Emotionale Entwicklung von Anfang an –

Wie lernen Kinder den kompetenten Umgang mit Gefühlen? (Teil 1)

Dr. Monika Wertfein
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Dieser Artikel über die emotionale Entwicklung von Anfang an gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um erste Schritte der emotionalen Entwicklung und die Grundbegriffe Emotionsausdruck, Emotionswissen und Emotionsregulation.

Drei Uhr nachts – ein Baby wacht auf und beginnt zu weinen.
Seine Mutter kommt herein und gibt ihrem Kind zu trinken. Das Baby nuckelt zufrieden an der Brust der Mutter, die das Kind liebevoll anschaut und streichelt. Geborgen im Arm der Mutter und satt schlummert das Kind wieder ein.

Wertfein Familienforschung BabyDrei Uhr nachts – ein Baby wacht auf und beginnt zu weinen.
Seine Mutter ist nervös und reizbar, denn sie ist nach einem Streit mit ihrem Mann erst vor einer Stunde eingeschlafen. Das Kind verkrampft sich sofort, als die Mutter es abrupt aufnimmt. Während das Kind trinkt, starrt die Mutter wie versteinert vor sich hin ohne ihr Kind zu beachten und wird immer erregter, da sie an den Streit von vorhin denken muss. Das Kind spürt diese Spannung, windet sich, versteift sich und hört auf zu saugen. Die Mutter legt darauf hin das Kind abrupt in sein Bettchen zurück und lässt es schreien, bis es erschöpft in den Schlaf sinkt.

Diese beiden Interaktionen zeigen, welch unterschiedliche Erfahrungen Kinder bereits in sehr frühem Alter im Umgang mit ihren Gefühlen machen können (Goleman, 2002). Während das erste Kind lernt, dass seine Bedürfnisse und Gefühlsäußerungen ernst genommen und von der Mutter zuverlässig befriedigt werden, wird dem zweiten Kind vermittelt, dass sein Gefühlsausdruck von der Mutter kaum oder nur in geringem Maße beachtet wird. Im Hinblick auf die emotionale Entwicklung des Kindes prägen diese alltäglichen und jahrelang wiederholten Interaktionen zwischen Eltern und Kindern das innere Bild des Kindes darüber, wie sehr es sich auf emotionale Beziehungen verlassen kann und welche Konsequenzen die offene Äußerung seiner Gefühle nach sich zieht.

Erste Schritte emotionaler Entwicklung

Emotionales Lernen beginnt in den ersten Lebensmomenten und setzt sich während der gesamten Kindheit fort. Die deutlichsten Schritte emotionaler Entwicklung vollziehen sich in den ersten sechs Lebensjahren und umfassen die folgenden Fertigkeitsbereiche, die sich parallel zueinander entwickeln und wechselseitig beeinflussen:

  • Emotionsausdruck (nonverbal und sprachlich),
  • Emotionswissen (v. a. Wissen über Auslöser bestimmter Emotionen bei sich und anderen),
  • Emotionsregulation (innere und äußere Strategien im Umgang mit Emotionen).

Betrachtet man die Entwicklung des Emotionsausdrucks, ist im Entwicklungsverlauf zunächst die nichtsprachliche Äußerung von grundlegenden Emotionen, wie Freude, Traurigkeit, Ärger und Angst zu beobachten. Gleichzeitig lernt das Kind bereits in den ersten beiden Lebensjahren emotionale und emotionsrelevante Äußerungen der Bezugspersonen zu erkennen (z. B. die aufmunternde Stimme der Mutter) und darauf zu reagieren (z. B. durch ein Lächeln). In Situationen, in welchen das Kind auf sich alleingestellt ist, lernt es von Anfang an Regulationsstrategien und Verhaltensweisen, mit welchen es sich etwa in Stress-Situationen selbst beruhigen kann (z. B. durch Daumenlutschen oder mit Hilfe des Kuscheltieres).

