Geschwistern eher fördert als hemmt.

Wer es besser machen möchte, beobachtet das Verhalten seiner Kinder, um darin lesen zu lernen. Schnell wird dann deutlich, wie oft es gerade die kleinen Rangeleien, Rempeleien, Frotzeleien und Handgreiflichkeiten sind, die sich über einige Tage mehren und eine aggressiv geladene Stimmung verursachen, von der meist der Rest der Familie angesteckt wird. Wer es anders haben will, der setzt sich mit dem Geschwisterverband auf den Boden oder an den Tisch und gibt die Parole aus, dass jetzt alle ihren Kropf leeren dürfen, damit der erlittene Frust sich abbauen kann. Auch wenn es anfangs chaotisch zugeht, die Kinder mit den Geschützen verbaler Attacken um sich ballern, zeigt sich doch sehr schnell, wie die Frontlinien verlaufen, wie die kleinen Animositäten eskalieren, wie z.B. derjenige, der sich die meisten Spaghetti geschöpft hatte, von den anderen missgünstig beäugt wird und wie sich das Kind, das eine schlechte Note im Diktat hatte, vom Streberbruder ausgelacht fühlt, dass dem einen schon wieder ein Euro aus der Schublade geklaut wurde, die Unordnung im Bad doch immer nur die Mädchen aufräumen müssen, es ganz schön fies war, von der Schwester auf dem Spielplatz von der Rutsche geschubst worden zu sein.

Geschwister haben ein phänomenal gutes Gedächtnis!

Wenn Rachegefühle, Neid und Missgunst geweckt sind, offene Feindschaften sich zeigen, darf nicht vergessen werden, dass daneben auch Loyalität unter Geschwistern sich entwickelt – vor allem dann, wenn Kinder ihre Eltern als fürsorgliche, verständnisvolle und authentische Erwachsene erleben. Hilfreich ist es für Geschwister, wenn sie erfahren, dass Mutter oder Vater sie nicht als böse und missratene Kinder verurteilen, wenn im Kinderzimmer wieder mal heftig gestritten wird. Es ist eine Täuschung zu meinen, dass das Streiten den Kindern immer Spaß macht. Oft erschrecken sie selber vor der Wucht ihrer Aggressionen und nehmen sich vor, zurückhaltender zu sein.

Manche Familien pflegen die Tugend der offenen Aussprache. Ungeschminkt wird erzählt, wie weh es tut, von den Geschwistern ausgeschlossen oder ausgelacht zu werden, die Treppe herunter geschubst oder geschlagen zu werden. Endlich kann die immer fürsorgliche Schwester gestehen, wie oft sie Angst davor hat, dass die großen Geschwister wieder zuschlagen.

Solche Gespräche tragen dazu bei, dass die Strukturen der Geschwisterbeziehungen und die Position der Mutter und des Vaters klar werden. Das stärkt das Selbstvertrauen der Kinder untereinander, und allmählich entsteht ein Gefühl für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen Familienglieder.

Unangenehme Fragen zulassen

Wer das Verhalten seiner Kinder beobachtet und hinterfragt, kommt nicht umhin, sich einen Spiegel vorzuhalten und zu fragen: “Hand aufs Herz, wie hältst du es mit den Streitereien? Ist es dir nicht manchmal recht, wenn ein Kind vom andern einen Denkzettel bekommt? Und was machst du mit deiner Wut? Gegen welches Kind richten sich derzeit deine Abneigungen? Wen könntest du manchmal am liebsten am die Wand klatschen? Bist du nicht oft nur nach außen ein ruhiger Erwachsener, in dem es brodelt und kocht, aber nicht überlaufen darf?”

Eine Mutter erzählt: “Ich habe mich dabei ertappt, dass es mir richtig gefallen hat, als meine große Tochter von der kleinen verbal sehr geschickt attackiert wurde. Irgendwann habe ich aber gemerkt, das war wie früher bei uns zuhause. Ich kam nie gegen meine große Schwester an. Aber heute schafft es die kleine, der großen wegen ihrer Überheblichkeit in den Hintern zu treten.” Diese Mutter identifiziert sich mit einem der streitenden Kinder und trägt auf diese Weise zu einer Verstärkung bei, denn ihre unausgesprochene Duldung heizt den Kampf der Schwestern immer wieder an.

