Wie Kinder selbstständig werden. Die Sicht der evolutionären Anthropologie

Dr. med. Herbert Renz-Polster
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Foto: Jürgen Hudelmayer

Erziehung wird oft als Folge rationaler individueller Entscheidungen gesehen. Eltern, so die vorherrschende Meinung, könnten sich den „besten“ Erziehungsstil gleichsam aus Ratgebern zusammensuchen.

Kulturvergleichende, evolutionsbiologische und verhaltensökologische Betrachtungen legen jedoch eine andere Sicht auf Erziehung nahe. Demnach handelt es sich bei Erziehung um einen Systemprozess, bei dem biologische, kulturelle, psychologische, und biografische Faktoren zusammenwirken. Nach dieser Sichtweise entscheiden Eltern über Erziehung nicht in einem freien Raum, sondern nach Maßgabe ihrer kulturellen und familiären Prägung, ihrer erlernten persönlichen Kompetenzen, ihrer psychischen Verfasstheit, ihrer sozialen Möglichkeiten sowie der Persönlichkeitsmerkmale des zu erziehenden Kindes.

Wie stark in diesem Zusammenspiel soziale und kulturelle Einflüsse sind, zeigt der Vergleich verschiedener Kulturen. Je nach Art der sozialen Organisation der jeweiligen Gesellschaft können hier grob zwei Erziehungsziele unterschieden werden:

  • In den individualistischen Gesellschaften des Westens wird vor allem die frühe Selbstständigkeit als Erziehungsziel angestrebt. Die Kinder sollen möglichst frühzeitig lernen, sich selbsttätig – also unabhängig von Erwachsenen – zu regulieren, alleine einzuschlafen und sich selbst zu trösten.
  • In den eher auf kleinräumigen sozialen Zusammenhalt ausgerichteten traditionellen Kulturen dominiert dagegen das Erziehungsideal der sozialen Integration. Die Kinder sollen lernen, in der Gruppe klar zu kommen und die ihnen zugedachten Rollen in der Gemeinschaft zu übernehmen. [1]

Interessant an der im Westen vorherrschenden Konstruktion der Erziehungsziele ist vor allem, dass sie auf Entwicklungsstadien gerichtet ist, in denen Kinder in vielen traditionellen Kulturen als noch gar nicht „erziehbar“ angesehen werden. So gilt die Erziehung zur Selbstständigkeit gerade in den angelsächsischen Ländern, zunehmend aber auch in anderen Teilen des Westens als ein frühpädagogisches Projekt. (Woher diese Setzung von Erziehung als frühpädagogische, primär an Säuglinge gerichtete Intervention rührt, ist ein eigenes Thema, das hier nicht erörtert werden soll – sicherlich hat hier der Behaviorismus eine Rolle gespielt, dessen Erklärung von Verhalten als direktes Resultat aus Belohnung oder Bestrafung eine möglichst frühe Intervention nahe legt).

Dies bringt uns zu einer für die heutige „Erziehungsdebatte“ äußerst wichtigen Frage: Wird Selbstständigkeit wirklich in der Wiege erlernt?

Liegt der Schlüssel in der Wiege?

Aus Sicht der Evolutionsbiologie sprechen wichtige Argumente dagegen.

Zum einen gehörte die verlässliche körperliche und emotionale Nähe unter den ursprünglichen Lebensbedingungen der Menschheit zu den nicht verhandelbaren Startbedingungen eines jeden kleinen Kindes – die Nähe der Eltern und ihre unmittelbare Zuwendung war für Säuglinge das Ticket zum Überleben. Dass kleine Kinder viel getragen wurden, dass sie häufig, nach Bedarf und lange gestillt wurden, dass sie nachts bei ihrer Mutter schliefen – all das war Teil des unter arttypischen Lebensbedingungen normalen Lebensprogramms. Es ist evolutionsbiologisch nicht anzunehmen, dass solche adaptiven, d.h. dem Überleben und der gesunden Entwicklung dienenden Verhaltensweisen Kinder auf dem Weg zu einem selbstständigen Leben behindern sollten. Schließlich war Selbstständigkeit unter den harten Bedingungen der Vergangenheit ein enorm wichtiges Sozialisationsziel.

Auch kulturvergleichende Beobachtungen sprechen gegen die Annahme, dass Säuglinge durch eine frühe Entwöhnung von elterlicher Präsenz selbstständig würden. So sind Kinder im Westen trotz ihrer »Selbstständigkeitserziehung« durchschnittlich erst weitaus später in der Lage, sich von ihren Müttern zu trennen, als Kinder in traditionellen Gesellschaften. So haben malayische Kinder im Schnitt mit 21 Monaten kein Problem mehr, sich von ihren Müttern zu trennen, deutsche Kinder brauchen dazu durchschnittlich 36 Monate [2]. Wenn Kinder bei uns in die Schule kommen, gehen Kinder in vielen Jäger- und Sammlergesellschaften in der Kindergruppe ohne Erwachsenenaufsicht auf Kleintierjagd, besuchen andere Familien und bleiben dort auch oft über Nacht. Mädchen und Jungen in Jäger- und Sammlergesellschaften verbringen mit zwei bis vier Jahren mehr als die Hälfte des Tages mit anderen Kindern, fern von ihren Müttern [3].

