Wenn Kinder wütend werden

Petra Stamer-Brandt
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Auch das Gefühl der Wut gehört zu unserem Leben und „überfällt“ uns von Zeit zu Zeit und in der Regel ungewollt. Im Laufe unseres Lebens müssen wir lernen, mit diesem Gefühl umzugehen und es in Bahnen zu lenken, die sozial verträglich sind. Sie können lesen, wie Wut entsteht, warum dieses Gefühl zu unserem Leben gehört und wie Sie Ihrem Kind helfen können, mit seiner Wut sozial verträglich umzugehen.

Was Wut ist

Wut ist ein facettenreiches Gefühl, das sich durch stilles “Vorsichhinweinen” , lautes Schimpfen ebenso zeigen kann, wie durch einen tätlichen Angriff, bis hin zum Totschlag. Trotzdem gehört das Gefühl der Wut genauso zu unserem Leben gehört wie Angst, Freude, Glück und Schmerz. Wut gehört nicht nur zum Kinderleben, auch Erwachsene kennen das Gefühl der Wut haben es aber (hoffentlich!!!) gelernt, angemessen (sozial akzeptabel) mit diesem Gefühl umzugehen.

Sozial akzeptabel verhält sich Lisa, die von ihrer großen Schwester ständig gepiesackt wird. Sie verlässt das gemeinsame Kinderzimmer und verkündet der Schwester, keine Lust mehr auf Streitereien zu haben. Andre hingegen lässt seiner Wut freien Lauf und prügelt auf den großen Bruder ein.

Wut gehört zu unserer emotionalen Grundausstattung. Sie kann auch Alarmzeichen sein. Sie macht uns darauf aufmerksam, dass da etwas nicht stimmt, sich jemand nicht richtig verhält, ein Mitmensch unehrlich ist, andere ausnutzt, zu hohe, ungerechtfertigte Anforderungen stellt oder dort sanktioniert, wo Sanktion nicht angebracht ist. Wut kann auch ein Signal für eine Störung sein. Wenn Leo auf jeden abgeschlagenen Wunsch mit einem Wutausbruch reagiert, sollten seine Eltern das als Alarmzeichen betrachten und sich Hilfe suchen. Wutausbrüche sind durchaus auch erlaubt. Jeder Mensch hat ein Recht auf seine Gefühlsäußerungen, auch auf seine Wut. Wird sie unterdrückt, kann es passieren, dass sie sich später umso kraftvoller entlädt. Kinder lernen im Laufe ihres Lebens schrittweise mit ihrer Wut umzugehen, sie zu kanalisieren, um weder andere Menschen zu schädigen, noch Sachen zu zerstören.

Für Erwachsene können kindliche Wutausbrüche durchaus auch ein Signal für erhöhte Aufmerksamkeit sein. Wollen die Wutausbrüche nicht enden oder schlägt sie in verletzende Aggression um, sollte Ursachenforschung betrieben und Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Wut hat viele Ursachen

Trotz, Zorn und Wut sind verwandte Gefühle. Sie treten häufig als Reaktion auf ähnliche Situationen auf, in der Regel als Reaktion auf ein Frustrationserlebnis. Das kleine Kind wird gezwungen etwas zu tun, was es nicht möchte. Eltern erfüllen die Wünsche des Kindes nicht, das eigene Missgeschick verursacht einen Wutausbruch, aber auch eine Ablehnung, ein Verweis, eine Bestrafung oder ein Mangel an Beachtung. Die häufigsten Ursachen für Wutausbrüche sind:

Autonomiestreben

Bei Kindern zwischen etwa zweieinhalb bis drei Jahren kann der Wutausbruch ein Versuch sein, mehr Autonomie zu erlangen. Das Kind probiert Verhaltensweisen aus, die dabei helfen, den eigenen Willen durchzusetzen. Es muss und will ausprobieren, mit welchen Mitteln es sich am besten durchsetzen kann und probiert es mit Wüten, Schreien, mit den Füßen stampfen und Fluchen. Im Laufe der Entwicklung werden die Wutausbrüche weniger und vor allen Dingen weniger heftig.

Überforderung

Hendrik soll immer und überall der Beste sein. Er geht in den Fußballverein und seine ehrgeizigen Eltern feuern ihn bei jedem Spiel zu Höchstleistungen an. Er besucht die Musikschule und übt jeden Tag das Spiel auf der Flöte. Hendriks Eltern reagieren offen mit Enttäuschung, wenn Hendrik Weihnachten nicht die Hauptrolle im Krippenspiel bekommt und bei strahlendem Sonnenschein das Spiel am PC vorzieht. Kein Wunder, dass er auf die überzogenen Erwartungen der Eltern bald mit Wutausbrüchen reagiert.