Gewalt gegen kranke oder behinderte Geschwister

Kinder, die mit chronisch kranken oder anderweitig gehandicapten Geschwistern aufwachsen, lernen von klein auf, Rücksicht zu nehmen. “Meist sind die ersten Jahre eines Problemkindes die schwierigsten. Arztbesuche, Beratungsgespräche, Therapien reißen in den Zeithaushalt der Familie große Löcher. Das problemlose Kind passt sich scheinbar widerspruchslos ein, schielt im Verborgenen jedoch eifersüchtig auf das Geschwister, das so viel Zeit mit der Mutter ungeteilt verbringen darf.” (1) Wenn die Anstrengungen und Leistungen der gesunden Kinder nicht gewürdigt werden, fühlen sie sich übersehen und vergessen, denn alle Augen schauen nur nach dem gehandicapten Geschwister. Wohin mit der Wut auf den behinderten Bruder?

Im Schwimmbad beobachtet ein Mädchen, wie drei Kinder ihren behinderten Bruder nachäffen und seine Bewegungen karikieren. Der Junge spürt die aggressive Energie und fängt zu weinen an, blickt hilfesuchend zu seiner Schwester. Die geht weg, schämt sich seiner und will mit ihm nichts zu tun haben. Eine ältere Frau weist die Burschen zurecht und wendet sich dem behinderten Jungen zu.

“Viele Geschwister auffälliger Kinder leben im Kampf mit Schuldgefühlen.” (2) Für sie ist es besonders wichtig, aussprechen zu dürfen, was sie stört, denn im Alltag der Familie ist das Sorgenkind ein Rivale wie jedes andere Geschwister, allerdings gelten Sonderregelungen, die Eifersucht und Feindseligkeit wecken können. Wenn es zu gewalttätigen Äußerungen des gehandicapten Kindes kommt, ist es wichtig, genau hinzuschauen, um das normal sich entwickelnde Kind nicht vorschnell als Verursacher an den Pranger zu stellen.

Geschwisterkonflikte im Traum

Gewalt unter Geschwistern tobt sich in vielfältigen Bereichen des Lebens aus, auch in den Träumen der Kinder. In ihnen drücken sich ihre alltäglichen Erlebnisse aus, werden Konflikte verarbeitet und gelöst. Kinder haben es sehr gerne, wenn sie von Zeit zu Zeit ihre Träume erzählen dürfen. Es ist eine sehr einfache und wirkungsvolle Möglichkeit, das Aggressionspotenzial unter Geschwistern zu entschärfen.

Ron lebt im Schatten einer älteren Schwester, die eine sehr gute Schülerin ist, während er Lernstörungen hat. Jeden Tag gibt es Reibereien zwischen ihnen. Die Schwester zieht ihn an den Haaren, und der Junge würde seiner Schwester am liebsten den Hals umdrehen. Was in der Realität nicht möglich ist, kann in der Welt des Traums ganz anders aussehen, denn der Junge träumt, die ganze Familie sei in der Dinosaurierwelt gewesen und dort habe ein Dino seiner Schwester den Kopf abgerissen. Die Familie rannte weg und ließ die kopflose Schwester liegen. Am Ende meint er: “Ich denk dann, es war echt. Es kann ja auch echt passiert sein.” Endlich hat er die Schwester los und hat die Eltern ganz für sich allein.

“Für Ron brachte die Beseitigung der Schwester im Traum eine Entspannung. Seine nervige Unrast war an diesem Tag gewichen. Am Nachmittag ging er zum Frisör, ließ sich fast eine Glatze schneiden, um sich auf diese Weise vor weiteren Angriffen zu schützen.” (3)

Ausblick

Die Erfahrung von Gewalt unter Geschwistern hat häufig eine Langzeitwirkung. Deshalb sind erst die älter bzw. erwachsen gewordenen Brüder und Schwestern in der Lage, darüber zu sprechen, um diesen Ereignissen einen Platz in ihrer Kindheitsgeschichte zu geben.

Literatur

  • Ennulat, G.: Wenn Kinder anders sind – Unterstützung für Mütter in Not, Kösel Verlag 2002 (Zitat 1 und 2)
  • Ennulat, G.: Ich will dir meinen Traum erzählen – mit Kindern über ihre Träume sprechen, Königsfurt Verlag 2001 (Zitat 3)
  • Guggenbühl, A.: Die unheimliche Faszination der Gewalt, dtv 1490
  • Bank/Kahn: Geschwisterbindung, dtv 1690

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Gertrud Ennulat, Pädagogin, freie Autorin (verstorben 2008)

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Erstellt am 1. September 2003, zuletzt geändert am 5. August 2010

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