Warum brauchen Kinder Freunde?

Prof. Dr. Renate Valtin und Prof. Dr. Reinhard Fatke
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Pädagogen und Psychologen sind sich darin einig, dass Freundschaften unter Kindern einen wichtigen Ort für kommunikatives, soziales und moralisches Lernen bilden. Welche Vorstellungen und Erwartungen Kinder selbst an Freunde und Freundschaften haben, wurde in einer großen Interviewstudie untersucht, deren wichtigste Ergebnisse hier zusammengefasst sind.

Was Experten meinen

Fachleute aus Psychologie, Soziologie und Pädagogik sind sich darin einig, dass Freundschaft für die kognitive, soziale und moralische Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle spielt und eine wesentliche “Sozialisationsinstanz” darstellt (Youniss 1982, Krappmann 1987). Bei der notwendigen Ablösung der Kinder von den Eltern sind die Gleichaltrigen, speziell die Freunde, von großer Bedeutung, weil die besondere Struktur dieser Beziehung auch besondere Herausforderungen an das Kind stellt. Während die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern durch Über- und Unterordnung, durch Autorität und Gehorsam charakterisiert ist, sind Freundschaftsbeziehungen – in denen sich in der Regel Gleichaltrige des gleichen Geschlechts zusammenfinden – eher durch Gleichheit, Gleichrangigkeit und Gegenseitigkeit gekennzeichnet.

Freundschaftsbeziehungen

  • geben Anstöße zur kognitiven Entwicklung, indem sie mithelfen, den Egozentrismus des Kindes zu überwinden,
  • sind ein Ort der Herausforderung und ein Übungsfeld für sich entwickelnde soziale Verhaltensweisen,
  • liefern aufgrund der Ähnlichkeit und Gleichrangigkeit der Kinder Verhaltens- und Bewertungsstandards und bieten damit eine Orientierungssicherheit,
  • sind eine Quelle der Anerkennung, aber auch der Kritik und Zurückweisung und ermöglichen dem Kind, ein realistisches Selbstbild zu entwickeln,
  • tragen dazu bei, sich Maßstäbe zu erarbeiten und Normen vereinbaren zu können, und helfen dem Kind, moralische Standards zu entwickeln, die an den Prinzipien der Gleichheit, Wechselseitigkeit und Fairness orientiert sind.

Was Kinder und Jugendliche meinen

Vivian (5 Jahre): “Freunde braucht man, sonst kann man zum Geburtstag auf einmal keinen einladen.”

Jörg (8 Jahre): “Wenn einer mit mir stänkert und so, und ich will was bauen, und er macht mir das alles kaputt, dann hilft der Freund mir bei, den zu kloppen. Wenn’s zwei sind, dann hilft er mir.”

Ali (18 Jahre): “Na, wenn es irgendwie Streitereien gibt mit anderen oder so, dann kann man mit denen wenigstens, mit denen was unternehmen und so was alles.” Und auf die Frage, was es denn heiße, etwas unternehmen, erläutert er: “Weggehen, Scheiße bauen … Wenn sich irgend jemand mit mir schlagen will und ich schaff’s nicht, dass der mir dann hilft.”

Dies sind beispielhaft einige Äußerungen von Kindern aus einer größeren Studie zu Freundschaftskonzepten. Befragt wurden rund 100 Kinder und Jugendliche in Einzelgesprächen von jeweils 30 bis 45 Minuten Dauer. Die offen formulierten Fragen (nach Selman 1984) konzentrierten sich auf folgende Bereiche: Wie entstehen Freundschaften? Welche Motive liegen der Freundschaft zugrunde? Wodurch zeichnet sich ein idealer Freund/eine ideale Freundin aus? Gibt es Streit in der Freundschaft? Wie entsteht er, und wie wird er geschlichtet? Welche Rolle spielt Vertrauen? Wodurch gehen Freundschaften auseinander? Welche Beziehungen existieren zwischen Freundschaft und Liebe?

