Kinder achten – nicht manipulieren

Interview der Zeitschrift emotion mit dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul
Jesper Juul
 

Loslassen und trotzdem leiten: Das ist laut dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul ein entscheidender Baustein für gute Erziehung. Weil das keine leichte Aufgabe ist, hat er Familylab gegründet.

emotion: Herr Juul, wenn man Ihr neues Buch liest, hat man den Eindruck, als würden Familienmitglieder generell achtlos miteinander umgehen.

Jesper Juul: In den letzten Jahren hat man das Familienleben leider auf die Kindererziehung reduziert. Und darin wollen wir immer besser werden. Aber Kindererziehung ist kein Leistungssport, sondern eine Konsequenz der Art und Weise, wie man in einer Familie miteinander umgeht und zusammenlebt.

emotion: Warum sind Eltern oft so ratlos?

Juul: Es hat sich viel verändert in den letzten Jahren. Meine Eltern glaubten noch, genau zu wissen, wie sie mit uns umgehen sollten. Weil man eben mit Kindern so umging wie alle anderen Eltern auch. Es gab Unterstützung durch einen gesellschaftlichen Konsens. Die nächste Generation hatte es ebenfalls nicht allzu schwer: Wir wollten genau das Gegenteil von unseren Eltern machen.

emotion: Unsere Eltern hatten immer recht. Das war einfach so. Sie sind gar nicht darauf gekommen, dass sie Fehler machen könnten. Das ist heute anders.

Juul: Und das ist auch gut. Jeder kann für sich selbst entscheiden, was er seinem Kind erlaubt oder nicht. Es macht die Sache aber nicht einfacher. Das Ziel der Kindererziehung hat sich fundamental geändert. Meine Eltern fanden es wichtig, dass Kinder lernen, wie man sich benimmt. Kinder wurden geformt. Seit Anfang der 60er-Jahre sagt man: Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten, das gilt es zu respektieren. Es ist also ein ganz anderer Job als früher, Eltern zu sein. Durch die Forschung und die Pädagogik wissen wir viel mehr über Kinder, aber wir wissen überhaupt nicht viel über diesen neuen Job der Elternschaft. Wir wissen nur: Die alten Techniken – Strafen, Belohnungen – haben ausgedient. Auch in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen.

emotion: Inwiefern?

Juul: Früher waren die Verhältnisse klar, heute sind sie es nicht mehr. Das ist eigentlich wunderbar, aber wir kennen uns damit nicht aus. Meine erste Ehe dauerte 18 Jahre, seit 16 Jahren bin ich zum zweiten Mal verheiratet. Und ich übe jeden Tag. Frage mich: Wie schaffen wir den Dialog? Dialog findet nur statt, wenn beide sich ausdrücken. Und wir haben keine Tradition im Dialog, keine Erfahrung.

emotion: Weil der Mann der Frau und die Frau den Kindern sagte, was zu tun war?

Juul: Ja. Heute ist das fast ins Gegenteil umgeschlagen. Eltern benehmen sich ihren Kindern gegenüber wie Journalisten. Sie stellen nur Fragen: Wie war die Schule? Wie war der Kindergarten? Möchtest du Toast mit Schinken oder Käse? Sollen wir in den Ferien nach Sizilien fahren? Fragen, Fragen, Fragen. So entsteht kein Dialog.

emotion: Ich dachte, das wäre Dialog: Der eine fragt, der andere antwortet.

Juul: Kinder antworten auf die Frage nach der Schule: gut. Auf die Frage nach dem Toast: Schinken. Ist das ein Dialog? Nein, denn der Fragende stellt sich nicht zur Verfügung, macht sich nicht verletzlich, sondern versteckt sich hinter den Fragen, wie jemand, der ein Interview führt. Es geht nur um den anderen, der muss sich bekennen. Aber ein Kind kann doch noch gar nicht wissen, ob es nach Sizilien oder nach Sibirien will. Das ist keine Gleichwürdigkeit.

emotion: Sie meinen Gleichberechtigung?

