"Komm, wir erzählen uns eine Geschichte! - Dialogisches Lesen in Kindertagesstätten

Dialogisches Lesens - eine Mischung aus Vorlesen und Erzählen - ist ein Konzept zur Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung in Kitas, das sich mit wenig Vorbereitung in den Kita-Alltag integrieren lässt. Der Beitrag zeigt auf, für welche Kinder sich das Konzept eignet, wie man mit den Kindern ins Gespräch kommen kann und wie sich Dialogisches Lesen auf die sprachliche Entwicklung der Kinder auswirkt.

Dialogisches Lesen - Wieso, weshalb, warum?

Was ist das?

Dialogisches Lesen ist eine Mischung aus Vorlesen und Erzählen. Anders als beim klassischen Vorlesen, bei dem in der Regel der Erwachsene spricht und die Kinder zuhören, haben beim Dialogischen Lesen vor allem die Kinder etwas zu sagen: Ihre Redebeiträge stehen im Mittelpunkt. Es geht nicht so sehr um ein bestimmtes Buch und seine Geschichte. Vielmehr dient das Buch als Gesprächsanlass. Es ist der „Aufhänger“ für die Fragen, Erzählungen, Ansichten und Vorstellungen der Kinder. Die Erzieherin oder der Erzieher ermuntert die Kinder zu Redebeiträgen, indem sie oder er Fragen stellt, Impulse setzt, aufgreift und erweitert, was die Kinder sagen. Durch bestimmte Techniken wie offene Fragen oder die Erweiterung der Redebeiträge der Kinder wird die Sprachkompetenz der Kleinen verbessert: Sie lernen neue Wörter, Ausdrucksformen und Satzstrukturen kennen. Der Erwachsene ist nicht nur Impulsgeber und Gesprächspartner, sondern ebenso aufmerksamer und aktiver Zuhörer. Damit die pädagogische Fachkraft ihre Aufmerksamkeit ganz den Kindern widmen und jedes Kind zu Wort kommen kann, sollte die Gruppe aus maximal vier Kindern bestehen. Ein gemütlicher Rückzugsort und eine entspannte Atmosphäre fördern den Austausch.

Für welche Kinder eignet es sich?

Dialogisches Lesen richtet sich an Kinder von zwei bis etwa sechs Jahren. Untersuchungen zeigen, dass alle Kinder von diesem Angebot profitieren können. Die Methode eignet sich auch zur intensiven Sprachförderung, beispielsweise bei Kindern mit Migrationshintergrund. Der Vorteil: Kindern mit Sprachschwierigkeiten fällt es in der kleinen Gruppe in der Regel leichter als in einer größeren Runde, sich zu äußern.

Wie geht das und welche Vorbereitung ist nötig?

Zunächst stellt sich die zentrale Frage nach dem „Lesestoff“. Das Buch muss dem Entwicklungsstand und den Interessen der Kinder entsprechen. Reich bebilderte Bücher eignen sich insbesondere bei Zwei- bis Dreijährigen besser als Bücher mit viel Text und einer komplexen Handlung. Neben klassischen Bilderbüchern können zum Beispiel Fotobücher oder Bildbände zum Einsatz kommen, wenn sich die Kinder dafür interessieren.

Die Erzieherin beziehungsweise der Erzieher sollte das Buch gut kennen und vorab wissen, an welchen Stellen man ein Gespräch einleiten kann, beispielsweise an Wendepunkten der Geschichte. Sie oder er sollte Fragen vorbereiten, die die Kinder zum Erzählen anregen. Geduld ist gefragt, denn Kinder brauchen Zeit, ihre Gedanken zu ordnen und ihre Antworten zu formulieren. Je nach Situation ist zu entscheiden, ob man die kleine Gruppe generell anspricht oder ein einzelnes Kind. Manchmal ist es angebracht, ein zurückhaltendes Kind direkt zu einem Beitrag aufzufordern oder ein Kind erzählen zu lassen, von dem man weiß, dass es einen Bezug zu einem bestimmten Thema hat. Bei Vorschulkindern (ab etwa vier Jahre) kann es sinnvoll sein, Gesprächsregeln aufzustellen. Die wichtigsten sind, jeden ausreden zu lassen und keine negativen Kommentare zu den Beiträgen anderer abzugeben.

