Die Sprache des Kindes – ihre Entwicklung und Förderung in der Familie
Dr. Bernd Reimann
Im Beitrag wird die Entwicklung der kindlichen Sprache aus der Sicht der kommunikativen Interaktion betrachtet. Unter Bezug auf die dialogische Sprachanwendung wird herausgearbeitet, wie die primären Bezugspersonen kindliche Äußerungen lernstimulierend aufgreifen, modifizieren, korrigieren und erweitern. Es werden das Beobachtungslernen und die implizite Sprachförderung als grundlegende Prozesse beschrieben.
Einleitung
Die Entwicklung der Sprache ist eine der faszinierendsten Erscheinungen in der frühen Entwicklung des Kindes. In den ersten 3 bis 4 Jahren lernt das Kind die Sprache seiner Lebenswelt als Mittel der Kommunikation und des Denkens erfolgreich zu verwenden. Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen bilden die Gespräche mit den vertrauten Bezugspersonen in der Familie.
Das Kind lernt seine Muttersprache, weil es in ein soziales Beziehungsnetz hineinwächst, in dem lautsprachliches Kommunizieren gefragt ist. Es steht vor permanenten Anforderungen, Sprache im Alltag anzuwenden, Zwecke von Gegenständen und den Sinn von Handlungen zu verstehen, die sprachlich vermittelt werden und in seiner Kultur typisch sind. Damit ist der Spracherwerb zugleich ein bestimmendes Element der Sozialisation (vgl. auch die Artikel Sozialisationsforschung und Sozialisationstheorie).
Das Kind ist auf ein entgegenkommendes Gesprächsverhalten seiner Partner angewiesen, damit es die Sinnhaftigkeit der Sprache überhaupt erschließen kann und folglich auch Kenntnisse über das System der Sprache (z.B. grammatische Regeln) aufbauen kann. BRUNER (1987) betrachtet den Spracherwerb als ein Nebenprodukt der Weitergabe einer Kultur. Die Sprache ist nur ein Mittel, um Ziele zu erreichen, um mit dem Erwachsenen zu spielen oder um mit Personen verbunden zu bleiben, von denen das Kind abhängig ist. Folglich erwirbt das Kind seine Sprache, weil es Bedingungen vorfindet, in denen ihre Anwendung gefragt ist. Es lernt die Laut-Sprache, indem es seine Bedürfnisse, Wünsche und Ziele in spezifischen Situationen des alltäglichen Miteinanders zu verwirklichen sucht, nicht, weil es erfährt, dass lautsprachliches Kommunizieren an sich gefragt ist.
Die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit im allgemeinen und der Lautsprache im speziellen vollzieht sich in vertrauten Zusammenhängen. Im Rahmen alltäglicher und besonderer Abläufe erschließt sich das Kind die Gebrauchsregeln der Sprache. Sie wird von Anfang an von den primären Bezugspersonen in Alltagssituationen gebraucht und damit als ein notwendiges Mittel für die Erfüllung von Bedürfnissen verschiedenster Art “hervorgehoben” .
Man kann davon ausgehen, dass ein Kind seine Muttersprache lernt, wenn die folgenden Minimalbedingungen erfüllt werden:
- Die Wahrnehmungs- und Erkenntnistätigkeit muss von Geburt an funktionieren, d. h. es dürfen keine gravierenden Sinnesschäden und/oder eine starke geistige Behinderung vorliegen.
- Das Kind muss weiterhin die Sprache seiner Umgebung in sinnvermittelnden sowie personen- und objektbezogenen Handlungen wahrnehmen und anwenden können.
Mütter haben ein außerordentlich fein entwickeltes Inventar von Verhaltensweisen, das die kindliche Kommunikations- und Sprachentwicklung entscheidend fördern kann. Sie stellen sich intuitiv auf Entwicklungsfortschritte ihres Kindes ein und bereiten es dabei gleichzeitig schon auf die nächste Entwicklungsphase vor.
