Entwicklung des Selbstwertgefühls und kindliches Lügen

Dr. Erika Butzmann

Das Selbstwertgefühl ist eine zarte Pflanze, die Kinder mit aller Kraft zu schützen versuchen. Zur Entwicklung des Selbstwertgefühls gehört auch das kindliche Lügen. Dies ist den Kindern bis ins Grundschulalter hinein nicht bewusst. Wie sich das Selbstwertgefühl entwickelt und welche Rolle das kindliche Lügen dabei spielt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

Grundlagen des positiven Selbstwertgefühls

Schon früh in der Entwicklung ist das Selbstwertgefühl für das Baby spürbar, denn es empfindet positive Gefühle bei eigenen Handlungen. So krabbelt zum Beispiel das neun Monate alte Baby einem rollenden Ball hinterher, hält inne und schaut zurück zu Mutter oder Vater und erobert den Ball. Mit seiner Freude darüber und der wahrgenommenen Freude der Bezugsperson spürt es das erste Aufkeimen des Selbstwertgefühls. Es merkt, dass es etwas bewirkt hat und empfindet die Liebe der Eltern.

Wie alle Entwicklungsbereiche ist auch die Ausbildung des positiven Selbstwertgefühls abhängig von einer sicheren Bindung an die Eltern. Prinzipiell ruht das Selbstwertgefühl auf zwei starken Säulen: auf der einen Seite die Liebe der Eltern und auf der anderen Seite die Erfahrung, eine geplante Aktion zum Erfolg zu führen. Diese beiden Kräfte spielen in den ersten drei Jahren zusammen; denn nur mit dem Gefühl des Kindes, von den Eltern geschützt und geliebt zu werden, kann es die Umwelt erkunden. Bei den Erkundungen kommt es zu den Situationen, die ein starkes positives Gefühl beim Kind hervorrufen; besonders wenn es etwas Neues entdeckt. Die zuerst nur leichten Erinnerungsspuren an ein positives Gefühl steuern das weitere Verhalten des Kindes; so will es die Umwelt immer wieder neu erforschen. Im Gehirn des Kindes bildet sich über die ständig inszenierten kleinen Erfolge das Belohnungszentrum mit dem Neurotransmitter Dopamin aus. Diese immer wieder erlebten guten Empfindungen sind die Grundlage für das positive Selbstwertgefühl und treiben das Lernen voran.

Das Selbstwertgefühl und die Wut bei Misserfolg

Führt eine geplante Handlung nicht zum Erfolg und bleiben die erwarteten positiven Empfindungen aus, wird das Kind von negativen Gefühlen überflutet. So sind bereits Babys sehr wütend, wenn sie ein anvisiertes Ziel nicht erreichen. Stark und häufig kommen solche Reaktionen im dritten Lebensjahr vor, wenn die erste Stufe des Selbsterkennens erreicht ist und das Kind bewusster und gezielter handeln kann. Der genetisch gesteuerte Drang zum Selbstständig werden beeinflusst jetzt das kindliche Verhalten. Wenn dem Kind dabei situativ etwas nicht gelingt, gerät es außer sich vor Wut und lässt sich nicht helfen. Dann nutzt die Liebe der Eltern nichts, das Kind kann ihre Hilfe nicht annehmen.

Im Zentrum der Wut steht das Selbstwertgefühl, das bei Misslingen einer Aktion in den Keller rutscht. Beruhigt sich das Kind, erinnert es sich wieder an das gute Gefühl bei Erfolgen, so dass es das Ganze noch einmal versucht. Die meisten Kinder hören dann auf gutes Zureden der Eltern. Gelingt der zweite Versuch, schüttet das Belohnungssystem im Gehirn des Kindes besonders viel Dopamin aus. Das Kind erlebt damit ein noch intensiveres Gefühl und ist motiviert, es auch beim nächsten Misslingen erneut zu versuchen. Auf diesem Weg entwickelt sich die sogenannte intrinsische Motivation, also ein von innen kommender Drang, etwas erreichen zu wollen. Zusammen mit der Freude der Eltern über die Leistungen des Kindes ergibt sich daraus die Leistungsmotivation für die weitere Entwicklung.