Die Dauer einer „Lese“-Runde richtet sich danach, wie lange die Kinder sich konzentrieren können. Zwei- bis dreijährige Kinder und solche, die mit Vorlesen und Bilderbuchgeschichten keine Erfahrung haben, sind oft schon nach zehn Minuten müde. Mit Vorschulkindern kann das Dialogische Lesen aber auch eine halbe Stunde dauern. Hier sind die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl der pädagogischen Fachkraft gefragt.

Wie kommt man ins Gespräch?

Die Grundvoraussetzung ist, dass man ein Buch auswählt, das die Kinder zum Sprechen anregt. Das Weitere ist eine Frage der Technik: Kinder werden zu Erzählern, wenn die Erzieherin oder der Erzieher gezielt bestimmte Fragemethoden und Sprachlehrstrategien anwendet und sich den Kindern aufmerksam zuwendet.
Die Experten nennen drei Techniken:

Anregung der kindlichen Sprachproduktion: Hier bieten sich die sogenannten W-Fragen an, zum Beispiel was, wer, wo. Solche einfachen Fragen eignen sich vornehmlich für jüngere Kinder. Bei den etwas älteren sollte man offene Fragen einsetzen, auf die die Kinder ausführlicher antworten können. Solche Fragen werden zum Beispiel mit warum oder wieso eingeleitet. Die Fragen können konkret an die Geschichte anknüpfen, sich aber auch auf die Erfahrungen und Einstellungen der Kinder zu einem bestimmten Thema beziehen. Schließlich dient das Buch beim Dialogischen Lesen in erster Linie als Gesprächsanlass. Die Anknüpfungspunkte der Geschichte oder der Bilder können etwas mit dem Alltag und den Erfahrungen der Kinder zu tun haben, aber auch in Welten jenseits ihrer Lebenswirklichkeit führen und die Fantasie anregen. In jedem Fall sollte man darauf achten, dass die Fragen wirklich zum Erzählen anregen und nicht in langweiliges Abfragen münden. Möglich sind auch Verständnisfragen, um herauszufinden, ob die Kinder die Geschichte verstanden haben. Man sollte aber kein Wissen abfragen. Erlaubt sind auch „Unsinnsfragen“: Man behauptet etwas Falsches, um es durch die Kinder korrigieren zu lassen. Nachfragen zu Äußerungen des Kindes fördern den Dialog und zeigen dem Kind, dass man ihm zuhört. Bewährt hat sich auch die Methode, Sätze vervollständigen zu lassen oder gar die Geschichte durch die Kinder zu Ende erzählen zu lassen.

Modellierung: Dabei handelt es sich um berichtigende oder erweiternde Wiederholungen oder Umformulierungen des Gesagten. Die pädagogische Fachkraft wiederholt zum Beispiel eine Äußerung des Kindes in der korrekten Form. Auf diese Weise wird das Kind indirekt korrigiert und fühlt sich durch die Wiederholung gleichzeitig in seiner Aussage bestätigt. Ähnlich funktioniert die Erweiterung und Umformulierung der Kommentare der Kinder: Die Kinder merken, dass ihre Aussage angekommen ist und durch die Erzieherin beziehungsweise den Erzieher aufgegriffen wird. Indem sie oder er die Aussagen erweitert oder anders ausdrückt, lernen die Kinder neue Wörter, Ausdrucksweisen und grammatische Strukturen kennen.