In Bezug auf die Sprach-Lernförderung in den frühen Sprachentwicklungsjahren heben Ergebnisse neuerer Untersuchungen zur sprachlichen Dialogführung immer wieder die Rolle der Mütter in folgender Hinsicht hervor:
- Sie vermitteln Wissen über die Sprache und den Sprachgebrauch innerhalb der für die Entwicklung des Kindes relevanten Bedürfnis- und Handlungsfelder.
- Die Art und Weise des Sprachgebrauchs hat für das Kind eine Art Modellcharakter.
- Mütter passen sich in ihrer Sprache nicht nur in der sog. vorsprachlichen Zeit in Form einer “Babysprache” dem kindlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvermögen an, sondern sie gestalten auch in der Folgezeit sprachliche Angebote je nach Entwicklungsstand des kindlichen Sprachsystems, wobei es aber individuelle Unterschiede gibt.
Sprechen lernen ist Beobachtungslernen
Zu den wichtigsten Faktoren des kindlichen Beobachtungslernens können Merkmale derjenigen Person gezählt werden, die in Bezug auf die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse, z.B. nach Geborgenheit und Kontakt, die wichtigste Funktion hat. MARTIN (1989) nennt die folgenden Merkmale, die das mütterliche Verhalten als responsiv charakterisieren:
- interpersonale Sensitivität (die Fähigkeit, Merkmale und Veränderungen in interpersonalen Beziehungen zu erkennen),
- Empathie (das Erfahren der emotionalen Realität einer anderen Person als seine eigene),
- Vorhersagbarkeit (zwischenmenschlicher Zusammenhalt, der die Beziehung stabil und sicher gestaltet),
- Nichtintrusivität (keine Einmischung, wenn die Situation nicht danach verlangt) und
- eine allgemeine emotionale Verfügbarkeit (Beteiligung).
BANDURA (1976 und 1986) nennt folgende Bestimmungsmerkmale des Beobachtungslernens, die besonders für den Erwerb der Sprache von Bedeutung sind:
- Der Beobachter muss aufmerksam für die zu erkennenden Merkmale der Modellreaktion sein, wobei aufmerksamkeitsbestimmende Variablen (das auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmte Kommunikationsangebot mit sprachlicher Zuwendung) Einfluss darauf haben, was genau beobachtet wird.
- Diese modellierten Ereignisse müssen gespeichert werden. Dabei üben die Beobachter eine höchst aktive Funktion aus, indem sie die Modellierungsreize in leicht reproduzierbare Schemata umformen und durch die Wiederholung praktisch erproben.
- Verstärkungs- und motivationsbildende Einflüsse beeinflussen die Effektivität des Beobachtungslernens.
WHITEHURST (1989) nennt als wichtige Variable des Beobachtungslernens in der sprachlichen Interaktion die Fähigkeit des Erwachsenen, Anzeichen der kindlichen Aufmerksamkeit für Ereignisse zu nutzen, um Bezeichnungen für diese Ereignisse anzubieten.
Eltern und Kind als Handlungspartner
Die Mutter betrachtet ihr Kind als einen Partner, der “Handlungsbeiträge” in die gemeinsame Interaktion einbringt. Sie schreibt dem Kind die Fähigkeit zu, innerhalb des von ihr abgesteckten Interaktionsrahmens richtig reagieren zu können (z.B. mit Lächeln, Blickkontakt und Körperbewegungen). Sie unterstützt damit die Entwicklung in Richtung auf die sog. “sekundäre Intersubjektivität” (TREVARTHEN,1980), die mit etwa 9 Monaten zu einer neuen Qualität in der Interaktion führt. Die Mutter wird ab dieser Zeit als Handlungspartner gesehen, deren Handlungen und Sprache durch bestimmte “Methoden” beeinflussbar sind.