Juul: Nein, das wäre genau das falsche Wort. Es geht nicht um die gleichen Rechte, sondern um die gleiche Würde. Wenn man einen anderen als gleichwürdig empfindet, erkennt man ihn an.

emotion: Können Sie ein Beispiel geben?

Juul: Wenn ein Baby nichts mehr essen möchte, fangen viele Eltern an, Spiele zu spielen, machen Hubschraubergeräusche und sagen: einen Löffel für Mami, einen für Papi … Sie versuchen, ihr Kind zu manipulieren. Das ist keine Anerkennung, sondern Missachtung. Stattdessen könnten sie freundlich sagen: Du bist also satt. Dann würde das Kind lernen, dass das Gefühl, das es nach dem Essen verspürt, Sattsein ist. Und dass es okay ist, satt zu sein. Eine Kleinigkeit, aber ein gültiges Beispiel für tausende von Situationen. Genau so baut man Selbstwertgefühl auf. Früher wurden Kinder gezwungen, aufzuessen. Sie mussten die Hände auf den Tisch legen, damit sie das Essen nicht verschwinden lassen konnten. Wir haben die grundsätzlichen Missverständnisse nicht ausgeräumt, sondern sie nur modernisiert.

emotion: Wir erkennen das Kind also noch immer nicht als einen Menschen mit eigenen Bedürfnissen an.

Juul: Wir missbrauchen unsere Macht immer noch. Wir meinen zu wissen, was ein anderer braucht oder wie er ist. Wir definieren den anderen. Jemand, der ein schlechtes Selbstwertgefühl hat, lässt sich leicht definieren und verliert sich möglicherweise dabei, weil er selbst nicht mehr weiß, wie er eigentlich ist. Kinder wissen noch gar nicht, wie sie sind. Zu meinen, man wisse, wie jemand ist, ist das Gegenteil von Interesse am anderen. Das ist es, was unsere Eltern gemacht haben, ohne jemals darüber nachzudenken. Und das hat dazu geführt, dass ihre Kinder kein Selbstwertgefühl entwickeln konnten.

emotion: Mangelt es uns denn an Selbstwertgefühl?

Juul: Die meisten Erwachsenen in der westlichen Welt haben ein schlechtes Selbstbewusstsein. Ein fruchtbarer Boden für Süchte, krankhaften Perfektionismus und den Glauben daran, mit plastischer Chirurgie einem Ideal entsprechen zu können. Das trifft übrigens besonders auf Frauen zu. Es ist, als hätten sie einen roten Knopf am Rücken, auf dem steht: Schuldgefühl. Drückt man diesen Knopf, kann man alles mit ihnen machen. So ist das Leben für die Menschen hier und vor allem für die Frauen zu einer Art Wettbewerb geworden. Sie spielen alle möglichen Rollen. Und sie sind unsicher, weil sie nur Rollen spielen. Die deutschen Frauen sind so ungeheuer selbstkritisch, sie haben ständig das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Obwohl sie wunderschön sind, tolle Mütter, toll im Job. Nur authentisch sind sie nicht.

emotion: Wie wäre man authentisch?

Juul: Wenn man zum Beispiel akzeptieren würde, dass man Fehler macht. Die besten Eltern, die ich kenne, machen 20 Fehler am Tag. Auch 30 oder 40 Fehler sind okay, bei über 50 Fehlern braucht man vielleicht ein bisschen Begleitung.

emotion: Man möchte natürlich nicht so gern Fehler machen.

Juul: Man kann doch nicht alles richtig machen. Das ist unmöglich.

emotion: Aber wir wissen eben, wie prägend die frühen Kindheitsjahre sind. Diese Verantwortung verunsichert.

