Warum Kinder fragen müssen

Elke Leger

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Ach, diese Bandwurm-Fragen: Warum, warum, warum? In ihnen steckt der Wunsch nach dem Gespräch. Müssen wir auf Kinderfragen immer wasserdichte und perfekt recherchierte Antworten parat haben?

“Warum hat die Frau so ein rotes Gesicht?” “Wo kommt ein Mensch hin, wenn er tot ist?” “Kann das Nashorn schneller laufen als ein Löwe?” Alles wollen unsere Kinder ganz genau wissen, sie fragen und fragen, am liebsten den ganzen Tag lang. Natürlich freuen wir Eltern uns über unsere wissbegierigen Kleinen – schließlich macht Fragen klug. Aber manchmal geht es uns doch sehr auf die Nerven, dieses ewige “Warum” .

Sinn-Fragen

Voller Wunder ist die Welt für ein kleines Kind. Dass die Sonne morgens aufgeht und am Abend hinter dem Horizont verschwindet, dass der Fernsehbildschirm lebendig wird, wenn man auf einen Knopf drückt, dass ein Glöckchen klingt, wenn es bewegt wird – in seiner ersten Lebenszeit nimmt das Kind all diese Ereignisse staunend in sich auf, lernt sie allmählich als Gesetze kennen. Nach einer Weile dann beginnt es, das ihm Bekannte einzuordnen und in Frage zu stellen: Wird die Sonne immer wieder aufgehen, an jedem Morgen? Und tut sie das auch, wenn ich gar nicht hinsehe? Woher kommt der Wind? Und der Regen?

Natürlich möchten wir solchen Fragen korrekt begegnen, strengen unseren Kopf an und suchen nach der richtigen Erklärung. Bloß nichts falsch machen. Suchen vielleicht in Lexika nach physikalischen Erklärungen. Und wundern uns, dass das Kind sich für unsere Antwort dann gar nicht so sehr interessiert.

Eine solche Reaktion zeugt nicht von Desinteresse unseres Kindes, sondern zeigt, dass wir seine Frage nicht richtig verstanden haben. Kinder bringen eine tiefe Weisheit und Lebensklugheit mit auf die Welt; sie erahnen die wesentlichen Dinge unseres Lebens. Darum wollen sie, wenn sie noch neugierig auf die scheinbar selbstverständlichen Dinge zugehen, nicht wissen, dass die Sonne 149600000 Kilometer von der Erde entfernt ist; sie wollen die Begründung dafür wissen, dass sie scheint. Eine Antwort wie “Weil die Lebewesen das Licht und die Wärme brauchen” wird sie darum eher zufrieden stellen als jede rationale Erklärung. Durch solche Antworten gewinnen Kinder Vertrauen in die Welt: Alles ist richtig, so wie es ist. Kinder wollen die Bestätigung, dass sie in Sicherheit sind und bleiben, dass auch morgen alles so sein wird wie es heute ist. Die immer gleichen Fragen sind dafür Beweis: So wie ein Kind jeden Abend die gleiche Geschichte hören möchte, in genau dem selben Wortlaut, so will es auch die immer gleiche Antwort, wenn es eine Frage wieder und wieder stellt. Bekanntes schenkt Geborgenheit in dieser aufregenden und stürmischen ersten Lebenszeit.

“Wie tief ist ein Grab?”

Kinderfragen kennen kein Tabu. Alles, was dem Kind begegnet und was es noch nicht einordnen kann in sein Verständnis von der Welt, will es beantwortet haben, und zwar sofort, sei es im überfüllten Bus oder beim Gottesdienst in der Kirche: “Mama, warum hat der Mann so komische Haare?” Und diese Frage ertönt laut und gut verständlich für alle. Selbst wenn sich die Mama am liebsten in ein Mäuschen verwandeln würde und die Leute um die Beiden herum kritisch gucken oder unterdrückt kichern – da muss Mutter durch. In diesem Fall hilft nur ein ehrliches “Ich weiß es nicht” und später ein Gespräch darüber, dass es die meisten Menschen nicht mögen, wenn man vor anderen über sie spricht.

Unangenehm sind auch die Fragen der Kinder nach dem Tod. “Musst du bald sterben?” fragt der Dreijährige seine Großtante, die schon so viele Falten im Gesicht hat. Alte Leute müssen sterben, das hat er schon gelernt. Warum sollte er jetzt sein Wissen nicht anwenden und vertiefen? Er kann nichts für Tabus und Verdrängungen, die die Erwachsenen mit sich herumschleppen. “Wie tief ist ein Grab?” wollen die Kinder wissen – und die Erzieherinnen gehen mit ihnen auf den Friedhof, sehen sich ein ausgehobenes Grab an, beantworten Fragen nach Kleidung und Lage der Toten und danach, was in den Urnen zurückbleibt. Clara legt schnell noch ein gepflücktes Blümchen auf das Grab einer Unbekannten und hüpft hinter der Gruppe her: Schauder, der beim Namen genannt wurde, kann nicht in Entsetzen umschlagen.