Eltern unterstützen und ergänzen
BRUNER (1985) meint, dass das Kind in der alltäglichen Interaktion spontan so viel tun kann, wie es bereits in der Lage ist. Was es jedoch noch nicht tun kann, wird von der Mutter hinzugefügt oder mit einer sog. “Gerüstbautechnik” bereit gehalten. Wenn das Kind beispielsweise noch nicht auf eine Frage nach dem Namen eines Objektes mit einer Benennung reagieren kann, akzeptiert sie das, was das Kind tut (irgendein Lautgebilde produzieren), liefert aber im Anschluss das richtige Lautklanggebilde als Modell. Weist das Kind auf etwas “Auffälliges” hin (um 1 Jahr meist nur mit “da!” ), benennt die Mutter, was das Kind sieht.
Somit zeigen die kompetenten Interaktionspartner gegenüber dem Kind Unterstützungsleistungen, die dem Kind eine Teilnahme an der Entwicklung, d.h. an einer seinen Entwicklungsstand (noch) übersteigenden sozialen Praxis, ermöglicht. Zu diesen Hilfen gehören die Routinisierung, Steuerung von Interaktionen und die sinnvolle Ergänzung der kindlichen Beiträge. Diese Ergänzungsaktivitäten spielen jedoch auch im nichtsprachlichen Handeln eine große Rolle. Die Mutter beobachtet das Verhalten im Umgang mit Gegenständen. Können bestimmte Objekte (noch) nicht funktionsgerecht verwendet werden, demonstriert sie den erfolgreichen Umgang. Sie schafft damit gleichzeitig beste Bedingungen für das Lernen von Funktionen durch Beobachtung des Gebrauchs von Gegenständen.
In der vorsprachlichen Entwicklungsphase (bis 1 Jahr) passen die Eltern ihre Sprache der des Kindes an
Diese Anpassung vollzieht sich in zwei Formen: Einmal wird die an das Kind gerichtete Sprache selbst verändert, d.h. sie wird auf die bereits entwickelten Wahrnehmungsfähigkeiten abgestimmt, um maximale Beachtung für das mütterliche Sprechen zu erreichen. Ein andermal werden objekterkundende Aktivitäten wie Suchen, Fokussieren, Ergreifen und Betrachten mit Sprache synchronisiert. Das Kind erhält ein simultan vermitteltes Abbild auf auditiver Ebene zu einem optisch präsenten Gegenstand, Vorgang oder Ereignis.
Mütter sprechen zu ihren Säuglingen u.a. mit höherer Tonlage, größerer Tonhöhenvariation, längeren Pausen, kürzeren Äußerungen und häufigeren Wiederholungen. Diese Merkmale sind zugleich wesentliche Charakteristiken der frühen Babysprache. CRUTTENDEN (1994) schreibt dieser mütterlichen Sprache eine Hilfsfunktion im Sprachlernprozess zu, da sie ein sogenanntes solidarisches Gemeinschaftsgefühl erzeugt und in diesem Rahmen hilft, die Aufmerksamkeit des Kindes auf betonte Komponenten der Sprache zu richten und Abschnitte im Sprechfluss zu erkennen.