Juul: Klar. Aber Eltern sind keine Pädagogen. Sie erziehen nur.

emotion: Wie kann man sich denn helfen, wenn man nicht weiterweiß?

Juul: Man muss sich auf Werte besinnen. Aber die alten gelten nicht mehr. Wenn ich früher ein Eis wollte, konnten meine Eltern noch sagen: Wir können uns nur ein Eis im Monat leisten. Das war ein verlässlicher Wert. Das muss heute kaum noch einer sagen. Wir müssen die Grenzen in uns entdecken. Und zwar jeder Einzelne seine ganz persönlichen, denn die Nachbarn machen es anders als wir, und die Kirche hält uns auch nicht mehr zusammen.

emotion: Aber man hat Erwartungen an Kinder. Erzieht man sie nicht dementsprechend?

Juul: Das ist ein wichtiger Punkt, ja. Früher war auch das einfacher, denn da hinterfragte niemand die Richtigkeit der eigenen Erwartungen. Heute betont man – und das ist auch richtig so -, dass jeder Mensch ein Individuum ist und nicht in eine Schablone gepresst werden soll. Jede Erwartung kann auch einengend sein, völlig unpassend für den anderen. Damit meine ich jetzt nicht Essmanieren, sondern Kleidung, Neigungen, Talente und so weiter. Es wird noch ein paar Generationen dauern, bis wir es schaffen, unsere Erwartungen so herunterzuschrauben, dass wir loslassen und trotzdem leiten können.

emotion: Machen wir denn nicht wenigstens ein paar Dinge einigermaßen gut bei der Erziehung unserer Kinder?

Juul: Wir haben uns immerhin mit dem Potenzial von Kindern befasst: Kreativität, Intelligenz, Motorik. Mit der Frage: Wie muss man Kinder sich entwickeln lassen? Wir haben nur übersehen, dass es für Eltern nicht reicht, ihre Kinder zu fördern. Eltern müssen wie Leuchttürme sein, die Gefahren anzeigen. Sie müssen Signale geben, verlässlich und klar sein. Dann können die Kinder lernen, wie man navigiert. Nun ist in manchen Familien in den letzten Jahren das Gegenteil passiert. Die Kinder sind die, die auf dem Fahrersitz sitzen, und das ist furchtbar. Diese Kinder können sich nicht entwickeln, sie werden krank davon – und die Eltern natürlich auch.

emotion: Wie ist es dazu gekommen?

Juul: Es ist heute keine Notwendigkeit mehr, Kinder zu bekommen, sondern ein Luxus. Kinder sind sinnstiftend. Daraus folgt irgendwie, so absurd das auch ist, dass Eltern versuchen, ihren Kindern schlechte Erfahrungen zu ersparen. Sie schützen sie davor anzuecken, Probleme zu haben, Schmerz zu fühlen. Die Eltern reduzieren sich immer mehr zum Personal.

emotion: Wann müssten die Alarmglocken bei Eltern klingeln?

Juul: Wenn sie sich nur noch wie ein Cateringunternehmen fühlen. Wenn sie so etwas wie andauernde Selbstaufgabe empfinden. In den ersten zwei, drei Jahren ist dem Kind noch nichts anzumerken, alles läuft rund. Aber Kinder, die keine Grenzen und nichts Negatives erfahren, können nicht lernen, Mitgefühl zu entwickeln. Nach ein paar Jahren haben solche Kinder ihre Fähigkeit zur Empathie verloren. Sie können sich nicht sozial orientieren, denn sie waren ja nie mit richtigen Menschen zusammen, sondern mit Schauspielern.

emotion: Das hört sich aber so an, als wäre früher alles besser gewesen.