Sprachliche Gefühlsäußerungen entwickeln sich ab dem zweiten Lebensjahr und erweitern das kindliche Repertoire emotionaler Kommunikation sowie die Lern- und Interaktionsmöglichkeiten des Kindes. Das Sprechen über Gefühle wird mit zunehmendem Alter wichtiger, obwohl der nonverbale Emotionsausdruck für das Verständnis von Emotionen nicht an Bedeutung verliert. Durch die Versprachlichung von emotionalem Erleben entwickelt das Kind anhand konkreter Situationen sogenannte „emotionale Schemata“ (Ulich, Kienbaum & Volland, 1999), d. h. ein stetig wachsendes Repertoire an „Allgemeinwissen“ über typische Auslöser von bestimmten Emotionen, welches es in neuen Situationen anwenden kann. Auf diese Weise erwirbt das Kind die Fähigkeit, emotionale Situationen und Reaktionen bei sich und bei anderen voraus zu sehen und entsprechend zu handeln (z. B. unangenehme emotionale Situationen zu meiden).

Entwicklung emotionaler und sozialer Fertigkeiten

Im Vorschulalter lernt das Kind zunehmend auch komplexe Emotionen, wie z. B. Stolz, Scham, Schuld oder Neid kennen – selbstbezogene und soziale Emotionen, welche gewisse kognitive Entwicklungsschritte und ein differenziertes Emotionsverständnis voraussetzen. Die Entwicklung wird am nachfolgenden Stufenmodell deutlich (Wertfein, 2006):

  1. Ich bin stolz darauf, dass ich heute Geburtstag habe“ – Kinder im Alter von 4 bis 5 Jahren wissen über die Emotion Stolz, dass diese eine angenehme Emotion darstellt und verwenden den Begriff daher gleichbedeutend mit Freude, Glück oder Begeisterung.

  2. „Ich bin stolz auf mich, wenn meine Mama sagt, dass ich schön male“ – Im Alter bis etwa 7 Jahren sind Kinder dann stolz, wenn sie gelobt worden sind. Die Anwesenheit oder unmittelbare Reaktion von Erwachsenen ist dabei von entscheidender Bedeutung.

  3. „Ich bin stolz darauf, dass ich malrechnen kann“ – Kinder ab dem 8. Lebensjahr nennen in der Regel eigene Gründe, warum sie stolz auf sich selbst sind. Durch die Verinnerlichung der z.B. elterlichen Rückmeldungen entwickelt das Kind allmählich einen eigenen Vergleichsmaßstab für das eigene Handeln und damit die Fähigkeit eigene Leistung eigenständig einzuschätzen.

Sobald Kinder erkennen, in welchen Situationen welche Gefühle bei ihnen selbst ausgelöst werden, entwickeln sie allmählich auch ein Verständnis für die Emotionen anderer. Voraussetzungen für die Entwicklung der Empathiefähigkeit, d.h. die Fähigkeit, eine emotionale Situation wahrzunehmen und Gefühle stellvertretend mit der betroffenen Person mitzuerleben (Friedlmeier, 1993) sind vor allem kognitive Faktoren, wie beispielsweise das Wissen darüber, dass der beobachtbare Emotionsausdruck und das tatsächliche Emotionserleben in sozialen Kontexten nicht immer übereinstimmen müssen (Petermann & Wiedebusch, 2003; Saarni, 1999). Die Entwicklung der Empathiefähigkeit geht eng mit der Entwicklung prosozialer Verhaltensweisen einher und lässt sich beschreiben als Prozess von einer selbstbezogenen Sichtweise im ersten Lebensjahr, wenn Kinder noch nicht unterscheiden können zwischen ihren eigenen und fremden Gefühlen, hin zu einer kontextbezogenen Empathie in der späten Kindheit, welche Kinder dazu befähigt, in ihrem prosozialen Handeln auch übergreifende Lebensbedingungen zu berücksichtigen (Hoffman, 2000) (siehe auch Tabelle 1).

Tabelle 1: Übersicht zur Entwicklung der Empathiefähigkeit und prosozialen Verhaltens

 

Entwicklungsstufe

Alter

Merkmale

Globale Empathie

1. Lebensjahr

Gefühlsansteckung in emotionalen Situationen, kein prosoziales Verhalten

Egozentrische Empathie

2. bis 4. Lebensjahr

Vermischung eigener und fremder Gefühle, allmähliche Zunahme prosozialen Verhaltens (zunächst aus Sicht des eigenen emotionalen Erlebens)

Emotionale Empathie

4. bis 6. Lebensjahr

Differenzierung zwischen eigenen und fremden Gefühlen, prosoziales Verhalten aus Sicht der betroffenen Person

Kontextuelle Empathie

Ab ca. 7. Lebensjahr

Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensgeschichten, Identitäten und Kontexte

Die Fähigkeit zur Empathie hängt eng zusammen mit dem Wissen über sog. „soziale Darbietungsregeln“, d.h. dem Wissen darüber, dass man in bestimmten sozialen Situationen seine tatsächlichen Gefühle verbergen kann bzw. sollte. Anhand eines Gedankenexperimentes lässt sich eine bekannte Darbietungsregel illustrieren.

Stellen Sie sich vor, Sie erhalten von Ihrer Schwiegermutter ein liebevoll verpacktes Geburtstagsgeschenk. Gespannt und voller Vorfreude packen Sie es unter den erwartungsvollen Blicken ihrer ganzen Familie aus. – Doch was für eine Enttäuschung! Sie haben sich zwar eine Lampe gewünscht, aber diese sieht gebraucht aus und trifft überhaupt nicht Ihren Geschmack. Wie reagieren Sie?

Die meisten Menschen würden sich in dieser Situation vermutlich freudig bedanken und sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Warum eigentlich? Fragt man Schulkinder, warum sie Gefühle manchmal vortäuschen oder verbergen, nennen sie folgende Gründe (von Salisch, 2000; Wertfein, 2006):

  • um negative Auswirkungen zu vermeiden (z.B. negative Stimmung in der Familie),
  • um sich selbst vor Verletzung und Bloßstellung zu schützen (z.B. um öffentlichen Streit mit der Schwiegermutter zu vermeiden)
  • um die Gefühle anderer nicht zu verletzen (z.B. Enttäuschung der schenkenden Person),
  • um höflich zu sein und Verhaltensnormen einzuhalten (z.B. Geschenke und gute Absichten sollen gewürdigt werden).

Erstaunlich ist, dass bereits Dreijährige über die Fähigkeit verfügen willentlich ihren mimischen Ausdruck zu kontrollieren und ihre tatsächlichen Gefühle vor anderen zu verbergen (Petermann & Wiedebusch, 2003; Banerjee, 1997).

Während das Wissen über soziale Regeln des Emotionsausdrucks die nach außen gerichtete Form der Emotionsregulation darstellt, erwerben Kinder in emotionalen Situationen von Anfang an einen inneren Umgang mit ihren Gefühlen, die sog. internale Emotionsregulation. In Stress-Situationen lässt sich beobachten, dass Säuglinge und Kleinkinder ihre Emotionen interaktiv, d.h. mit Unterstützung der Bezugspersonen regulieren. Mit zunehmendem Alter lernen die Kinder, dass sie durch eine gezielte Ablenkung ihrer Aufmerksamkeit oder Rückzug unangenehme Situationen und Gefühle (z.B. Frust durch einen unerreichbaren Gegenstand) vermeiden können. Zudem erfahren Kinder die Wirkung von Selbstberuhigungsstrategien, etwa durch körperliche Beruhigung (Schaukeln, Saugen), im Vorschulalter durch beruhigende Verhaltensrituale (z.B. Durchatmen) oder Selbstgespräche. Schließlich wenden Kinder ab dem Vorschulalter auch kognitive Strategien an, wie gedankliche Ablenkung oder Umdeutung von emotionsauslösenden Situationen (Petermann & Wiedebusch, 2003).

Emotionale Entwicklung, Temperament und Sozialisationseinflüsse

Die verschiedenen Bereiche der emotionalen Entwicklung hängen zum einen mit weiteren Entwicklungsbereichen, insbesondere der kognitiven, sprachlichen und sozialen Entwicklung zusammen. Andererseits spielen genetisch bedingte Temperamentsunterschiede (v.a. die Emotionalität des Kindes) sowie vielfältige Sozialisationsbedingungen (z. B. familiäres Umfeld, Erfahrungen mit Gleichaltrigen, schulische Einflüsse) eine entscheidende Rolle in der Frage: Wie lernen Kinder den Umgang mit Emotionen? In der nachfolgenden Abbildung werden die Wechselwirkungen dieser Faktoren bei der emotionalen Entwicklung verdeutlicht.

