Die Rolle der Großeltern im Familienverband – und ihre Alternativen

Volker Amrhein

Im Folgenden werden Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Gerontologie vorgestellt, die sich der Großelternrolle widmen, im Anschluss daran Unterschiede zwischen familialen und außerfamilialen Angeboten hervorgehoben.

Großvaters Segen

Ich möchte mit einer kleinen Geschichte beginnen, die der Wiener Soziologe Leopold Rosenmayr anlässlich eines Vortrages in Potsdam erzählt hat (1). Er sprach von einer Erinnerung an seine frühe Kindheit, die er mit dem Großvater verband. Es muss nicht lange vor dessen Tod gewesen sein. Bei einem Besuch in seinem Haus forderte er den Enkel auf, mit hinaus in den Garten zu gehen. Er wolle ihm seinen Segen geben (War es ein Sonntag? Lag ein leichter Nebel auf den Wiesen?). Der Enkel kniete nieder, und der Großvater sprach Worte, deren Sinn unverständlich war und deren Wortlaut nicht in Erinnerung blieb. Aber die Szene besaß eine innere Kraft und Bewegung, die noch in der Nacherzählung des Erwachsenen einen fernen Schimmer von der Intensität des Augenblicks aufkommen ließ.

Ich stellte mir dabei keinen “lieben Opi” vor, sondern einen Patriarchen, den nicht unbedingt eine enge oder vertraute Beziehung mit dem Enkel verband. Vermutlich dachte er bei der Weitergabe des Segens an ganz andere Dinge, als wir Zeitgenossen der Post- oder Zweiten Moderne annehmen würden. Denn wir sehen uns hier konfrontiert mit einer Tradition, in der alte Fundamente aufleuchten, die in früheren Zeiten verlässliche, aber starre Rahmungen der Generationenbeziehungen darstellten.

Jenseits einer Deutung war das, was sich mitteilte, der tiefe Ernst der Szene. Er rührt wohl her von diesem manifest im Brauchtum des Landes verankerten Ritual, das über den Graben der Zeit hinweg das Alter und die Jugend miteinander verband. Ein Versprechen klingt da an, das jede nachwachsende Generation nötig hat: das Versprechen einer Zukunft.

Rollenverständnis im Wandel

Und heute? Den in einer fest gefügten Ordnung verankerten Verhältnissen von damals sind die Aushandlungsprozesse der Gegenwart gefolgt. Der Reformpädagoge Otto Herz skizzierte im Rahmen einer Arbeitsgruppe im vergangenen Jahr verschiedene Bezugssysteme, die sich in unserer Gegenwart durchdringen (2):

Tradition: Die Verhaltensmuster stehen fest.
Moderne: Es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr. Alles ist eine Frage von Aushandlungsprozessen.
Postmoderne: Anything goes. Die Handlungsrahmen sind ausgeweitet.

Das Resümee von Otto Herz lautete: Im Übergang von der Moderne zur Postmoderne werden Dialoge zwischen den Generationen enorm wichtig.

Ob diese notwendigerweise auf der Grundlage von Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden oder ob nicht mit der Entstehung “ausgeweiteter Handlungsrahmen” die Exklusivität familialer Bindungen eine Relativierung erfährt, diese Frage stellt sich mir (als Verantwortlichem einer Serviceeinrichtung generationsübergreifender Projektarbeit) angesichts der Rolle, die Großeltern in der Gegenwart spielen. Denn die Lage ist nicht mehr so übersichtlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gibt vielfältige Angebote, die ältere Menschen (und eben beileibe nicht mehr nur die eigenen Großeltern) Kindern und Jugendlichen heute offerieren. Ihre Rolle und Bedeutung in einer Gesellschaft, in der Jugend in eine Minderheitenlage gerät, ist nicht mehr per se durch familiäre Beziehungen definiert. Davon zeugt nicht allein die Fülle der Projekte, die den Angeboten der leiblichen Großeltern Konkurrenz macht.

In einer Zeit, da Kinder/ Eltern und Großeltern gewöhnlich voneinander entfernt leben und die “multilokale Mehrgenerationenfamilie” das Bild bestimmt, sind außerfamiliale Hilfsdienste mehr und mehr eine Notwendigkeit. Erfreulicherweise entsprechen sie auch einem gesellschaftlichen Trend, der in der Neudefinition und Aufwertung des freiwilligen Engagements seine Wurzeln hat (3).