Im Folgenden analysieren wir unsere Daten genauer nach Anzahl und Geschlecht der Freunde, Persönlichkeitsmerkmalen der Freunde und vor allem nach Motiven und Bedeutung der Freundschaft. Da sich die Studie auch auf Erwachsene bezog, sollen sie an einigen Stellen ebenfalls zu Wort kommen, um zu illustrieren, wie die Entwicklung der Freundschaftskonzepte verläuft (detaillierte und ausführliche Auswertungen dazu in Valtin/Fatke 1997).

Anzahl und Geschlecht der Freunde

Die Frage “Hast du einen besten Freund/eine beste Freundin?” bejahten – mit verschwindend geringen Ausnahmen – alle befragten Personen. Die Kinder haben in der Regel die meisten Freunde, nehmen es aber nicht so genau. Jens (6 Jahre) sagt: “Viel, viel, sehr viele … kann ich gar nicht alle nennen.” Kerstin (6 Jahre) nennt eine bunte Mischung von Freunden: “Thorsten, Katharina, nochmals Katharina, zwei Katharinas. Dann, wir haben ‘ne Erzieherin, die heißt Hanna, die ist ganz nett. Und Mutti und Papi und unsere Katze.” – Freunde sind für Kinder offenbar alle die Menschen (oder auch Tiere), die zu ihnen nett sind. Bei diesem Kriterium ist es nicht verwunderlich, wenn Freunde rasch wechseln.

Mit steigendem Alter nimmt die Zahl der Freunde zunächst ab. Die Acht-, Zehn- und insbesondere die Zwölfjährigen nennen in der Regel nur noch einen “besten Freund” (und dazu mehrere andere Freunde), strikt begrenzt auf das eigene Geschlecht. – Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren geben in der Mehrzahl der Fälle wieder mehrere Freunde an, die häufig eine zusammengehörige Freundesgruppe (Clique) bilden und meist dem eigenen Geschlecht angehören. Eine Ausschließlichkeit der Freundschaftsbeziehung ist nicht gegeben; die richtet sich jetzt vielmehr bereits auf die ersten Liebesbeziehungen.

Ähnlich oder verschieden?

Was sind das für Menschen, die man zu Freunden wählt? Gibt es Differenzmuster? In dem Sprichwort “Gleich und Gleich gesellt sich gern” ist offenbar die Lebenserfahrung gebündelt, dass Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen – hinsichtlich Alter, Herkunft, Interessenlage, Einstellungen – für das Zusammenkommen von Freundschaftsbeziehungen ausschlaggebend sind. Ihr entgegen steht allerdings die andere Lebenserfahrung, die in dem Sprichwort “Gegensätze ziehen sich an” ausgedrückt ist. Ist Verschiedenheit in den genannten Bereichen das haltbarere Fundament für Freundschaftsbeziehungen – in dem Sinne, dass nur sie die Chance zu einer spannungsvollen Lebendigkeit und zur gegenseitigen Erweiterung der eigenen Lebensmöglichkeiten bieten?

Für Kinder ist die Frage ganz klar: Freunde sind vor allem solche Gleichaltrigen, die genauso sind wie sie selbst. Anja wünscht sich ihre Freundin “klein … so wie ich, damit wir uns gegeneinander verstehen.” Oder Markus meint: “Mein Freund soll so sein, wie ich bin. Er muss mit mir spielen … Playmobil, das ist mein liebstes Spielzeug.”