Lisas Eltern meinen es besonders gut. Ihr Demokratieverständnis bewirkt, dass Lisa (5 Jahre alt) an allen Entscheidungen beteiligt wird. Lisa kann morgens kaum essen, weil sie sich nicht entscheiden kann, ob es Müsli, Marmeladenbrötchen, Cornflakes, Obstsalat oder Spiegelei geben soll. Nach dem Kindergarten geht sie mit der Mama einkaufen und leistet Kaufberatung. So geht es den ganzen Tag weiter. Lisa ist sichtlich überfordert und reagiert mit Wutausbrüchen.

Bewegungsmangel

Viele Kinder wachsen heute in verkehrsfreundlicher Umgebung auf. Platz zum Spielen haben sie oft weder im Kinderzimmer, noch auf der Straße. Kleine Kinder müssen mit den Eltern auf den Spielplatz gehen. Rasenflächen in Parks dürfen häufig nicht betreten werden oder sind von Hunden verunreinigt. Auch das Spiel am PC oder der ausdauernde Fernsehkonsum lassen Kinder zu Stubenhockern werden. Kinder brauchen aber Gelegenheiten, um sich auszutoben. Sie müssen Situationen erleben, in denen sie ihre Stärken kennen lernen und ihre Kräfte messen können. Dafür ist das Spiel im Freien und mit vielen anderen Kindern wichtig.

Reizüberflutung

Auf unsere Kinder stürmen heute viele Reize ein. Sie werden mit Werbung und Fernsehfilmen überflutet. Erhalten über Medien Informationen, die nicht altersgemäß sind und sie überfordern, werden von ihren Eltern in Kaufentscheidungen einbezogen, die zu treffen sie noch gar nicht in der Lage sind und werden mit vielen Problemen und Entscheidungen schon früh allein gelassen. Eine unübersehbare Flut von Fernsehsendungen steht den Kindern zur Auswahl. Die Kinderzimmer quellen auch in benachteiligten Familien über vor Spielzeug. Das Warenangebot in den Kaufhäusern und Supermärkten ist unübersichtlich und für ein Kind kaum zu bewältigen.

Mangelndes Selbstwertgefühl

Linda traut sich nichts zu. Sie erlebt immer wieder Situationen, in denen sie Misserfolge erlebt. Ihre Eltern sind sehr fürsorglich und auch ein bisschen ängstlich. Sie ermuntern Linda nicht gerade dazu, etwas auszuprobieren und vermitteln ihr das Gefühl, keine Fehler machen zu dürfen. Linda darf nicht auf den Baum klettern, sie könnte ja runter fallen. Zur Bushaltestelle wird Linda von ihrer Mutter gebracht, die ist sicher, dass Linda den weg noch lange nicht allein beherrscht. Ein Fahrrad, wie alle Klassenkameraden es schon haben, bekommt Linda nicht. Der Papa meint, Linda sei dafür noch nicht groß genug. Sie hört sehr oft Sätze wie: “Lass das Linda, das kannst du nicht!” oder “Dafür bist du noch nicht alt genug!” “Du könntest dich verletzen!” “Das kannst du sowieso nicht!” Irgendwann wird Linda das alles zu viel. Sie rastet aus.

Falsche Rollenerwartungen

Lukas Vater hat sich schon immer einen kernigen, sportlichen Sohn gewünscht. Dass Lukas eher über künstlerische Begabungen verfügt, sensibel ist und Gefühle zeigt, empfindet der Vater nicht als Bereicherung, sondern als Mangel. Lukas soll sich zu einem “echten Mannsbild” entwickeln. Er soll Fußball spielen, sich mit seinen Klassenkameraden fetzen und kein “Weichei” sein. Lukas bemüht sich, dem Bild des Vaters zu entsprechen. Das geht allerdings nicht lange gut. Stärke zeigt Lukas im Umgang mit kleinen Kindern, die er prügelt und an denen er seine Wut auslässt und die vermeintlich gewünschten Verhaltensweisen zeigt.

Frustration

Nele spürt, dass ihre Mutter überlastet ist. Sie möchte ihr helfen und packt, wo immer es geht, im Haushalt mit an. Sie putzt das Waschbecken im Bad, die Mama bemerkt es nicht einmal. Nele räumt die Geschirrspülmaschine aus, ihre Mutter beschwert sich, dass einige Teller an der falschen Stelle stehen. Nachdem Nele den Fußboden gesaugt hat, holt die Mutter den Staubsauger, um das Werk in den Ecken nachzubessern. Nach ein paar ähnlichen Situationen gerät Nele in Wut: “Nichts kann ich dir recht machen, mach doch deinen Mist alleine”, ruft Nele schmeißt die Putzutensilien auf den Boden und verschwindet. Diese ständigen Misserfolgserlebnisse hält sie nicht mehr aus.

Medienvorbilder

Insbesondere die Medien gaukeln unseren Kindern ein Rollenvorbild vor, das kaum nachgeahmt werden kann. Die Kinder sind komplett durchgestylt, bekommen alle Wünsche erfüllt und werden wie kleine Prinzen und Prinzessinnen behandelt. Mädchen sind vorwiegend hübsch und sehr schlank, während Jungen immer noch suggeriert wird, dass sie stark und sportlich sein müssen. Gewalt wird als legitimes Mittel der Auseinandersetzung vorgeführt und wer häufig Comics schaut erlebt, dass ein Schlag auf den Kopf keine Wirkungen zeigt. Der Geschlagene steht ohne Blessuren wieder auf und die Prügelei geht fröhlich in die nächste Runde.

Wer an seine medialen Rollenvorbilder nicht heranreicht und immer wieder erlebt, dass die Chance so wie die Fernsehhelden zu werden sehr gering ist, kann leicht in Wut geraten.

Wie Wut entsteht

Über die Entstehung von Wut gibt es unterschiedliche Theorien:

  1. S. Freud geht davon aus, dass Gefühle wie Aggression und Wut Trieb- oder Instinktäußerungen sind.
  2. J. Dollard beschreibt sie als Reaktion auf ein Frustrationserlebnis, die entsteht, wenn die Bedürfnisbefriedigung ständig verhindert wird.
  3. A. Bandura geht davon aus, dass es sich bei dieser Verhaltensweise um einen Lernprozess handelt (Nachahmung elterlichen Verhaltens, Reaktion auf Filmszenen …).

Wut ist, welcher Theorie auch immer man anhängt, auf jeden Fall eine Reaktion auf eine unangenehme Wahrnehmung. Wer angemessen auf einen Wutausbruch reagieren möchte, sollte deswegen nicht spontan reagieren, sondern klären, welche Wahrnehmung dem Ausbruch zu Grunde liegt.

Was ist zu tun?

Zunächst einmal ist es wichtig, die Ursachen für den Wutausbruch zu erforschen. Geht es um eine natürliche Reaktion, die auf einer Enttäuschung beruht, ist es die Reaktion auf einen Angriff oder erprobt das Kind im Rahmen seiner Autonomieentwicklung seine eigene Durchsetzungsfähigkeit? In diesen Fällen sollten Sie die Ruhe bewahren und einen langen, geduldigen Atem haben. Vielleicht ist Ihr Kind auch unsicher und fühlt sich in einer größeren Gruppe nicht wohl und reagiert deswegen mit Wutausbrüchen.