NELSON u .a. (1989) gehen aufgrund ihrer Ergebnisse davon aus, dass die Babysprache einen fundamentalen Beitrag zum Erlernen des Satzbaus liefert. Es konnte ermittelt werden, dass sich Säuglinge häufiger in die Richtung wenden, aus der die Sprache mit den typischen Satz-Pausen wahrzunehmen war und sich ihr auch länger zuwendeten. Wurde die Sprache untypisch gegliedert, d.h. erschienen Pausen innerhalb von Sätzen, wo sonst keine sind, war die Aufmerksamkeitszuwendung wesentlich geringer. Der gleiche Effekt, jedoch geringer ausgeprägt, war mit einer an das Kind gerichteten Sprache zu beobachten, wenn sie der Erwachsenensprache glich. Die Autoren folgern, dass die Babysprache dazu beiträgt, die Sprache in Wahrnehmungs-Einheiten zu gliedern, die der Gliederung von Sätzen entsprechen. Diese Sensitivität für Satzeinheiten kann als grundlegend für den Spracherwerb angesehen werden. Die gehörte Sprache wird von der Mutter in rhythmische Einheiten gegliedert und erleichtert damit das Erlernen der Sprache. Mit dieser veränderten “Zusprache” macht sich die Mutter als ein primärer Kommunikationspartner, über den alle bedürfnisbezogenen Interessenslagen verwirklicht werden, sozusagen akustisch-sprachlich attraktiv. Da sie auch bestimmte sprachliche Einheiten nur in vom Kind überschaubaren Handlungskontexten gebraucht, gestaltet sie einen optimalen Lernrahmen. Dies ist um so mehr von Bedeutung, da nach JUSCZYK (1997) das 1. Lebensjahr eine besonders “fruchtbare Periode” für das Lernen der Lautstrukturen der Muttersprache ist.
In der Hauptphase des Spracherwerbs (1 – 3 ½ Jahre) berücksichtigen Eltern die kommunikativen Fähigkeiten des Kindes
Wenn Eltern auf die Gesprächsangebote ihrer Kinder reagieren, sind sie zunächst an der Aufrechterhaltung der Kommunikation, an der Befriedigung des kindlichen Bedürfnisses nach kommunikativer Zuwendung interessiert. Gleichzeitig vollzieht sich ein latentes Vermitteln von Kenntnissen über das Sprachsystem, die Sprachverwendung und eine Vermittlung von Weltwissen. SNOW (1989) u.a. verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff Feinabstimmung. Er beinhaltet eine “Anpassung” des Komplexitätsniveaus der an das Kind gerichteten Sprache in Abhängigkeit vom Niveau der produktiven und Verstehensleistungen des Kindes. PENNER (1987) stellte bei Kindern im Alter von 1;9 bis 2;2 Jahren fest, dass Eltern nicht normgerechte sprachliche Äußerungen häufiger durch eine Bestätigung anerkennen und erweitern als normgerechte Äußerungen. MOERK (1991) beschreibt verschiedene Formen von korrigierenden Rückmeldungen, die sich auf Substantive, Verben und Präpositionen beziehen. Er hebt hervor, dass diese keine unmittelbaren, sondern Auswirkungen in Form eines kumulativen Effektes auf die kindlichen Sprachformen zeigen.
Das Sprachangebot wird bereichsspezifisch am aktuellen Entwicklungsstand orientiert. In der Phase des frühen Worterwerbs werden z.B. Basisbegriffe früher als untergeordnete Begriffe und Typbezeichnungen angeboten. Das Angebot spezifischer (neuer) sprachlicher Formen setzt ein, wenn die Aufmerksamkeitsentwicklung des Kindes anzeigt, dass seine Wahrnehmung für neue Strukturen bereit ist, es diese aber selbst noch nicht produzieren kann. Diese Empfänglichkeit für spezifische Formen der kommunikativen Zuwendung und sprachlichen Angebote wird kognitiv gesteuert und in der Kommunikation signalisiert. Aufgrund dieser Signale weiß der Erwachsene intuitiv, wann die Sensibilität für bestimmte Angebotsformen vorhanden ist. So weiß er, dass er an seinem etwa einjährigen Kind vorbeiredet, wenn er bei einem Spaziergang auf ein vorbeifahrendes Auto statt mit “Da, ein Auto!” mit “Da, ein Ford!” oder auf einen vor einem Geschäft sitzenden Hund statt mit “Da, ein Hund!” mit “Da, ein Beagle!” verweisen würde. Genauso wäre ein beim 12 – 16monatigen Kind einsetzendes Angebot von erklärenden Kausalsätzen in kommunikativen Situationen, in denen Objekte betrachtet und benannt werden, nicht zeitgemäß. Es setzt ein, wenn das Kind kognitiv den Handelnden von der Handlung bzw. den Vorgang vom Vorgangsträger getrennt hat und damit über Voraussetzungen verfügt, Handlungen und Vorgänge in ihrer zeitlichen, räumlichen und kausalen Abhängigkeit zu erfassen.