Die Jugendlichen streichen ebenfalls die Gemeinsamkeiten heraus, jedenfalls zunächst: Gleiche Interessen, gleiche Hobbys, gleiche Wellenlänge werden genannt; Ulli (17 Jahre) meint: “Wenn man gleiches Alter ungefähr hat, gleiche Interessen, vielleicht auch die gleichen Probleme, dann findet man halt zueinander.” – Sunny (18 Jahre) drückt ihre Ansicht folgendermaßen aus: “Und man muss möglichst viel zusammen machen können, also die Eigenschaften müssen übereinstimmen, die Interessen.” – Axel (28 Jahre) meint: “Na, weil Interessenlagen ja irgendwie in gleicher Richtung sein müssen. Ja. Interessenlagen. Einstellungen zu irgendwelchen politischen tages-, ja tagespolitischen oder sportlichen oder sonst was – Einstellung muss irgendwo gleich sein.”

Viele Jugendliche differenzieren jedoch zumeist gleich im Anschluss an solche Überlegungen. Ulli (17 Jahre) beispielsweise fährt fort: “Ich finde also irgendwie, gleiche Eigenschaften wie ich selbst, das ist irgendwie langweilig. Ich finde, er sollte das machen, was ihm halt Spaß macht. Wenn’s gut ist, interessier’ ich mich auch dafür. Aber er soll so sein, wie er ist.” Und Friederike (17 Jahre) meint: “… dass wir halt viele Gemeinsamkeiten haben, gemeinsame Ansichten vielleicht. Das muss aber nicht so sein. Es kann auch sein, dass man konträre Ansichten hat oder dass man sich irgendwie ergänzt …, dass man sich nicht miteinander langweilt.”

Hier tritt bereits der Aspekt der Ergänzung hervor – einer Ergänzung, die als notwendig empfunden wird, einerseits um der Eintönigkeit und Langeweile zu entgehen, die sich bei allzu großer Übereinstimmung einzustellen drohen; andererseits aber um Anregungen durch andere Ansichten, Widerspruch, Korrekturen zu erhalten, die allein zur Erweiterung des eigenen Horizonts wie auch zur Bereicherung der Lebenserfahrung führen können.

Dieser Aspekt steht bei den Erwachsenen noch stärker im Vordergrund. Stellvertretend sei Christine (34 Jahre) zitiert: “Ich würde nicht mal sagen, dass er oder sie unbedingt so sein muss wie ich. Ganz im Gegenteil, ich finde, er oder sie sollte auch gewisse Bereiche ergänzen, wo ich vielleicht unsicher bin. Zwei meiner Freundinnen, die leben ein vollkommen anderes Leben als ich. Und da finde ich eigentlich immer eher anregend, muss ich sagen, mich auch mal mit dem auseinander zu setzen, dass die eben ganz andere Ansichten, über Familie und Kinder und so was, haben. Von daher, glaube ich, muss so eine Freundschaft, um überhaupt vital zu sein, irgendwo auch so’n bisschen kontrastreich sein.”

In dieser Äußerung wird deutlich, dass Freunde auch Gegenpart sein können und sollen, weil dies eine produktive Spannung ergibt, die zur Erweiterung der Identität, zur Sicherung des Selbst führen kann. Gleichwohl wird an einer Übereinstimmung in Grundlagenfragen und Grundansichten festgehalten.

In den Präferenzen für die Persönlichkeitsmerkmale der Freunde sind auch bereits Hinweise auf die Bedeutung enthalten, die Freundschaft für das Leben im Ganzen und die Entwicklung der Persönlichkeit im Besonderen hat. Solche Hinweise sind in den Äußerungen der befragten Personen vielfach eher verschlüsselt oder indirekt vorhanden, als dass sie explizit gemacht würden.

Motive der Freundschaft

Um die von den befragten Personen genannten Bedeutungen von Freundschaft zu ordnen, scheint es sinnvoll, vier Aspekte zu unterscheiden, die sich zwar in der Realität häufig überlagern; manche Freundschaften aber haben jeweils in einem dieser Aspekte ihre wesentliche Begründung:

  1. ein pragmatisch-utilitaristischer Aspekt,
  2. ein sozialer Aspekt,
  3. ein personaler Aspekt und
  4. ein emotionaler Aspekt.

Diese Aspekte haben eine je unterschiedliche Gewichtung und je verschiedenartige Inhalte auf den jeweiligen Altersstufen.

Pragmatisch-utilitaristische Gesichtspunkte sind für die jüngeren Kinder das wichtigste Motiv für eine Freundschaft. Alle Fünfjährigen und fast alle Sechsjährigen sagen, einen Freund brauche man zum Spielen. Von acht Jahren an wird der Freund auch als Helfer in schwierigen Situationen wichtig, zum Beispiel, wenn man von anderen bedroht oder verhauen wird, wenn man eine schwere Tasche tragen muss, wenn man seine Schularbeiten nicht bewältigt oder sonst wie in der Klemme steckt. Kinder nennen häufig körperliche Notlagen, Jugendliche und Erwachsene seelisch-moralische Problemsituationen, in denen sie vom Freund Beistand und Unterstützung erwarten. Dennoch finden sich manchmal auch noch bei Jugendlichen zum Beispiel ganz konkrete Motive pragmatisch-utilitaristischer Natur.

Beim sozialen Aspekt geht es zunächst einmal um den Freund als Gesellschafter und Unterhalter und als Mittel gegen das Alleinsein. Vor allem die Sechsjährigen betonen: “Es ist so langweilig, allein zu sein oder allein zu spielen; deshalb brauche ich einen Freund.” – Bei den Jugendlichen spielt dieser Gesichtspunkt ebenfalls eine große Rolle, sie äußern sich jedoch eher allgemein und pauschal: “Sonst ist man so allein und weiß nie, was man machen soll.” “Freunde braucht man einfach, damit man nicht allein durchs Leben gehen muss.”

Alleinsein – das ist insbesondere im Jugendalter, eine existentielle Grunderfahrung. Im Alleinsein wird sowohl das eigene Einmalig-Sein als auch Einsamkeit erfahren. In der Polarität von Selbsterfahrung als Individuum und einer zukunftsgerichteten Gemeinsamkeit entfaltet sich nun die besondere Freundschaft im Jugendalter. – Bei den Erwachsenen sind es vor allem die Frauen, die auf dieses Einsamkeitsmotiv verweisen. Offenbar sind sie eher als Männer bereit, sich (und der Interviewerin) diese Gefühle einzugestehen.

Ferner geht es beim sozialen Aspekt der Freundschaft darum, dass ein oder mehrere Freunde einen geschützten sozialen Nahraum bieten, der Sicherheit, Verlässlichkeit und Stabilität garantiert. Auf jeder Altersstufe wird dieser Nahraum anders konzipiert. Für die Fünf- und Sechsjährigen sind vor allem die äußeren Verhaltensweisen des Freundes wichtig: Der Freund soll vor allem “nett” sein, in dem Sinne, dass er keine aggressiven Verhaltensweisen zeigt (Sebastian: “Nicht böse, nicht hauen” ; Guido: “Nicht rumtoben oder alle Sachen so ‘rumschmeißen” ; Robert: “Nicht so grantig, nicht wie Theo, der faucht mich immer an” ; Mirra: “Nicht immer stänkern” ).

Auch Achtjährige wünschen sich in den meisten Fällen einen “netten” Freund, der ihren Bedürfnissen dient. Die häufigsten Erwartungen an den Freund lauten: “Er muss lieb zu mir sein; er soll immer zu mir kommen, mich abholen und spielen, was ich möchte.” Bei den Zehn- und Zwölfjährigen drückt sich die vom Freund erwartete Sicherheit und Verlässlichkeit darin aus, dass er einerseits freundlich, hilfsbereit, verträglich und umgänglich und andererseits verschwiegen sein soll: Er darf nicht petzen und keine Geheimnisse verraten.