Forschungsergebnisse

Der Schweizer Gerontologe Francois Höpflinger stellte kürzlich einen Artikel ins Internet, der verschiedene Studien über Großeltern und Generationenbeziehungen zitiert, die Großelternstile untersuchten (4): “Im Rahmen einer multidimensionalen Konzeptualisierung der Bedeutung von Großelternschaft identifizierte H. Kivnick (The Meaning of Grandparenthood, Ann Harbor: UMI Research Press 1982) in ihren Tiefeninterviews mit 286 Großeltern fünf unterschiedliche Bedeutungsdimensionen von Großelternschaf

  1. Zentralität (centrality) der Großelternrolle für das Leben in dieser Lebensphase.
  2. Wert des Alters (valued elder): Großelternschaft wird als wertvolle und sozial anerkannte Altersrolle interpretiert (wobei hier an die Idee der weisen Alten angeknüpft wird).
  3. Unsterblichkeit durch Generationenabfolge (immortality through clan): Großelternschaft ist der sichtbare Beweis der familialen Kontinuität und des persönlichen Weiterlebens der Nachkommen.
  4. Wiedererleben der persönlichen Vergangenheit (reinvolvement with personal past): Großelternschaft erlaubt durch den Kontakt mit Enkelkindern, an eigenen Erfahrungen (Kindheit, eigene Elternschaft) anzuknüpfen.
  5. Nachsichtigkeit (indulgence): Großelternschaft ist eine Rolle, die gegenüber den Enkeln eine hohe Toleranz, Nachsichtigkeit oder sogar Verwöhnung erlaubt.” (5)

Wie verhalten sich diese Orientierungen zu Angeboten von außen? Zunächst möchte ich auf einige Differenzen zwischen familialen und außerfamilialen Angeboten hinweisen. Zunächst: es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen den Aktivitäten intergenerationeller Projekte und jenen, die gegebenenfalls von Enkeln und Großeltern gewählt werden. Aber es besteht eine Differenz hinsichtlich der Beziehungen, die im ersten Fall allmählich aufgebaut werden, während sie im zweiten naturwüchsig gegeben sind (oder doch sein sollten). Das dürfte mehr Chance als Nachteil sein. Aber es verweist auf eine Ausgangsbasis, die andere Anforderungen an die Beteiligten stellt.

Die eigenen Großeltern werden mit großer Selbstverständlichkeit gefordert, und ihre Unterstützung wird vorausgesetzt. In Jung/Alt-Projekten stehen der Aufbau von Freundschaften und/oder gemeinsamen Anliegen im Vordergrund. Selbstverständlich ist hier, dass auch von den beteiligten Kindern und Jugendlichen ein eigener Beitrag erwartet wird. Während Kinder und Enkel ihre Verwandten “automatisch lieben” (6), müssen Wahl-Enkel und Wahl-Großeltern ihre Zuneigung im gemeinsamen Tun gewissermaßen erst “entdecken” .

Ein weiterer wichtiger Unterschied dürfte sein, dass Großeltern die Frage nach der eigenen Herkunft beantworten, nach dem persönlichen Hintergrund, der Familiengeschichte. Sie geben ein Wissen weiter, das exklusiven Charakter beanspruchen kann, da es nirgendwo sonst erhältlich ist. Sie wissen Geschichten über die eigenen Eltern zu erzählen, die man von diesen vermutlich nie erfahren würde. Und sie bilden möglicherweise ein Regulativ oder eine Kompensation an, wenn es darum geht, Forderungen der Eltern zu umgehen und eigenes durchzusetzen.

Dabei spielt eine zentrale Rolle, dass Kinder in Zeiten der Pubertät und der Selbstfindung unbequeme Fragen nach dem warum und wozu vieler Handlungsweisen stellen. Eltern, die in der Regel durch berufliche Einbindung und andere normative Entscheidungen (zu denen auch die für die Familie zählt) mehr Kraft und Intensität auf das Ausfüllen sozialer Rollen verwenden, sind für die Jugendlichen viel “härtere” Partner als die Großeltern, die neben der Entlastung von beruflicher Tätigkeit auch ein entspannteres Verhältnis gegenüber den an sie herangetragenen Rollenerwartungen haben dürften.

Die Diskrepanz zwischen Eltern und Kindern, die sich hier zugunsten der Großeltern und Enkel auftut, öffnet Spielräume für diese. Sie relativiert Ansprüche der Eltern und öffnet ein Feld, in dem sich drei Zeitebenen durchdringen:

  • die idealiter gesetzte Gegenwartsorientierung der Eltern (NUN),
  • die Vergangenheitsorientierung der Großeltern (NUN NICHT MEHR) und
  • die Zukunftsorientierung der Kinder (NUN NOCH NICHT) (7).