Juul: Nein, nein, nein. Ich sage nur, was jetzt nicht richtig läuft. Die Eltern von früher zahlen heute oft einen hohen Preis für ihre Erziehung: Viele von ihnen haben keinen richtigen Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern, die nur dann nach Hause kommen, wenn sie kommen müssen, an Ostern oder Weihnachten zum Beispiel. Aber sie fühlen sich dort nicht wohl. Diese Eltern denken jetzt darüber nach, ob sie vielleicht Fehler gemacht haben. Heute fürchtet man sich schon davor, Fehler zu machen, bevor man angefangen hat zu handeln. Und fragt verzweifelt nach Techniken. In Schweden beispielsweise ist das Hauptthema: Wie kann man Kinder zwischen eineinhalb und drei Jahren zum Schlafen bringen?

emotion: In Deutschland gibt es ein Buch: “Jedes Kind kann schlafen lernen” .

Juul: Natürlich kann jedes Kind schlafen lernen. Sehen Sie? Es sind kleine, alltägliche Fragen, die die Eltern bewegen. Fragen, die sich gar nicht so anhören, als würden sie genug Stoff bieten, um ganze Bücher darüber zu schreiben. Aber es steckt ein großer Konflikt dahinter, und der ist auf jede klitzekleine Situation übertragbar. Es geht darum: Wie können Eltern ihre Führungsposition behaupten, ohne das Kind zu verletzen oder zu kränken? Niemand hat sich vorher damit beschäftigt. Es geht um mehr als um Management, es geht um Leadership.

emotion: In der Industrie werden in Seminaren über Führungsqualitäten Techniken und Strategien vermittelt.

Juul: Strategien funktionieren nur für eine begrenzte Zeit. Und zwischen Eltern und Kindern ist die Zeit zu lang. Wenn man auf Techniken baut, wird die Beziehung zwischen Eltern und Kindern darunter leiden, so wie auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen darunter leiden.

emotion: Fassen wir zusammen: Eltern müssen vorsichtig sein, wenn sie Macht ausüben, aber gleichzeitig eine Führungsrolle übernehmen.

Juul: Erwachsene haben einfach Macht: emotional, finanziell, sozial, körperlich. Aber man braucht neue und klare Wertmaßstäbe, die einem dabei helfen, gute Entscheidungen zu treffen und Macht zu haben, ohne sie auszunutzen. Wenn die Beziehung von Elternteilen zueinander stabil und tragfähig ist, kann auch die Beziehung zu den Kindern so sein.

emotion: Welche Werte sind es, die Beziehungen tragfähig und stabil machen?

Juul: Es sind Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität, Verantwortung. Diese Werte vorzuleben – was schwierig genug ist – ist die wirkungsvollste Erziehung. Und dabei zu wissen und zu akzeptieren, dass man nicht perfekt sein kann. Das ist Authentizität.
 

FAMILYLAB WOFÜR STEHT DER NAME?

Familylab ist eine internationale Organisation, die auf der Basis der Arbeit des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul Beratungen zur Kompetenzstärkung von Eltern vermittelt. Dabei geht es nicht um eine Elternausbildung. Familylab fordert dazu auf, Kindererziehung als lebenslangen, in das Familienleben eingebetteten Prozess zu sehen.

Wann finden Kurse statt?

2007 werden im gesamten Bundesgebiet, in Österreich und Südtirol Kurse für Eltern angeboten: 3 Abende à ca. 3 Stunden, (100 Euro pro Person /180 Euro pro Paar). Die Themen: Familienleben mit Vorschulkindern, Schulkindern, Teenagern, Ein-Eltern-Familie, Patchwork-Familie, Stieffamilie, gemischte Ehen, Familien in Scheidung. FAMILYLAB.

Autor

JESPER JUUL dänischer Familientherapeut und Gründer von “familylab” , wurde durch Seminare, Vorträge und Bücher international bekannt. Sein Buch “Was Familien trägt” ist bei Kösel erschienen und kostet 16,95 Euro.

Website

Text von Gabriela Herpell
 

Quelle

»emotion« Heft 01/2007

Erstellt am 9. Februar 2007, zuletzt geändert am 16. April 2010

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
Logo: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz