„Ich fühle was, was du nicht siehst“ – Emotionsregulation bei Kindern
Christina Zehetner
1. Was ist Emotionsregulation?
Emotionsregulation beschreibt die Fähigkeit, mit Gefühlen so umzugehen, dass sie weder überfordern noch dauerhaft unterdrückt werden müssen. Es geht darum, Emotionen wahrzunehmen und zu benennen – und sie in sozial verträglicher Weise auszudrücken oder zu verändern. Kinder lernen im Laufe der Zeit:
- „Ich darf wütend sein – aber ich muss niemanden hauen.“
- „Ich bin traurig – und darf mich trösten lassen.“
- „Ich habe Angst – aber ich kann sie aushalten.“
Diese Fähigkeit entwickelt sich nicht von selbst. Dazu benötigen Kinder einfühlsame Bezugspersonen, die ihre Gefühle spiegeln und begleiten. Emotionsregulation ist somit kein reines Kinderthema – sondern ein Beziehungsthema (vgl. Imlau, 2021).
2. Wie und wo entstehen Gefühle im Gehirn?
Gefühle sind nicht „nur“ psychisch – sie haben auch eine biologische Basis. Sie entstehen im sogenannten limbischen System, dem „emotionalen Gehirn“, das tief im Inneren des Kopfes liegt. Besonders wichtig:
- Die Amygdala (Mandelkern im Gehirn) ist zuständig für schnelle emotionale Reaktionen wie Angst, Wut oder Freude, also unser „Gefühlswarnsystem“.
- Der Hippocampus (im Schläfenlappen des Gehirns) speichert emotionale Erfahrungen und verknüpft sie mit Erinnerungen. Er ist unser „Erinnerungsspeicherzentrum“.
- Der präfrontale Kortex (vordere Teil unseres Gehirns), unser „Nachdenk- und Steuerzentrum“, ist für die Planung, Impulskontrolle und Reflektion zuständig. Er hilft uns, Emotionen bewusst zu regulieren – aber: Er reift erst im späten Jugendalter vollständig aus (vgl. Roth, 2021).
Deshalb reagieren Kinder oft impulsiv, weinen „grundlos“ oder flippen scheinbar plötzlich aus – ihr Gehirn kann starke Gefühle noch nicht so kontrollieren wie das eines Erwachsenen. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen zeigen, wie man mit Gefühlen umgehen kann – ohne Überforderung, aber mit Klarheit.
3. Wie entwickeln sich Emotionen im Kindesalter?
Säuglinge erleben Basisemotionen wie Freude, Unbehagen oder Angst – sie äußern diese über Mimik, Körperbewegungen und Weinen. Regulation erfolgt hier fast ausschließlich über die Bezugsperson (z. B. durch Tragen, Beruhigen, Singen).
Kleinkinder (1–3 Jahre) erleben Emotionen intensiv – Frust, Wut, Freude und Neugier wechseln schnell. Strategien zur Regulation sind noch rudimentär: Ein Kind weint, schreit, wirft sich vielleicht auf den Boden – nicht, weil es trotzig ist, sondern weil das Nervensystem überfordert ist. Erste Bewältigungsstrategien entwickeln sich, z. B. sich trösten lassen, Nähe suchen oder weglaufen.
Kita-Kinder (3–6 Jahre) beginnen, über Gefühle zu sprechen: „Ich bin traurig, weil…“ oder „Ich habe Angst vor…“. Sie lernen, sich selbst besser zu beruhigen, Gefühle anderer zu erkennen und sich in andere hineinzuversetzen. Gleichzeitig bleiben Impulse stark – das „Kontrollzentrum“ im Gehirn ist noch im Aufbau.
Grundschulkinder (6–10 Jahre) verfeinern ihre Emotionswahrnehmung und -regulation. Sie lernen, eigene Gefühle differenziert zu beschreiben, Strategien zur Beruhigung anzuwenden (z. B. sich zurückziehen, Musik hören) und verstehen zunehmend, dass Emotionen nicht gleich Verhalten sein müssen. Gleichzeitig brauchen sie nach wie vor Begleitung und Unterstützung im Umgang mit starken Gefühlen, Frustrationen und Herausforderungen (vgl. Ekman, 2016; Roth, 2021).
4. Wie pädagogische Fachkräfte in Kita und Kindertagespflege unterstützen können
In Kita und Kindertagespflege erleben Kinder jeden Tag emotionale Herausforderungen – Streit um Spielzeug, Trennungsschmerz, Erfolgserlebnisse oder Frustration. Fachkräfte können dabei emotionale Wegweiser sein. Im Bereich der Kindertagespflege, die durch ihre kleinen Gruppen und die vertraute Betreuungssituation besonders bindungsnah ist, spielt die Begleitung von Emotionen eine zentrale Rolle – oft noch individueller und alltagsnäher als in größeren Einrichtungen.