Demographische Entwicklung

Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in den kommenden Jahren/ Jahrzehnten in eine Minderheitenlage geraten, wird das Verhältnis zu den Großeltern auf besondere Weise beeinflussen. Einem Jugendlichen unter 20 werden 6 Erwachsene gegenüberstehen, von denen beinahe die Hälfte älter als 60 Jahre alt sein wird. “Der Jugend gehört die Zukunft” , schreibt Prof. Karl Otto Hondrich in einem Artikel (8). Da ihre kleine Zahl sie in den Stand einer “bedrohten Art” erhebt, wird sich die Jugend künftig vor Offerten seitens der Erwachsenen kaum retten können.

Die von Hondrich angeführte Tatsache, dass Minderheiten auf Mehrheiten in der Regel stärker bezogen sind als umgekehrt, dürfte dadurch ausgehebelt werden, dass die Jungen das Herzstück der Gesellschaft bilden. Es ist eher zu erwarten, dass sie sich “ökologische Nischen” suchen, um ihr Anders-Sein zu zelebrieren. Die Berliner Love-Parade weist bereits in diese Richtung (wenn sie, zugegeben, auch wenig mit Ökologie zu tun hat).

Potentielle Wahl-Großeltern werden auf einem unübersehbaren Markt um Kontakt zu Jugendlichen werben. Das exklusive Beziehungsangebot der eigenen Großeltern wird durch eine Fülle attraktiver Angebote ergänzt werden, die sich bereits heute in generationsübergreifender Projektarbeit und Szenarien des Lebenslangen Lernens, Konzepten lernender Regionen oder auch neuen Kommunikations-Entwürfen (vor dem Hintergrund alternder Belegschaften) von Unternehmen und Dienstleistungsbetrieben ankündigen (9).

Das hat nicht allein mit der großen Anziehungskraft der Jugend zu tun, sondern auch damit, dass die ältere Generation viel zu geben hat. Nie vorher war sie so gut ausgebildet, bei so guter Gesundheit, besser qualifiziert und wirtschaftlich unabhängiger als heute. Nie vorher bestand die Notwendigkeit, ihr für ein freiwilliges Engagement attraktivere Angebote machen zu müssen als heute, bzw. Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie eigene Vorstellungen verwirklichen kann.

Das Gesetz der Oma

Junge Familien sind, zumal wenn beide Elternteile berufstätig bleiben wollen, auf die Hilfestellung durch die weiteren Familienmitglieder angewiesen. Manchmal wird der Mangel an Großeltern vor Ort durch helfende Nachbarschaften ausgeglichen (jedoch nie vollständig kompensiert). Da die modernen Arbeitsverhältnisse mit ihrem Zwang zur Mobilität (nur wer bereit ist, dem Arbeitsplatz nachzureisen, behält ihn) keine Rücksicht auf gewachsene Strukturen oder Ligaturen nehmen, bleibt den gestressten Eltern im Grunde nur die Flucht nach vorn – und das heißt, Hilfsangebote außerfamilialer Art anzunehmen.

Als Anfang der 1990-er Jahre die “Initiative zur Verbesserung des Dialogs zwischen den Generationen” des BMFSFJ von sich reden machte, wurden eine ganze Reihe von Projektansätzen und Initiativen entwickelt, die sich auf vielfältige Weise um einen Austausch, um Hilfestellungen, Wissens- und Erfahrungstransfers zwischen Jung und Alt bemühen. Es entstanden Patenschaften, Mentorate, Oma-Hilfsdienste, nachbarschaftliche Serviceeinrichtungen, Frauenprojekte und Präventionsräte, Mediationsansätze und Partizipationsmodelle, die ein sehr viel positiveres Bild von generationsübergreifender Solidarität als die bundesdeutschen Periodika und Tageszeitungen jener Zeit zeichnen (häufige Headline: Droht uns ein Krieg der Generationen?).

Was tun die Großeltern für die Familie? Die finanziellen Transfers, um beim Geld zu beginnen, sind nicht unerheblich. Eine vom BMFSFJ 1998 in Auftrag gegebene Studie ( “Alterssurvey” ) förderte zutage, dass mindestens 10% der Renten als Unterstützung der Enkel oder der eigenen Kinder an die jüngeren Generationen zurückfließen. Großeltern haben Zeit – eine Ressource, die sie für junge Menschen zu idealen Ansprechpartnern macht.