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Abbildung 1: Faktoren emotionaler Entwicklung (modifiziert nach Petermann & Wiedebusch, 2003, S. 56)

Aus der Grafik geht hervor, dass gerade die Fähigkeit zur Emotionsregulation eng mit den sozialen Beziehungen außerhalb und innerhalb der Familie zusammenhängt. Gerade im Hinblick auf unangenehme Gefühle wie Wut, Traurigkeit und Enttäuschung stellt das Repertoire an Regulationsstrategien eine wichtige Ressource im Umgang mit belastenden Situationen und Konflikten dar. Kinder, die ihre Aufmerksamkeit nicht fokussieren können oder häufig mit Ärger und Argwohn reagieren,

  • haben Defizite in der Interpretation sozialer Situationen, z.B. indem sie anderen eher feindselige Absichten unterstellen (von Salisch, 2000),
  • neigen daher zu aggressivem oder sozial unsicherem Verhalten,
  • zeigen weniger prosoziale Verhaltensweisen sowie eine geringere Empathiefähigkeit (vgl. Wertfein, 2006) und
  • sind bei Gleichaltrigen eher unbeliebt und auf diese Weise in ihrer sozialen Entwicklung beeinträchtigt (Petermann & Wiedebusch, 2003; Eisenberg et al., 2000).

Kinder, die dagegen konstruktive Bewältigungsstrategien anwenden, ihr Verhalten flexibel an neue Situationen anpassen können und aufgrund guter Emotionsregulation und geringer Erregbarkeit wenig negative Emotionen äußern, sind bei Gleichaltrigen beliebter und gelten auch bei Lehrern und Eltern als prosozialer, kooperativer und sozial kompetenter (vgl. Wertfein, 2006). Diese Zusammenhänge zwischen emotionalen und sozialen Kompetenzen bleiben im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren weitgehend stabil (Murphy et al., 2004) und können sich auch auf den Schulerfolg auswirken (vgl. Petermann & Wiedebusch, 2003).

Literatur

  • Banerjee, M. (1997). Hidden emotions: Preschoolers´ knowledge of appearance-reality and emotion display rules. Social Cognition, 15 (2), 107-132.
  • Eisenberg, N., Fabes, R. A., Guthrie, I. K. & Reiser, M. (2000). Dispositional emotionality and regulation: Their role in predicting quality of social functioning. Journal of Personality and Social Psychology, 78 (1), 136-157.
  • Friedlmeier, W. (1993). Entwicklung von Empathie, Selbstkonzept und prosozialem Handeln in der Kindheit. Konstanz: Hartung-Gorre.
  • Goleman, D. (2002). Emotionale Intelligenz (15. Auflage). München: dtv.
  • Hoffman, M. L. (2000). Empathy and moral development. Implications for caring and justice. Cambridge et al.: Cambridge University Press.
  • Murphy, B. C., Shepard, S. A., Eisenberg, N. & Fabes, R. A. (2004). Concurrent and across time perdiction of young adolescents´ social functioning: The role of emotionality and regulation. Social Development, 13 (1), 56-86.
  • Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2003). Emotionale Kompetenz bei Kindern. Göttingen u.a.: Hogrefe.
  • Saarni, C. (1999). The development of emotional competence. New York: Guilford Press.
  • Ulich, D., Kienbaum, J. & Volland, C. (1999). Emotionale Schemata und Emotionsdifferenzierung. In W. Friedlmeier & M. Holodynski (Hrsg.), Emotionale Entwicklung. Funktion, Regulation und soziokultureller Kontext von Emotionen (S. 52-69). Heidelberg & Berlin: Spektrum.
  • von Salisch, M. (2000). Wenn Kinder sich ärgern: Emotionsregulierung in der Entwicklung. Göttingen et al.: Hogrefe.
  • Wertfein, M. (2006). Emotionale Entwicklung im Vor- und Grundschulalter im Spiegel der Eltern-Kind-Interaktion. eDissertation an der LMU München, Verfügbar hier.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Dr. Monika Wertfein ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Referentin am Staatsinstitut für Frühpädagogik

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Hier finden Sie Teil 2 der Serie: Wie können Eltern den kompetenten Umgang mit Gefühlen fördern?

Hier finden Sie Teil 3 der Serie: Wie können pädagogische Fachkräfte den kompetenten Umgang mit Gefühlen fördern?

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