Vor allem Jungen betonen diesen Gesichtspunkt des Zusammenhaltens und Dichthaltens, die Komplizenschaft: Alexander (12 Jahre) führt aus: “Er soll keine Geheimnisse verbreiten, dass er zu einem hält, irgendwie treu muss er schon sein. Dass er zu einem hält, wenn man etwas anstellt, dass er es nicht einfach verrät. Und dass man, wenn es irgendwie herauskommt, auch zugibt, dass man dabei war. Und dass man sich nicht einfach drückt und sagt, der hat das alleine gemacht – Freunde, die eigentlich gar nicht zu einem halten, von denen halte ich nicht viel.”

Für die Mädchen unserer Stichprobe ist die Freundin eine verschwiegene, verständnisvolle Gesprächspartnerin, der sie Probleme anvertrauen können, die sie nicht mit anderen, zum Beispiel mit der Mutter, besprechen möchten. Im Gegensatz zu den Jungen, für die eher die komplizenhafte Solidarität zählt, betonen die Mädchen also die Verlässlichkeit im Austausch persönlicher Belange.

Für Jugendliche und Erwachsene bedeutet die Freundschaft einen Rückhalt in ihrem Leben, “eine Stütze im Leben” ; sie verleiht ihnen Sicherheit und Stabilität. Viele betonen, dass es nicht so wichtig sei, dass Freunde konkret etwas für einen tun, sondern wichtiger sei das Gefühl, dass sie einfach nur da sind, dass man auf ihre Zuverlässigkeit zählen könne. Sabine (36 Jahre) meint: “Also, ich brauche einfach Freunde um mich herum. Ich könnte nicht nur mit einem Partner leben. Das würde mir nicht reichen. Ich brauche einfach Leute um mich, bei denen ich mich sicher und wohl fühle. Das gibt so eine Sicherheit, die ich im Hintergrund habe.”

Parallel zu den unterschiedlichen Auffassungen, wie sich der sichere soziale Nahraum herstellen lässt, entwickelt sich der Begriff von Vertrauen. Während fünfjährige Kinder mit diesem Wort noch gar nichts anfangen können, beziehen sich Sechs- und Achtjährige eher auf äußere Verhaltensweisen: Erich sagt zum Beispiel: “Vertrauen ist, wenn du viel Geld dabei hast und keine Tasche und der Freund eine große Tasche hat, und du gibst es ihm, und er gibt es dir hinterher wieder.” – Und Günther mit seinen 35 Jahren sagt: “Ich würde ihm mein neues Motorrad leihen. weil ich weiß, er behandelt es so gut, wie ich es tue.”

Vertrauen, das vom Alter mit zwölf Jahren an als wichtigste Voraussetzung für Freundschaft begriffen wird, bezieht sich mit wachsendem Lebensalter auf unterschiedliche Bereiche: Bei den Zwölfjährigen ist es das Bewahren von Geheimnissen, bei Jugendlichen und Erwachsenen das Nicht-Weitersagen intimen Wissens. Zugleich differenziert sich das Konzept, so dass neben dieser Verschwiegenheit für Jugendliche und Erwachsene zunehmend die Zuverlässigkeit und Loyalität des anderen wichtig wird ( “Er steht zu seinem Wort und hält zu mir” ).

Beim personalen Aspekt der Freundschaft geht es darum, dass Freundschaft eine Intimsphäre schafft, die der Identitätsfindung und Identitätssicherung dient. Diese Momente gewinnen erst bei den Jugendlichen und Erwachsenen an Bedeutung: Dem Austauschen von intimen Gedanken, Gefühlen, Ängsten, Sorgen wird hauptsächlich von den Jugendlichen eine psychohygienische Bedeutung zugemessen ( “sich alles von der Seele reden können” ). Thomas (18 Jahre) meint: “Es ist wichtig, einen Freund zu haben, weil man nicht immer alles in sich reinfressen kann. Man muss sich mal mit jemandem unterhalten können.” Und Friederike (17 Jahre) sagt: “Also, irgendwie erlebt man den ganzen Tag ziemlich viel, und irgendwem musst du das ja auch erzählen. Na ja, also sonst würdest du manchmal platzen.”