Die Frage nach dem Sinn des Todes ist da schon schwieriger zu beantworten. Aber müssen wir denn immer wasserdichte Antworten parat haben? Kann eine solche Frage nicht auch Anlass für ein gemeinsames Gespräch sein, in dem wir das für uns selbstverständlich Gewordene neu überdenken und eingefahrene Gedankenbahnen verlassen? Eine Frage verlangt nicht unbedingt Antwort, aber immer das Gespräch.

Warum, warum, warum?

Ganz deutlich wird der Wunsch des Kindes nach dem Gespräch in den endlos langen Frageketten, die unsere Geduld so sehr auf die Probe stellen. “Warum läuft die Frau so schnell?” “Weil sie es eilig hat.” “Warum hat sie es denn eilig?” “Vielleicht will sie den Bus nicht verpassen.” “Warum will sie mit dem Bus fahren?” “Weil sie irgendwo hin möchte.” “Warum?” Unermüdlich können Kinder solche Frageketten fortsetzen. Damit zeigen sie, dass sie mit den Antworten noch nicht zufrieden gestellt wurden. Und sie zeigen, dass sie kommunizieren möchten. Eine schlichte Gegenfrage des Erwachsenen – “Was meinst du: Warum läuft die Frau wohl so schnell?” – kann den endlosen Fragewurm unterbrechen und ein Gespräch in Gang bringen, in dem das Kind das ihm Wesentliche benennen kann.

Gemeinsam nach Antworten suchen

Mit dem Schuleintritt verändert sich die Qualität der Fragen. Nun wollen die Kinder Informationen, sie wollen Zusammenhänge verstehen. Unser Sachwissen wird da auf eine harte Probe gestellt; wer weiß schon, ob ein Känguru schneller laufen kann als ein Fuchs… “Weiß ich nicht” – diese Antwort sollten Eltern sich verbieten. Denn wenn ein Kind auf seine Fragen zu oft ein “Weiß ich nicht” hört, wird es dieses “Weiß ich nicht” verinnerlichen, faul werden in seiner Suche nach Antworten. Und fort ist die Neugier, die einen Menschen lebendig macht und kreativ. Statt des “Weiß ich nicht” also eher ein “Mal sehen, wie wir das herausbekommen!” Und hinein in die Bücherei oder ins Internet, gemeinsam suchen und forschen und fragen. So ganz nebenbei lernt Ihr Kind damit auch die Instrumente kennen, mit denen es später selbst die Antworten auf seine Fragen herbeischaffen kann. Eine solche gemeinsame Recherche bringt Ihnen beiden viel mehr als jedes didaktisch noch so gut aufbereitete Buch.

“Wie war das, als du so alt warst wie ich?” – eine Frage, die alle Eltern und Großeltern kennen. Ein Buch könnte sie niemals so beantworten wie die Großmutter oder die Eltern, die dem Kind detailliert und lebendig davon erzählen “wie es früher war” . Oder: Die Mutter erwartet ein Baby und das Kind erlebt mit, wie das kleine Wesen im Bauch heranwächst. Natürlich möchte das Kind wissen, wie das Geschwisterchen jetzt gerade aussieht, ob es im Bauch essen und trinken kann und wie es da überhaupt hineingekommen ist; eine gute Chance für eine liebevolle Aufklärung, die ein Buch so niemals bieten könnte.

Es gibt keine Frage, für die ein Kind noch zu jung wäre; es gibt nur unpassende, dem Alter nicht angemessene Antworten. Darum müssen wir uns mit unseren Antworten in die Perspektive des Kindes begeben und die Welt aus dem Blickwinkel des kleinen Menschen betrachten. Verständlich müssen unsere Antworten sein, ein Dialog mit dem Fragenden, frei von der wissenden Arroganz der Riesen.

Jede Frage, die ein Kind uns stellt, zeigt, dass es neugierig ist auf die Welt und dass es zusammen mit uns, seinen Eltern, das Leben verstehen und erkunden möchte. Wir dürfen darauf stolz sein.

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Autorin

Elke Leger, Psychologin, Journalistin, Buchautorin, Mutter von zwei Kindern, viele Jahre Redakteurin einer Familienzeitschrift

Anschrift

Elke Leger
Journalistin – Autorin – Psychologin
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Erstellt am 15. April 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014