Die Ichbezogenheit der Dreijährigen

Durch die Ichbezogenheit äußern die Dreijährigen unbekümmert ihre Gedanken und erzählen Geschichten. Sie können noch nicht zwischen Fantasie und Realität unterscheiden und haben noch kein Schuldbewusstsein. Wenn ein dreijähriges Kind einem anderen Kind die Schaufel auf den Kopf gehauen hat, sagt es unbekümmert: „Das war ich nicht!“. Die Drei­jäh­ri­gen sind ganz auf sich sel­bst be­zo­gen. Sie wirken durch dieses Verhalten sehr selbstbewusst, es ist aber nichts weiter als die ausgeprägte Ichbezogenheit. Das zeigte der dreijährige Eike sehr deutlich, als er einen martialisch aussehenden Jugendlichen keck fragte: „Bist du stärker als ich?“. Nur der eine für ihn wichtige Gedanke steuerte sein angstfreies Verhalten.

Von Lügen weiß das dreijährige Kind noch nichts, sein Selbstwertgefühl ist vorübergehend nebensächlich, denn seine Aufmerksamkeit liegt jetzt ganz auf der Außenwelt. Alles ist interessant und muss erforscht werden. Es glaubt, dass die anderen genauso denken, wie es selbst, so dass es sich um die Ansichten der anderen nicht kümmert. Wie dieses Denken unbewusst den eigenen Vorteil fokussiert, zeigt folgendes Beispiel:

 Der 3jährige Bastian flötet seiner Mutter mit der süßesten Stimme ins Ohr: „Mama, wenn du ganz lieb zu mir bist, suche ich dir eine schöne Fernsehsendung aus, vielleicht die mit der Maus. Und die schau‘ ich dann für dich an.“

Das Kind nimmt an, dass die Mutter die gleichen Bedürfnisse hat wie es selbst. Die sich ausbildende Intelligenz zeigt sich, indem es seine Erfahrung über die Vorteile des Liebseins bei der Durchsetzung seines Wunsches berücksichtigt.

Das Kind will alles richtig machen und stärkt damit unbewusst sein Selbstwertgefühl

Gegen Ende des vierten Lebensjahres erreicht das Kind die zweite Stufe des Selbsterkennens: Es weiß jetzt, dass die anderen andere Gedanken im Kopf haben als es selbst und konzentriert sich gleichzeitig auf seine Gedanken und Gefühle. Es vergleicht sein Können und Wissen mit dem der anderen. Was können die und was kann ich? Die Regeln sind vertraut, auch wenn es diese manchmal noch vergisst. Es ist bestrebt, alles richtig zu machen und fordert ständig das Lob der Erwachsenen ein; denn es ist stolz auf seine Leistungen. Sein Selbstwertgefühl wird ihm in ersten Ansätzen bewusst, da es den Zusammenhang zwischen seinen Leistungen und den starken positiven Gefühlen bemerkt. Dies spornt das Kind weiterhin an, alles richtig zu machen.

Die unbewusste Veränderung der Realität

Das Selbstwertgefühl des vierjährigen Kindes kommt jetzt immer wieder in Kollision mit seinem Bestreben, alles richtig zu machen. Da das Regelverstehen noch nicht stabil ist und Verbote auch mal missachtet werden, gelingt ihm die gute Absicht nicht immer. Im konkreten Fall registriert es seinen Fehler erst nach der verbotenen Handlung oder wird von den Erwachsenen darauf hingewiesen. Das Kind gerät durch die Erkenntnis des falschen Handelns oder durch die Kritik der Erwachsenen aus dem Gleichgewicht. Sein Selbstwertgefühl rutscht in den Keller. Zur Wiederherstellung des Gleichgewichts verändert es unbewusst die Realität und erzählt spontan eine Geschichte, in der es selbst keine Rolle spielt. Zu diesem Zeitpunkt kann es noch nicht unterscheiden zwischen absichtlicher Täuschung und Verzerrung der Wirklichkeit durch bloßes Wunschdenken. So kommt es, dass es in der die Erwachsenen verblüffenden Weise ‚lügt‘. Es kann fantasievoll nach anderen Schuldigen suchen, denn der Synkretismus im Denken macht alles möglich, indem Wahrnehmungen vermischt und neue Geschichten konstruiert werden. Es wird kein logischer Zusammenhang gesucht. Wenn also die Puppe sich selbst die Haare abgeschnitten hat oder der Kakaobecher vom Wind umgeweht wurde, ist das die aktuelle Wahrheit für das Kind. Wie durch das synkretistische, auch vorlogisch genannte Denken die Zusammenhänge an den Vorschulkindern einfach vorbeirauschen, zeigt folgendes Beispiel:

Als die Mutter von Tjark, 4 Jahre, ihn nachmittags vom Kindergarten abholt erfährt sie, dass Tjark mittags allein in der Küche essen musste, weil er einer Erzieherin den ‚Vogel gezeigt‘ hatte. Zuhause fragt die Mutter, warum er allein in der Küche essen musste. Tjark weiß darauf keine rechte Antwort. „Vielleicht“, überlegt er, „sollte ich mal ausprobieren, ob es in der Küche auch schön ist zu essen“. „Aber Tjark“ hakt die Mutter nach, „du durftest nicht mit den anderen essen, weil du einer Erzieherin den Vogel gezeigt hast!“ Tjark sieht seine Mutter empört an. „Das stimmt gar nicht“, entrüstet er sich, „ich hatte ja gar keinen Vogel dabei!“

Dieser Junge hat kein Schuldbewusstsein und nicht verstanden, warum er in der Küche essen musste. Also konnte er die Frage der Mutter nicht einordnen. Seine Antwort am Schluss war eine wörtliche, denn in dem Alter verstehen viele Kinder das Gesagte wörtlich. Ein weiteres Beispiel zeigt die manchmal auftretende Dramatik dieses wörtlichen Verständnisses: Der Vater will zum Volkslauf. Er fordert alle auf: „Kommt mit, damit ihr mich anfeuern könnt!“ Da heult der 3jährige Sohn los: “Ich will meinen Papa aber nicht verbrennen!“

Die eigene Wahrnehmung wird in dieser Phase vom Kind für absolut gehalten. Erzählungen und Erinnerungen sind nach eigenen Wünschen und Fantasien ausgeschmückt, die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen kann dabei verwechselt werden. Dem Kind ist nicht bewusst, dass es in Wahrheit ganz anders war. Es ist insofern kein bewusstes Täuschen, so dass logische Erklärungen der Erwachsenen nicht helfen. Eltern und Erziehende sollten auf Fantasie-Geschichten bei Regelverletzungen nur mit einer akzeptierenden Bemerkung reagieren (wie: so so oder aha) und die Regel, gegen die verstoßen wurde, wiederholen. Damit bleibt das noch im Aufbau befindliche Selbstwertgefühl des Kindes stabil und es kann darüber nachdenken, was geschehen ist und daraus lernen.

Unterschiedliches Verhalten aufgrund des Temperaments

Das oben beschriebene Verhalten zeigen nicht alle Kinder. Es sind vornehmlich die mit einem außenorientierten Temperament, die schnell Wutanfälle bekommen und die mehr Zeit brauchen, um die Regeln zu verstehen. Dazu gehören viele der Jungen und ein Teil der Mädchen. Insgesamt ist bei zwanzig Prozent eines Jahrgangs das Verhalten auf Grund einer bestimmten Genvariante sehr ausgeprägt. Bei denjenigen, wo dieses Temperament nicht so stark ausgeprägt ist, kommt das Verhalten hin und wieder vor.

Nur die Kinder, die keine Fantasiegeschichten brauchen, um ihr Selbstwertgefühl zu schützen, lügen selten und ‚petzen‘ eher. Sie haben eine gegenläufige Genvariante, die ein weitgehend ängstliches und empfindsames Temperament verursacht. Sie zeigen bereits früh soziale Kompetenzen durch eine stärkere Gefühlsansteckung und Empathiefähigkeit und verfügen über eine höhere soziale Aufmerksamkeit. Solche Kinder halten sich schon früh an die Regeln und merken schnell, dass die Regeln sie selbst schützen; dann werden sie z.B. auch nicht von den anderen gehauen, wenn das verboten ist. Das kommt ihrem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis zugute. Sie sind in der Phase des Regellernens auf die Einhaltung der Regeln fixiert und sehen sofort, wenn ein anderes Kind dagegen verstößt. Dann ist es folgerichtig, diesen Regelverstoß bei den Erwachsenen zu melden, denn die haben die Regeln festgesetzt. Das Kind erwartet Lob für seine Aufmerksamkeit und versteht nicht, wenn es dafür kritisiert wird. Dann ist es beleidigt, weil die Kritik der Erwachsenen sein Selbstwertgefühl verletzt.