Was müsste man genauer betrachten, wenn man den sprachfördernden Einfluss der dialogischen Interaktion detaillierter erfassen will? Es sind die sog. dialogischen Anschlussreaktionen des Erwachsenen, seine Erwiderungen auf kindliche Kommunikationsinitiativen. Genau hier gibt es Unterschiede in den Anschlussäußerungen bei verschiedenen Eltern.
In der nachfolgenden Tabelle 1 sind Beispiele dafür aufgeführt.
Tabelle 1: Beispiele für elterliche Reaktionen
Sprechhandlungen |
Dialogbeispiele |
Bestätigungen |
“Bammer ” –> ” Eine Klammer “” Guck ma, rein-e-macht “- -> ” Hast Wasser reingemacht” |
Fragen |
“Mama aufräum nich meine Tasche! “- -> ” Packst alles in deine Tasche?” |
Mitteilungen |
“Ba ” –>”Das sind Bausteine.”“Apa Auto” –> “Opa´s Auto ist weg!” |
Korrekturen |
“Hier Meckerling!” (Schmetterling) –> “Das ist eine Blume!”“Ich hab deschiebt!” –> “Nicht deschiebt, geschoben!” |
Befolgen von Aufforderungen |
“Eh!” –> “Geht das nicht, bitteschön!” |
Verhaltenssteuerung |
“Deks ham!” (Keks haben) –> “Wir essen gleich Mittag!” |
Das wesentlichste Merkmal ist, dass die Eltern die kindliche Sprache – eingebunden in verschiedene Sprechhandlungen mit unterschiedlichen kommunikativen Funktionen -
- inhaltlich erweitern
- implizit oder explizit korrigieren und / oder
- unter Aufgreifen der kindlichen Absichten mit den bestehenden Regeln in Beziehung bringen.
Das nachfolgende Beispiel des Gesprächsangebotes eines Zweijährigen soll die unterschiedlichen gesprächsausbauenden Reaktionen veranschaulichen:
Das Erzähl- oder Mitteilungsangebot des Kindes:” Schau mal, ich habe einen Elefanten! “wird sprachlich mit” Fant! “realisiert. Es entspricht damit noch nicht der sprachlichen Norm.
(1) |
“Fant” –>”E-le-fant!” |
(2) |
“Fant “–>”Da ist der Elefant. Wie heißt der? Sag mal Elefant!” |
(3) |
“Fant” –>”Ja, das ist der Elefant, wie der Elefant “Jumbo” im Bilderbuch. Weißt du noch, wir haben auch einen richtigen Elefanten gesehen. Als wir im Zoo waren, am Wochenende. Der hatte einen ganz |
In der Reaktion (1) wird die Äußerung explizit korrigiert (besonders zeitlich gedehnt und auffordernd betont). In (2) wird der Elefant lautlich korrekt (wiederholend) benannt und in Form einer Aufforderung auch implizit korrigiert. In (3) wird die Äußerung des Kindes als Anlass zum Erinnern genommen. Dieser Erinnerungsbezug bietet Anreize zum Aufbau der Erzählkompetenz. Die Mutter erzählt ein gemeinsames Erlebnis nach und bietet damit auch eine Art sprachliches Modell für einen Bezug auf vergangene Erlebnisse – ein Hauptmerkmal der Alltagskommunikation. Aber: Die Mutter muss genau zu diesem Zeitpunkt intuitiv erkennen, dass ihr ausbauendes Erzählangebot passend ist.