  • Ignorieren Sie das unerwünschte Verhalten, bieten Sie ein Gespräch an und lassen Sie sich nicht durch die Bemerkungen anderer Menschen aus der Ruhe bringen. Lassen Sie sich von der Wut Ihres Kindes nicht anstecken. Sprechen Sie möglichst ruhig und leise, das dämpft die Wut. Bleiben Sie freundlich, denn einem freundlichen Menschen gegenüber wütet man nicht so leicht.
  • Lassen Sie sich vor allen Dingen nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen wie Schlagen oder Schreien. Manchmal ist es wichtig, die Wut erst einmal verrauchen zu lassen und erst dann ein Gespräch anzubieten, wenn der Zorn sich etwas gelegt hat.
  • Lassen Sie Ihr Kind eine Weile allein. Verlassen Sie den Raum und teilen Sie Ihrem Kind mit, dass Sie zwar verstehen können, dass Ihr Kind wütend ist, aber trotzdem die Notwendigkeit sehen, über die Sachlage und die Art und Weise des Wütens zu reden. Bieten Sie ein Gespräch in aller Ruhe an.
  • Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind sich ausreichend an der frischen Luft bewegt. Das funktioniert nicht so gut, wenn Sie es einfach nur auf den Spielplatz schicken. Gehen Sie mit, bieten Sie eine attraktive Bewegungsmöglichkeit an. Auch Ihnen wird ein Entdeckungsspaziergang im Wald, ein Besuch der Schwimmhalle, ein Fahrradrennen oder eine Schneeballschlacht gut tun.
  • Treffen Sie Vereinbarungen über die Länge des Medienkonsums.
  • Vermeiden Sie Reizüberflutung.
  • Beteiligen Sie Ihr Kind an möglichst vielen Entscheidungen und machen Sie Ihre eigenen Entscheidungen transparent.
  • Bieten Sie Ihrem Kind Herausforderungen, die es bewältigen kann. Jeder Mensch braucht Erfolgserlebnisse und jedes Lob stachelt an. Nutzen Sie die Stärken Ihres Kindes.
  • Versuchen Sie, eine frustrationsarme Atmosphäre zu verschaffen.
  • Seien Sie ein gutes Vorbild.
  • Reden Sie viel mit Ihrem Kind. Wer seine Wut verbalisieren kann, kann sie leichter verarbeiten.
  • Bieten Sie Ihrem Kind ein Ventil, das ihm dabei hilft sich zu beruhigen. Reden macht nicht immer Sinn. Manchmal braucht das Kind einen Boxsack, einen fairen Ringkampf oder die Möglichkeit, ordentlich zu schreien.
  • Manchmal sind die Kinder nicht ausgelastet und geraten darüber in Wut. Helfen Sie Ihrem Kind dabei, die Balance zwischen Ruhe und Aktivität zu finden.
  • Machen Sie Ihrem Kind klar, dass es Grenzen und Regeln gibt, die es einzuhalten gilt.
  • Stellen Sie gemeinsam Regeln auf.
  • Bieten Sie spielerische erste Hilfen der Wutverarbeitung an:
    • laut schreien.
    • mit den Eltern oder Geschwistern eine Kissenschlacht veranstalten,
    • eine Zeitung in klitzekleine Stücke reißen,
    • mit den Füßen stampfen,
    • mit den Fäusten auf einem umgedrehten Plastikeimer trommeln,
    • einen Wettlauf veranstalten,
    • Schimpfwörter erfinden und herausschreien,
    • eine Auszeit nehmen.

Kinder brauchen Freiheit und Herausforderungen

Kinder entwickeln sich am besten, wenn sie dafür einen Rahmen haben, der ihnen einerseits ein hohes Maß an Freiheit gewährt, andererseits auch Regeln und Grenzen aufzeigt. Ihr Kind möchte einen Rahmen haben, in dem es sich unbeobachtet ausprobieren kann. Es möchte nicht ständig gegängelt werden und Vorschriften bekommen. Erwachsenenfreie Zonen sind, in einem dem Alter angemessenem Rahmen, für die Weiterentwicklung der Kinder unabdingbar. Kinder erobern sich ihre Welt Schritt für Schritt selbständig. Gesunde und selbstbewusste Kinder lernen schnell ihre Grenzen kennen und akzeptieren. Sie gehen kleine Schritte und haben ein gutes Gespür für sich selbst. Unterforderung und Mangel an echten Herausforderungen sind für Kinder unserer Zeit ebenso ein Problem, wie Reizüberflutung und Überforderung. Eltern haben in der Regel auch ein gutes Gespür für ihre Kinder. Dem sollten Sie ruhig folgen und darauf achten, dass zwischen Ruhe und Herausforderung eine Balance hergestellt wird. Wenn Sie Ihr Kind genau beobachten, erkennen Sie, wann Ihr Kind Anregung braucht und wann Entspannung angesagt ist.

Literatur

  • Petra Stamer-Brandt (2003): “Das Erziehungs-ABC – Von Angst bis Zorn” Gräfe& Unzer, München.
  • Petra Stamer-Brandt (2003): “Wut-weg-Spiele”, Herder, Freiburg.
  • Petra Stamer-Brandt (2012): Wilde Kerle Spiele. Herder-Freiburg.
  • Monika Murphy-Witt/Petra Stamer-Brandt (2004):”Was Kinder für die Zukunft brauchen” Gräfe & Unzer, München.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Petra Stamer-Brandt ist Mutter von vier Kindern, Pädagogin und Fachjournalistin. Sie ist ausgebildete pädagogische Organisationsberaterin, Coach (Advanced Studies Universität Kiel) und hat zahlreiche Fachbücher und Elternratgeber geschrieben.

Erstellt am 13. Dezember 2013

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
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