Der wechselseitige Austausch intimer Gedanken und Probleme enthält ferner die Chance zur Selbsterkenntnis und zur persönlichen Weiterentwicklung. Aus den Aussagen vieler Jugendlicher wird deutlich, dass eine Freundschaftsbeziehung zur Identitätssicherung und Persönlichkeitsentfaltung beitragen kann. Unterstrichen wird dies durch Äußerungen wie “Ich kann so sein, wie ich bin, und der andere kann so sein, wie er ist.” Wenn man bedenkt, dass Jugendliche in diesem Alter – nach Auflösung der vorher geltenden, an den Eltern gebildeten Orientierungen – noch auf der Suche nach einer neuen, eigenen Identität sind, dann ist dies zugleich ein Hinweis darauf, dass ein persönlicher und sozialer Raum gesucht wird, in dem ein neues Selbstsein ausprobiert werden kann, ohne Angst davor haben zu müssen, sich Blößen zu geben. Die Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit sind in dieser Entwicklungsphase ganz besonders groß. Umso wichtiger ist es, jemanden zu haben, der einen voll und ganz akzeptiert.

Emotionale Aspekte, die die Freundschaft begründen und begleiten, spielen auf jeder Altersstufe eine Rolle. Sie kommen zum Ausdruck in Wendungen wie “sich mögen, sich gern haben, sympathisch sein” und Ähnliche. Während bei Kindern diese positiven Gefühle überwiegend daran gebunden sind, dass die Freunde ihnen ähnlich sind und hauptsächlich das tun, was sie gern möchten – das ist der Prüfstein, ob der/die andere als “nett” eingeschätzt wird -, entwickeln sich im Jugendalter tiefergehende Gefühle von Zuneigung und Bindung. Diese bilden einerseits ein Gegenmittel gegen die bereits erwähnte Einsamkeitserfahrung und sind andererseits mit Verletzlichkeit verknüpft und von Verlustängsten begleitet.

Dabei geht es nicht nur um die bange Frage, ob man von anderen akzeptiert und gemocht wird, sondern auch darum, ob und wie man selbst in der Lage ist, einem anderen Zuneigung entgegenzubringen und die eigenen Gefühle in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und manchmal auch Widersprüchlichkeit offen zu zeigen. Einer Person vom gleichen Geschlecht gegenüber emotionale Zuwendung auszudrücken, ohne sich in homoerotischen Irritationen zu verfangen, ist anscheinend genauso schwierig, wie einer Person vom anderen Geschlecht Zuneigung zu offenbaren, ohne gleich in Liebeswirrungen zu stürzen.

Für die Differenzierung der Gefühle, so lässt sich sagen, leisten Freundschaften einen unentbehrlichen Dienst. Zweifellos sind sie in diesem Sinne auch, zumindest im Jugendalter, so etwas wie ein Übungsfeld für Liebesbeziehungen. Die meisten Jugendlichen sind der Meinung, dass für sie die Liebe alles das enthält, was auch in der Freundschaft wichtig ist – und was sie zunächst darin erfahren haben -, und außerdem noch etwas Entscheidendes hinzukomme, die körperliche Intimität.

Zwar sagen die Jugendlichen in der Mehrzahl, dass sie ihre Freundschaften nicht aufgeben, wenn sie eine Liebesbeziehung eingehen, aber dass jene doch deutlich hinter diese zurücktreten und an Bedeutung verlieren. Der/die Partner/in in der Liebe erfüllt nun die wichtigsten Funktionen, die vormals die Freunde erfüllt haben; außerdem wird die Zeit zur Pflege der Freundschaften jetzt knapp, und schließlich tauchen auch immer wieder Probleme auf, wenn die Freunde die Partnerin oder den Partner nicht akzeptieren oder umgekehrt.