Betrachtet man dieses Vorgehen unter dem Aspekt der Vermittlung von Umwelt- und Sprachwissen über das 2. Lebensjahr hinweg, sind interessante Veränderungen beobachtbar, die auf inhaltlich etwa gleiche Gesprächsangebote des Kindes folgen. Sensible Eltern sind der Entwicklung ihres Kindes mit ausbauenden Angeboten einen Schritt voraus. Das sollen die Beispiele in der folgenden Tabelle zeigen. Zu verschiedenen Entwicklungszeitpunkten nimmt das Kind Bezug auf Kühe, die bei Spaziergängen oder beim Betrachten von Bilderbüchern die Aufmerksamkeit binden und einen Dialog auslösen.
Tabelle 2: Dialogbeispiele für Folgeäußerungen des Erwachsenen
Alter |
kindliche Äußerung |
reaktive Äußerung des Erwachsenen |
1;3 |
da! |
Kühe, da sind Kühe 1 |
1;6 |
Due! |
ja, viele Kühe 2 |
1;9 |
siele Due (viele Kühe) |
viele Kühe, ja, die Kühe fressen Gras 3 |
2;0 |
Due Da:s (Kühe Gras) |
hm, die Kühe fressen Gras, weil sie Hunger haben 4 |
2;0 |
Du: (Kuh) |
eine Kuh (K:uh) 5 |
1 = Identifikation neuer Objekte durch Einführung einer neuen Benennung
(lexikalisches Grundwissen)
2 = Bestätigung der kindlichen (Mengen-) Bezeichnung,
3 = Bestätigung der kindlichen (Mengen-) Bezeichnung, Vermittlung von Vorgangs-
und Beziehungswissen,
4 = Bestätigung der kindlichen Vorgangsinterpretation, Vermittlung von
Beziehungswissen (Ursachenangabe),
5 = Korrektur der Aussprache (Wissen über die Aussprache des Wortes “Kuh” )
Die Beispiele für Reaktionen in der Tabelle 2 wirken korrigierend-aufbauend, sind aber von ihrer kommunikativen Funktion her betrachtet nur zu wenigen Anteilen Korrekturen. Der Begriff “Umformungen” bezieht sich lediglich auf die Äußerungsstruktur, nicht auf die kommunikative Funktion der Äußerung. Sie beinhalten eine sprachliche Rückmeldung für das Kind. Die mütterliche Äußerung orientiert sich an der kindlichen, kopiert sie aber nicht, sondern formt sie um oder erweitert sie in Hinsicht auf Aussprache, Sprachlehre und Wortschatz. Diese Umformungen oder Erweiterungen sind im allgemeinen immer normgerechter als die vorausgegangene kindliche Äußerung.
Bezüglich der “Methodik” des rückmeldenden Sprachgebrauchs scheint es somit eine universelle Verhaltensweise zu geben: Mütter vermitteln normative Strukturen der Sprache primär in Sprechhandlungen, deren kommunikative Funktion bestätigenden Charakter trägt.
Implizites Lernen der Sprache
Der Erstspracherwerb basiert auf implizitem Lernen. Es wird automatisch ein komplexes Wissen über die Struktur der Sprache erworben, das nicht beschrieben werden kann. Sagt man einem etwa Dreijährigen, dass er die Mehrzahl bilden soll, wird er sagen, dass er das nicht weiß. Fragt man ihn nach konkreten Objekten, etwa in der Form: “Hier ist ein Zuffi. Hier ist ein anderer Zuffi. Was hast du bekommen?” , wird er sagen “Zwei Zuffis.” und damit den Plural richtig bilden.