Die Fünf- und Sechsjährigen denken über ihr Verhalten nach

Erst bei den Fünfjährigen ist es hilfreich, auf die Unlogik in ihren Aussagen hinzuweisen, damit sie zum Nachdenken über ihre Aussagen kommen. Das Nachdenken über sich selbst ist ab jetzt eine der Hauptbeschäftigungen, die das Selbstwertgefühl der Kinder stabilisiert. Das Denken der Fünfjährigen hat jedoch noch Besonderheiten, denn die Logik ist noch nicht ganz ausgereift. Anhand der nachstehenden typischen Aussagen soll die Art, wie sie sich die Welt erklären, deutlich werden:

Dennis (5) sinniert vor sich hin und sagt dann: „Wenn es keine Turmuhren gäbe, wüsste die Sonne nicht, wann sie untergehen muss!“

Rebecca (5): „Der Schneemann hat keine Schneefrau, weil es ihm nicht warm werden darf.“

Bei den Fünfjährigen kann begonnen werden, solche Erkenntnisse richtig zu stellen. Bei den Fantasie-Geschichten kann danach gefragt werden, was denn wirklich passiert ist. Bei Lügen sollte jedoch immer noch keine Kritik erfolgen, da sie den Sinn der Regel noch nicht verstehen.

Mit 6 Jahren ist den Kindern ihr Selbstwertgefühl deutlich bewusst, sie bemühen sich, die Regeln einzuhalten und auch das Lügen zu unterlassen. Das vor-logische Denken geht über ins durchgängig logische Denken. Das neue Denken führt jedoch noch häufig zu Irritationen oder auch zur Selbstüberschätzung, wie das folgende Beispiel zeigt:

 

 Stefan unterhält sich mit seinem Freund Frank, beide 6 Jahre alt. Stefans Großmutter war soeben von einer Grippe genesen. Frank will nun von Stefan wissen: „Wie lange lebt deine Oma noch?“  Stefans Antwort: „Das weiß nur der liebe Gott. Das ist nämlich wie beim Joghurt. Da weiß auch nur die Firma das Haltbarkeitsdatum.“

Das sind spontane Gedanken der Sechsjährigen, die damit keine Scherze machen wollen, denn besonders die Jungen hinterfragen noch nicht, ob das okay ist, was sie sagen.

Grundschüler verstehen langsam, was Lügen bedeutet

Zwischen sieben und acht Jahren differenziert sich das Verständnis von Lügen aus, weil die Kinder über die Bedeutung des Lügens nachdenken. Eine Befragung von Schulkindern durch die Zeitschrift „Eltern“ zeigte, was diese über das Lügen denken. An den Antworten von drei Grundschulkindern wird klar, wie sehr sie mit den neuen Erkenntnissen über das Lügen noch beschäftigt sind.

Ein 8jähriger Junge sagte: Wenn ich lüge, bekomme ich plötzlich arge Bauchschmerzen. Ein 9jähriges Mädchen antwortete: Ich lüge nie. Es passiert höchstens mal, wenn ich es nicht merke. Ein anderes 9jähriges Mädchen sagte: Ich bin total gegen Lügen, aber es geht oft nicht ohne Schummeln.

Die argen Bauchschmerzen des Achtjährigen sind ein deutliches Zeichen für das aus dem Gleichgewicht geratene Selbstwertgefühl. Die Begründungen der beiden Mädchen zeigen, dass sie das Ganze ziemlich locker sehen.

Ab dem mittleren Grundschulalter verstehen die Kinder, dass Lügen eine Missachtung der anderen Person ist. Wenn sich das Selbstwertgefühl bis zu diesem Zeitpunkt gut entwickeln konnte, werden die Lügen weniger. Voraussetzung dafür sind tragfähige familiäre Beziehungen, die es dem Kind ermöglichen, Fehlverhalten ohne Angst vor Strafe zuzugeben. Die Lügen haben dann keine selbstwertstützende Funktion mehr, sondern die Kinder benutzen eher Höflichkeitslügen oder lügen, um einen Vorteil zu erreichen.

Nur die Kinder mit einem instabilen Selbstwertgefühl lügen weiterhin, um sich zu schützen. Wenn für ein Kind keine sicheren Bindungsbeziehungen möglich waren und sein Selbstwertgefühl sich nicht gut entwickeln konnte, hat es mit Schulbeginn viele Gründe zu lügen. Die weiter entwickelte Intelligenz wird zunehmend genutzt, kluge Lügen zu erfinden, damit niemand merkt, dass das Kind lügt.

Literatur

Autorin

Dr. Erika Butzmann, Studium der Erziehungswissenschaften und der Psychologie, Promotion zur sozial-kognitiven Entwicklung im Kindesalter im Jahr 2000. Seit 25 Jahren tätig in der Elternbildung und -beratung und in der Weiterbildung für Erzieher:innen. Von 2002 bis 2008 Lehraufträge an der Universität Bremen.

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eingestellt am 10.05.2023

 

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