Alterstypische Grundmuster

Betrachten wir zusammenfassend die Bedeutung der Freundschaft für die Befragten unserer Stichprobe, so ergeben sich altersabhängig jeweils typische Grundmuster:

Für die Fünf- und Sechsjährigen begründet sich Freundschaft im momentanen Miteinander- Spielen, und vom Freund oder der Freundin wird im Wesentlichen verlangt, dass er oder sie nett sei und gut spielen könne. Für die Achtjährigen ist die Freundschaft eine einseitige, zweckorientierte Beziehung: der oder die andere soll möglichst das spielen oder tun, was ich möchte, und muss nett zu mir und verträglich sein. Bei den Zehn- und Zwölfjährigen ist die Freundschaft eher eine wechselseitige Beziehung, die der Verfolgung gemeinsamer Aktivitäten und der gegenseitigen Unterstützung in Notlagen dient. Freunde sollen deshalb im Wesentlichen vertrauenswürdig, solidarisch und verträglich sein. Bis zu diesem Alter ist der Freund eher durch äußere Verhaltensweisen gekennzeichnet: besondere Charaktereigenschaften werden von ihm nicht verlangt.

Erst bei unseren Jugendlichen, die Freundschaft als wechselseitigen Austausch von intimen Gedanken und Problemen ansehen, gewinnt der Freund auch eine charakterliche Kontur: Er soll ehrlich, zuverlässig, vertrauenswürdig, taktvoll und sensibel sein. – Bei einigen Erwachsenen deutet sich eine Konzeption von Freundschaft an, die Raum lässt für Autonomie und Distanz und auf diese Weise als Medium der Erweiterung des eigenen Lebenspotentials betrachtet wird. Herbert (51 Jahre) sagt: “Zur Freundschaft gehört auch, dem anderen seinen Freiraum, seine Autonomie zu lassen.” Die schon im Jugendalter zu beobachtenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden mit zunehmendem Alter noch deutlicher, wobei sich auch Differenzen zwischen Personen aus Ost- und Westdeutschland abzeichnen (Valtin/ Fatke 1997).

Eine detaillierte Beschreibung aller Ergebnisse findet sich in dem Beitrag von Renate Valtin “Und plötzlich waren wir Freunde” – Was Kinder über Freunde und Freundschaft denken.

Literatur

  • Krappmann, L.: Kinder lernen mit und von Gleichaltrigen – auch in der Schule?, Die Grundschulzeitschrift 2, 1987, 42-46
  • Selmann, R. L.: Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und klinische Untersuchungen. Frankfurt 1984
  • Valtin, R./Fatke, R.: Freundschaft und Liebe. Persönliche Beziehungen im Ost/West- und im Geschlechtervergleich. Donauwörth: Auer 1997
  • Youniss, J.: Die Entwicklung und Funktion von Freundschaftsbeziehungen. In: Edelstein, W./ Keller, M. (Hrsg.): Perspektivität und Interpretation. Frankfurt 1982

Weitere Beiträge von Prof. Dr. Renate Valtin hier in unserem Familienhandbuch

Autoren

Renate Valtin ist Professorin (i. R.) für Grundschulpädagogik an der Humboldt Universität zu Berlin und Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zur Schulpädagogik und Entwicklungspsychologie. 2000 wurde sie in die “Reading Hall of Fame” berufen. Sie ist Mitglied des Konsortiums der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) und Präsidentin aller europäischen Lesegesellschaften (IDEC).

Prof. em. Dr. Reinhard Fatke
Professor für Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Sozialpädagogik
Pädagogisches Institut, Universität Zürich
Gloriastrasse 18a
CH-8006 Zürich

Tel: +41 1 634 27 63

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Erstellt am 19. März 2004, zuletzt geändert am 23. Januar 2014

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