Wichtig ist eine Grundhaltung der Empathie und Klarheit:
- Gefühle ernst nehmen, nicht bewerten: „Du bist sehr wütend – ich bin da.“
- Sicherheit geben: „Du darfst traurig sein – ich helfe dir da durch.“
- Vorbild sein: „Ich bin gerade gestresst, ich atme erst einmal tief ein und aus.“
Praxisideen
- Gefühlsbarometer oder Stimmungskreise zum täglichen Start
- Gefühlswürfel oder Emotionskarten, um Kinder zum Reden zu ermutigen
- Kuschelecken oder Rückzugsorte, wenn alles zu viel wird
- Geschichten oder Bilderbücher, die Gefühle kindgerecht thematisieren
- Das Zaubertor, eine kleine Hilfe, um Gefühle und Bedürfnisse leichter ausdrücken zu können (Kinder gehen dabei durch einen kreativ gestalteten Durchgang und benennen dabei, wie sie sich fühlen und was sie im Moment gerade brauchen)
Regelmäßige Gespräche im Team über den Umgang mit starken Gefühlen und klare Regeln im Alltag helfen, Kindern Orientierung zu geben – ohne zu überfordern (vgl. Grubert, 2022). Sowohl in der Kita als auch in der Kindertagespflege ist ein kontinuierlicher, wertschätzender Austausch mit den Eltern entscheidend, um die emotionalen Bedürfnisse der Kinder zu verstehen und ihre Emotionsregulation im Alltag gemeinsam zu fördern.
5. Wie Eltern zuhause unterstützen können
Zuhause ist ein wichtiger Lernort für Emotionsregulation. Kinder lernen vor allem durch die Vorbildfunktion der engsten Bezugspersonen – und weniger durch Erklärungen.
Was hilft im Alltag:
- Benennen statt bewerten: „Du bist enttäuscht, weil das nicht geklappt hat.“
- Strukturen und Rituale: Feste Abläufe, Einschlafrituale, kleine „Auszeiten“ helfen Kindern, sich sicher zu fühlen.
- Selbst ruhig bleiben (wenn möglich): Kinder regulieren sich über Co-Regulation – je ruhiger ihr Gegenüber, desto leichter fällt Regulation.
- Zusammen nach Strategien suchen: Was hilft deinem Kind, wenn es wütend, traurig oder überdreht ist? (z. B. Kissen boxen, Musik hören, eine Pause)
- Nicht trösten mit Ablenkung, sondern mit Nähe: Gefühle dürfen da sein – Kinder brauchen die Botschaft: „Du bist mit deinen Gefühlen richtig.“ (vgl. Imlau, 2021)
Fazit
Emotionen gehören zum Alltag in Familie, Kita und Kindertagespflege – und sie sind ein zentraler Teil kindlicher Entwicklung. Der Umgang mit Wut, Freude, Angst oder Traurigkeit will gelernt sein, und die ersten Schritte auf diesem Weg geschehen im sozialen Miteinander, begleitet von verlässlichen Bezugspersonen. Emotionsregulation ist keine Fähigkeit, die Kinder „nebenbei“ erwerben – sie braucht Zeit, Zuwendung, Sprache, Ermutigung und vor allem: Beziehung. Erwachsene müssen selbst nicht perfekt sein und dürfen ihre eigenen Gefühle zeigen. Das hilft Kindern, sich selbst besser zu verstehen. So entsteht emotionale Kompetenz – und ein Gefühl von Sicherheit, das Kinder stark macht für das Leben.
Literatur
- Ekman, P. (2016). Gefühle lesen. Springer Verlag.
- Grubert, A. (2022). Die 50 besten Spiele zur Selbstregulation. Don Bosco Medien.
- Imlau, N. (2021). So viel Freude, so viel Wut. Penguin Verlag.
- Pfeffer, S. (2019). Sozial-emotionale Entwicklung fördern. Wie Kinder in der Gemeinschaft stark werden (2. Aufl.). Herder Verlag.
- Roth, G. (2021). Bildung braucht Persönlichkeit. Klett-Cotta Verlag.
Weiteres Material zum Thema
- Marx, N. (2024). Gefühle begleiten, Bedürfnisse erkennen. Das Kartenset zum Buch. Verlag Herder.
- Bücken Schaal, M. (2023). Bildkarten Gefühle – für Kindergarten und Grundschule. Don Bosco Medien.
- Krüger, F. (2022). Mona und die magische Gefühlsleiter. Verlag Herder
Zur Autorin
Christina Zehetner ist Erzieherin und Sozialpädagogin. Sie hat langjährige praktische Erfahrungen in der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe und arbeitete mehrere Jahre im Jugendamt. Die Autorin ist als freiberufliche Referentin für pädagogische Fachkräfte tätig. Ihre Schwerpunkte sind psychische Gesundheit, Resilienz, Emotionsregulation und Kinderschutz. Sie ist Teil das Redaktionsteams des Online-Familienhandbuchs im Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz.
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eingestellt am 29. Oktober 2025