Auch zeigte sich im direkten Vergleich zwischen den Kindern der Kung aus der Kalahari und Londoner Kindern, dass die Kinder der Kung – die jahrelang gestillt und von der Mutter getragen werden – mit fünf Jahren sozial kompetenter und unabhängiger waren [4].

Die frühe, sehr intensive und verlässliche Zuwendung scheint also per se NICHT als Behinderung auf dem Weg zur Selbstständigkeit zu wirken – im Gegenteil, sie scheint die Entwicklung von Selbstständigkeit zu fördern.

Wie aber werden Kinder selbstständig?

Vielleicht hilft auch bei dieser Frage die Sicht auf die evolutionären Sozialisationsbedingungen. Denn genau so wie die Erfahrung verlässlicher Nähe für das gestillte Kind zu den unverhandelbaren Schutzbedingungen unter den Lebensbedingungen der Frühgeschichte gehörte, so gehörte auch der Übergang in ein reichhaltiges soziales Netz mit mehreren Bindungspersonen zu den „vorgesehenen“ Lebenserfahrungen des älteren Kleinkinds. Denn mit der Geburt des nächsten Kindes stand unausweichlich ein entscheidender Rollenwechsel an: die vorher exquisite Nähe zur primären Pflegeperson wurde zu einem großen Teil fragmentiert und auf andere Erwachsene und ältere Kinder übertragen. Mit der Geburt des nächsten Geschwisterkindes wurden die Kleinen sozusagen automatisch in einen neuen sozialen Rahmen gestellt.

Tatsächlich dünnt sich auch in den heutigen traditionellen Gesellschaften das am Anfang sehr dicke Seil zwischen Mutter und Kind im späteren Kleinkindalter oft weitaus stärker als das in den westlichen Gesellschaften aus. Hierbei scheint der gemischtaltrigen Kindergruppe eine zentrale Rolle zuzukommen, in der Kinder oft ohne direkte Aufsicht durch Erwachsene einen großen Teil des Tages verbringen. Diese reichhaltige Sozialisationsinstanz sorgt mit dafür, dass Kinder sich mit der Loslösung von der primären Pflegeperson »neu erfinden« und in ständig wandelnden Rollen soziale Kompetenz erwerben.

Selbstständigkeit – ein „sozialer“ Weg

Aus evolutionärer Sicht ist damit der Schlüssel zur Selbstständigkeit NICHT in der Wiege verborgen. Selbstständigkeit scheint nicht einfach durch die Eltern anerzogen werden zu können, sondern scheint das Resultat einer sozialen Dynamik zu sein. Damit weist der Blick auf die evolutionären Sozialisationsbedingungen auch über das im Westen vorherrschende »individualistische Erziehungsmodell« hinaus, nach dem Kinder eins zu eins von ihren Eltern erzogen und „gebildet“ werden: Warum Kinder es heute mit Selbstständigkeit und sozialer Kompetenz so schwer haben (Stichwort kleine Tyrannen) liegt eher am Ausbleiben der in den arttypischen Lebensweg eingebauten sozialen Anpasssungserfahrungen in der Gruppe.

Dabei dürfte dem „sozialen Quirl“ der gemischtaltrigen Kindergruppe sowie dem weitaus reichhaltigeren Bindungssystem in eng aufeinander bezogenen sozialen Gruppen eine wichtige Rolle zukommen.

Anmerkungen

1 Das Thema der Sozialisationsziele im kulturellen Kontext wurde von der Osnarbrücker Entwicklungspsychologin Heidi Keller intensiv erforscht und kommentiert. Siehe dazu: http://www.psycho.uni-osnabrueck.de/fachgebiete/euk/ sowie die Publikationen unter http://www.psycho.uni-osnabrueck.de/mitarbeiter/hkeller/publikationen.html

2 Chen, S. T. (1989). Comparison between the development of Malaysian and Denver children. The Journal of the Singapore Paediatric Society, 31:178–185.

3 Lozoff, B. and Brittenham, G. (1979). Infant care: Cache or carry. The Journal of Pediatrics, 95:478–483.

4 Konner, M. J. (1976). Maternal care, infant behavior and development among the !Kung. In Lee, R. B., and DeVore, I. (Eds.), Kalahari hunter-gatherers: Studies of the !Kung San and their neighbors (pp. 218–245). Cambridge, MA: Harvard University Press.

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Autor

Dr. med. Herbert Renz-Polster, geb. 1960, ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg.

Foto: Jürgen Hudelmayer

Renz-polster-buchDieser Artikel ist eine Zusammenfassung von Überlegungen aus dem Buch „Kinder verstehen. Born to be wild: wie die Evolution unsere Kinder prägt“ (Kösel Verlag, 2009). Weitere Diskussionen zur Rolle der Kindergruppe und zur frühkindlichen Sozialisation sind dort in der Tiefe besprochen.

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Erstellt am 21. Oktober 2011

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