Was tun die Älteren für die Gesellschaft? Sie sind Verbündete, wenn es um die Bereitstellung von billigem Wohnraum geht (Stichwort “homesharing” ) (10). Senioren/innen bieten durch Hilfsangebote Unterstützung für die Kinderbetreuung, für nachträgliche Qualifizierung, für Expertenauskünfte (SeniorenExpertService) im In- und Ausland und bei der Existenzgründung. Sie verhelfen Jugendlichen/ Schüler/innen durch Hilfestellung beim Aufbau von Schülerfirmen zu Einnahmen, die der schulischen Ausstattung, der Finanzierung von Ferienreisen oder auch der beruflichen Orientierung zugute kommen.

Senioren/innen sind Partner bei der Orientierung partizipativer Ansätze im Gemeinwesen und beim bürgerschaftlichen Engagement (11). Sie vermitteln Wissen und Kenntnisse, die mit ihnen auszusterben drohen, und sie setzten sich gemeinsam mit jungen Leuten für den Erhalt der Umwelt ein (12). Sie sind wie keine andere Bevölkerungsgruppe in der Lage, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen zu generieren und zu verwirklichen, und sie geben mit ihrem Engagement und Einsatz Anstöße für innovative Arbeitsweisen sowie für Verkehrs- und Umgangsformen im persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft als ganzer (z.B. in Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Modellprogrammen der EU etc.) (13).

Die Schwierigkeiten, die andere mit Senioren/innen haben, weil sie eigene Vorstellungen über die Nutzung der ihnen verfügbaren Zeit haben oder weil sie (bei grundsätzlicher Offenheit) hin und wieder auch einmal taub sind für die Notwendigkeiten oder Erfordernisse hauptamtlicher Mitarbeiter/innen – das sind Nebengeräusche am Rande und gewissermaßen Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins Älterer im Rahmen ihres Engagements.

Bei einer unserer Veranstaltungen für die Projekte der norddeutschen Bundesländer trat eine alte Dame aus Hamburg auf, die empört überzogene Erwartungen an freiwillig tätige Altersgenossen/innen zurückwies: “Eine Oma lässt sich nicht vereinnahmen! Sie hat ihr eigenes Gesetz!”

Das “Gesetz der Oma” wird unsere Gesellschaft künftig vor neue Herausforderungen stellen. Wir sollten darauf vorbereitet sein.
 

Literatur/ Links

(1) vgl. auch: Leopold Rosenmayr: Streit der Generationen? Lebensphasen und Altersbilder im Umbruch. Wien: Picus 1993

(2) siehe auch: Generationendialog; Rubrik Regionalgruppentreffen, 4. Treffen NRW/Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, AG Otto Herz

(3) vgl. hierzu: Enquete-Kommission “Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements” des Deutschen Bundestages, Schriftenreihe Band 4. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 160 ff.

(4) vgl. Francois Höpflinger: “Großelternschaft und Generationenbeziehungen” . Intergeneration; Rubrik Artikel; 28.04.2003, S. 1-11

(5) zit. nach Francois Höpflinger, a.a.O., S. 7 von 11

(6) Liza Minelli in “Cabaret”

(7) Prof. Dr. Ludger Veelken (Universität Dortmund) formulierte diese Spannung zwischen den Generationen (und die damit verbundenen Haltungen) in einem Tagungsbeitrag für die 2. Bildungskonferenz der Lernenden Region Borken am 2. Okt. 2002. Er verwies auf ein indisches Konzept des Lebenslaufs, in dem die Zeitspannen, die Menschen für das Erlernen und Verkörpern ihrer jeweiligen sozialen Rollen (vom Kind bis zum Greis) benötigen, über vier Entwicklungsbögen von jeweils 25 Jahren verlaufen. Vgl. Netzwerk-Ampel; Rubrik “Aktuelles” , 2. Bildungskonferenz (download), Artikel “Die Stufen des Lebens – Generationsübergreifendes Lernen”

(8) Karl Otto Hondrich: Die Verteilung zwischen Jung und Alt. FAZ v. 13.02.1999, Nr. 37, Beilage “Bilder und Zeiten” , I

(9) Vgl. auch Ergebnisse der VDMA Tagung v. 27.6.03 zur Demographie-Initiative des BMBF, Demotrans; VDMA

(10) siehe auch: Homesharing

(11) vgl. Bürgerengagement

(12) vgl. Generationennetzwerk

(13) vgl. Generationendialog; Rubrik Datenbank
 

Autor

Volker Amrhein
Projektebüro “Dialog der Generationen”
Fehrbelliner Str. 92
10119 Berlin

Tel.: 030/44383475
Fax: 030/44383452

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Erstellt am 21. Juli 2003, zuletzt geändert am 15. Februar 2010

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