Verstärkung und Motivation: Die Grundvoraussetzung ist, dass man Bücher und Themen findet, die für die Kinder interessant sind. Die Kinder müssen sich geborgen und ernst genommen fühlen, damit sie ohne Hemmungen erzählen können. Deshalb ist es wesentlich, dass die Erzieherin oder der Erzieher ihnen die volle Aufmerksamkeit schenkt, aktiv zuhört und den Kindern genug Zeit zum Betrachten, Nachdenken und Reden lässt. Das Dialogische Lesen ist keine Grammatikstunde: Direkte Korrekturen des Gesagten und negative Kommentare sind tabu. Das Dialogische Lesen fördert die Verbesserung des Sprachniveaus vielmehr durch (korrigierende) Wiederholung und Erweiterung, Variation, Bestätigung und Lob. Die Leserunde soll allen Beteiligten Spaß machen.

Was bringt das?

Dialogisches Lesen wirkt sich günstig auf die sprachliche Entwicklung der Kinder aus. Das wurde in mehreren Untersuchungen im In- und Ausland festgestellt. Der „Kunstgriff“ besteht darin, dass die Kinder unbewusst und ohne Druck lernen, indem die Erzieherin oder der Erzieher immer wieder in geringem Umfang neue Wörter und grammatische Strukturen ins Gespräch einbringt. Eine besondere Chance liegt darin für Kinder, die zu Hause selten oder nie mit Erwachsenen Bilderbücher betrachten und darüber sprechen, sowie für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Beim Erlernen einer Zweitsprache kann diese Vorlesetechnik hilfreich sein, da sich durch das Wiederholen und die Erweiterung kindlicher Aussagen neue Wörter festigen. Außerdem kann eine Verknüpfung des Visuellen (Bilder) mit dem Auditiven (gehörte und gesprochene Sprache) das Lernen erleichtern.

Neben der nachgewiesenen Unterstützung der Sprachentwicklung werden dem Dialogischen Lesen weitere positive Wirkungen zugeschrieben. Es soll

  • die Fantasie anregen, weil den Gesprächsinhalten keine Grenzen gesetzt sind.
  • das Interesse für Dinge jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts anregen.
  • die soziale Kompetenz fördern, weil die Kinder lernen, sich in andere hineinzuversetzen, Gesprächsregeln anzuwenden und andere Meinungen und Erfahrungen zu respektieren.
  • das Selbstbewusstsein der Kinder stärken, weil sie merken, dass ihr Wort etwas gilt und dass andere ihnen zuhören.

Dennoch sollte das Dialogische Lesen andere Vorleseformen nicht prinzipiell ersetzen. Auch das traditionelle Vorlesen hat weiterhin seine Berechtigung, weil es Kinder mit Geschichten und der Welt der Bücher vertraut macht und oft in einer besonders geborgenen, gemütlichen Atmosphäre stattfindet. Es kann und sollte jedoch im Interesse der Kinder durch das Dialogische Lesen ergänzt werden, weil diese Leseform die Kinder sprachlich aktiv werden lässt.


Klassisches Vorlesen — Dialogisches Lesen

Beim klassischen Vorlesen ...
  • kann die Gruppe groß sein,
  • ist die Erzieherin oder der Erzieher aktiv und liest vor,
  • hören die Kinder zu und sind eher passiv in Bezug auf die Sprachproduktion.
Beim Dialogischen Lesen ...
  • darf die Gruppe maximal vier Kinder umfassen,
  • setzt die Erzieherin oder der Erzieher Impulse und stellt Fragen, um die Kinder zu Redebeiträgen zu ermuntern, hört aktiv zu und greift die Beiträge der Kinder auf,
  • sind hauptsächlich die Kinder aktiv: Sie stellen und beantworten Fragen und erzählen von ihren Erfahrungen.