Eine entwicklungsphasenspezifische Sensitivität des Kindes für jeweils bestimmte Regeln in der wahrzunehmenden Sprache kann offensichtlich als universelle Grundlage für den Spracherwerb angesehen werden. Das Kind scheint in verschiedenen Entwicklungsabschnitten jeweils spezifische Neigungen für das Erkennen bestimmter Regeln auszubilden. Damit jedoch ein Regelbildungsprozess in Gang kommt, müssen dem Kind solche sprachlichen Gebrauchsformen in sinnvermittelnder Form “zugeführt” werden, die nach der betreffenden Regel gestaltet sind. Genau hier kommt der entscheidende Einfluss der sprachlichen Interaktion zur Geltung. Sie wird hauptsächlich von einem Kommunikationspartner gestaltet, der intuitiv zu wissen scheint, wie man die Sprache in ihrer hörbaren Form lernbar gestaltet und wie man sie in der Handlungswelt mit dem kleinen Sprachlerner gebraucht. Jedes neu zu lernende Sprachmerkmal erscheint nicht nur einmal im Sprachangebot, sondern wiederholt in räumlich-zeitlich anderen Bedingungen. Zusätzlich erscheint das neu zu lernende Merkmal innerhalb der sprachlichen Äußerung, in die es integriert ist, zu diesen verschiedenen Zeitpunkten nicht immer mit dem gleichen Äußerungskontext.
Bereits C. und W. STERN (1923) schreiben, dass die Sprachentwicklung nur dann ganz verständlich wird, “wenn man sie als Konvergenzprodukt auffasst zwischen den fortwährend auf das Kind eindringenden Sprachäußerungen seiner Umgebung und seinen inneren Sprachbedürfnissen und -fähigkeiten. Das sprechen lernende Kind ist ebenso wenig eine bloße Wiederholungsmaschine wie ein souveräner Sprachschöpfer…” (S. 115).
Abschließend sollen zwei Dialoge aufgeführt werden, in denen die Mutter auf ganz natürliche Weise schon “Probleme des Seins” berührt.
KIND: P., ALTER: 3;2
SITUATION: P. zeigt auf das Glas, aus dem die Mutter die 5monatige Schwester füttert und äußert:
KIND: hier auch hier Glas is tot
ERWACHSENER: was is tot?
KIND: dis hier, hier da [zeigt auf Glas]
ERWACHSENER: ja so´n Glas lebt nicht, da hast de recht, aber das war auch noch nie lebendig
KIND: e-e [verneinend]
ERWACHSENER: Gegenstände, pass auf, Gegenstände sind nicht lebendig, nur Menschen, Tiere und Pflanzen…hm
KIND: aber wenn ma eine Pflanze umstippt, da is die auch tot, wenn man da die Schale wegmacht
ERWACHSENER: ja, ja wenn man die, wenn man die ausreißt, dann stirbt die auch
KIND: rum denn?
ERWACHSENER: weil se kein´ Kontakt mehr zur Wurzel hat
KIND: S., ALTER: 3;1
SITUATION: S. zeigt in einem neuen Bilderbuch, das die Mutter gerade mit ihr betrachtet, auf die
Hauptfigur und äußert:
KIND: wenn dis hier, warum ham die E-burtstag?
ERWACHSENER: jeder hat mal Geburtstag, das is der Tag, an dem man geboren wurde
KIND: da, n, der is e-boren
ERWACHSENER: der is auch geboren, ja
KIND: der Bobo is auch e-boren
ERWACHSENER: ja der Bobo is auch geboren
KIND: von wen is der alles boren?
ERWACHSENER: von ihren Mamas, aber die komm´ in den Büchern gar nich vor
Literatur
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Autor
Dr. habil. Bernd Reimann: Freiberuflicher Dozent in der Aus- und Weiterbildung von Sozialpädagogen, Erziehern, Heilpädagogen mit den Hauptlehrgebieten Sprachentwicklung (Erst- und Zweitspracherwerb), Sprachförderung, Sprachstörungen und Kinder mit besonderer Entwicklungsproblematik
Erstellt am 16. Mai 2002, zuletzt geändert am 10. Juli 2013