Dialogisches Lesen: Strategien und Ziele

Strategie Ziel
  • Interessen der Kinder berücksichtigen, zum Beispiel bei der Buchauswahl und den Gesprächsimpulsen
  • Die Kinder fühlen sich ernst genommen und zum Mitmachen motiviert.
  • Bestätigendes Feedback geben
  • Die Kinder werden selbstsicherer.
  • Zusätzliche Fragen zu den Antworten der Kinder stellen
  • Die Kinder werden zum Reden ermuntert, ein Dialog wird geführt.
  • Fehler indirekt verbessern, indem Aussagen korrekt wiederholt werden
  • Aussagen aufgreifen, erweitern und Kinder ermuntern, sie zu wiederholen
  • Einfache W-Fragen stellen: wer, was, wo
  • Gegenstände benennen und beschreiben lassen
  • Abstrakte Begriffe durch die Kinder definieren lassen
  • Die Kinder erweitern ihren Wortschatz und festigen ihn. Sie lernen komplexe Satzstrukturen kennen.
  • Die Kinder machen sich Gedanken über abstrakte Begriffe und über Sprache und sprechen darüber.
  • Offene Fragen und erweiterte W-Fragen stellen: weshalb, warum, wieso
  • Begonnene Sätze von den Kindern ergänzen oder beenden lassen
  • Die Kinder können ihre sprachlichen Fähigkeiten austesten. Ihre Fantasie wird angeregt, sie lernen Zusammenhänge herzustellen und Schlüsse zu ziehen.
  • Erinnerungsfragen und Rückfragen stellen, zum Beispiel: „Erinnerst du dich, wie ...?“
  • Die Kinder ziehen Kausalschlüsse, der Aufbau einer Geschichte wird deutlich.
  • Verbale und nonverbale Impulse setzen, um Gefühlsäußerungen auszudrücken
  • Die Kinder bleiben aufmerksam und werden zum Sprechen angeregt.
  • Darstellungen beschreiben lassen
  • Die Kinder lernen, genau hinzuschauen, logische Schlüsse zu ziehen und sie schulen ihre Ausdrucksfähigkeit.
  • Geschichten und Bilder nutzen, um nach den Meinungen und Erfahrungen der Kinder zu fragen
  • Die Kinder lernen, Themen von einem Kontext auf den anderen zu übertragen. Analytisches und interpretatives Denken wird gefördert. Die Ausdrucksfähigkeit wird gestärkt.
  • Die Geschichte von den Kindern weitererzählen lassen, die Kinder bitten, Vermutungen zur Handlung oder zum Verhalten einer bestimmten Figur anzustellen.
  • Anregung der Fantasie und der Ausdrucksfähigkeit: Die Kinder lernen, kausale Schlüsse zu ziehen und Handlungen zu interpretieren und gewinnen ein Bewusstsein dafür, wie Geschichten aufgebaut sind.

Wirksamkeit erwiesen

Eine erste Studie zur Wirksamkeit Dialogischen Lesens im deutschen Sprachraum führten Professor Marco Ennemoser und weitere Wissenschaftler 2013 durch. Beteiligt waren 45 Kinder mit Migrationshintergrund zwischen fünf und sechseinhalb Jahren. Mit 22 Kindern wurde regelmäßig Dialogisches Lesen praktiziert, 23 Kinder wurden über die üblichen Vorlaufkurse gefördert, die Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse vor der Einschulung erhalten. Die Förderungen fanden jeweils in Kleingruppen mit drei bis fünf Kindern statt. Die Vorschülerinnen und Vorschüler nahmen an acht Sitzungen von je einer halben Stunde Dauer teil. Unter Berücksichtigung des jeweiligen Ausgangsniveaus schnitten die Kinder aus der Gruppe „Dialogisches Lesen“ in einem Sprachtest besser ab als die Kinder der Kontrollgruppe.

Quelle

Der Fachbeitrag erschien in der BiSS-Broschüre:
Komm, wir erzählen uns eine Geschichte! Dialogisches Lesen in Kindertagesstätten
Herausgeber: Trägerkonsortium BiSS, 2017
Inhalt: Dr. Cora Titz
Journalistisches Konzept und Umsetzung: Karin Vogelsberg
Download der Broschüre

Trägerkonsortium BiSS

Telefon (0221) 470-2041

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Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
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