Vom Umgang mit der Langeweile
Ingrid Leifgen
Kaum ein Kind, das sich nicht irgendwann einmal langweilt und sich bitter darüber beklagt. Eltern stehen diesem Phänomen oft hilflos gegenüber, vor allem, wenn es häufig auftaucht. Was ist eigentlich Langeweile? Wie entsteht sie? Und muss sie tatsächlich bekämpft werden?
Langweilige Ferien?
Endlich Ferien! Endlich tun und lassen können, was man will! Gerade mal ein paar Tage ging das gut, dann kam sie, die leidige Klage: “Mir ist sooo langweilig”.
“Man hat ganz viel Zeit, alles zu machen, was man will, aber man hat zu nichts Lust und denkt, die Zeit geht nie rum”, beschreibt die elfjährige Lina den quälenden Schwebezustand. Langeweile, das ist ein Gefühl von Lustlosigkeit, Überdruss und Trägheit. Alles wirkt öde und die Zeit scheint sich endlos auszudehnen. Gleichzeitig spürt man Unrast und den Wunsch, dass einem das Universum auf der Stelle etwas Großartiges bieten müsste. Nicht von ungefähr wirkt das “Mir ist sooo langweilig!” auf Eltern wie ein schwerer Vorwurf: “Ihr bietet mir nicht genug.” Auch Erwachsene kennen das: Der lang ersehnte Urlaub ist da, um einen herum nur noch Ruhe und plötzlich fällt man in ein tiefes Loch. “Ich bin schlecht drauf”, sagen sie eher als “Mir ist langweilig.” Gemeint ist aber oft das Gleiche.
Vertreibt Ablenkung die Langeweile?
Verständlich, dass Kinder wie Erwachsene versuchen, diesem elenden Zustand zu entkommen. Ablenkung durch Aktionismus lautet meistens die Devise und schon die alten Römer hielten es so. Reichlich körperliche Tätigkeit zur Vertreibung der Langeweile empfahl 425 nach Christus ein Cassian seinen Zeitgenossen. Generationen um Generationen verfuhren seither nach solchen Anleitungen. Kein Wunder, dass Eltern schnell in hektische Betriebsamkeit verfallen, wenn sich ihre Sprösslinge in den Fängen der Lageweile wiederfinden. “Willst du nicht mal ins Planschbecken gehen?” “Du könntest doch ein Buch lesen.” “Sollen wir ein Spiel spielen?” Eine Elternzeitschrift riet kürzlich geplagten Müttern und Vätern, bei den Kids für “Bewegung und frische Luft” zu sorgen. Traurige Erfahrung allerdings seit römischer Zeit: Durch Ablenkung allein lässt sich der unbeliebte Zustand auf Dauer nicht vertreiben!
Den Kontakt zu sich selbst verloren
Das Gegenteil von “langer Weile” ist das leidenschaftliche Interesse am Leben, sagt die Zürcher Psychologin Verena Kast. Kinder bringen dieses Interesse mit auf die Welt. Wachen Sinnes nehmen sie ihre Umgebung wahr, bereit, sich vorurteilslos allem und jedem zu stellen. Das muss auch so sein, denn in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt entwickelt ein Mensch seine Innenwelt, sein Verständnis vom Leben und von seinem eigenen Platz in der Schöpfung. Das Interesse ist, so Verena Kast, der Quell intensiver, lustvoller Lebendigkeit. Aus leidenschaftlicher Anteilnahme am Leben entsteht schöpferische Fantasie. Das Kind weiß, was es will. Ganz selbstverständlich richtet sich sein Interesse auch auf die eigene Person, die es mit der gleichen liebevollen Aufmerksamkeit bedenkt, wie das, was außerhalb seiner selbst existiert. In dieser Situation ist das Kind sozusagen mit sich und der Welt im Reinen.
Die Langeweile, sagt die Zürcher Psychologin, ist ein Zustand, in dem das lebendige Interesse vorübergehend verschwunden ist. Anders ausgedrückt: Ein Mensch, der sich langweilt, ist eben nicht mehr mit sich und der Welt im Reinen. Er spürt nicht mehr, was ihn wirklich interessiert, er hat den Kontakt zu sich selbst, zu seiner Kreativität verloren. Ferien sind wie geschaffen dafür, dass sich dieser Verlust bemerkbar macht. Der klar, meist von äußeren Zwängen strukturierte Alltag ist zu Ende, etwas Neues hat sich noch nicht gezeigt. In dieser Umbruchsituation fehlt dem Kind die Orientierung, es nimmt die Zeit nicht mehr wahr. Bietet dazu die Außenwelt keinerlei Anregungen, weil in der brütenden Hitze des Tages buchstäblich nichts passiert, so spiegelt sich dieses “Nichts” in der Seele des Kindes und verstärkt das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Es ist von sich selbst abgeschnitten, es kann sein eigentliches Interesse nicht spüren.
Aber nicht nur ein Mangel an äußerer Anregung kann zu Orientierungslosigkeit und Langeweile führen, sondern auch ihr Gegenteil. Obwohl die Zimmer vieler Kinder mit Spielsachen überhäuft sind, hocken sie nicht selten inmitten der Pracht und langweilen sich. “Spiel doch mit deine Bausteinen”, raten die hilflosen Eltern, oder “Willst du nicht ein schönes Bild malen?” – meistens vergeblich. In Wirklichkeit ist ihr Kind der permanenten Flut von Reizen nicht mehr gewachsen. Das führt zu einer unbewussten inneren Blockade. Es verweigert die Annahme weiterer Anregungen, erstarrt innerlich, verliert den Kontakt zu sich selbst und vergeht vor Langeweile. Und noch etwas kann den Zustand unerträglicher Leere auslösen: Verborgene Ängste. Bei einem Kind, das in der Schule dauernd gehänselt wird, zum Beispiel, können Sorgen und Ängste einen Schatten auf die Seele werfen, seine Energie und Lebensfreude blockieren. Es erstarrt ebenfalls und langweilt sich.
Wo auch immer die Ursachen quälender Langeweile liegen, die entscheidende Frage lautet: Wie findet das Kind zu sich selbst, zu seiner inneren Lebendigkeit zurück?
Sich der Langeweile stellen
Als “Windstille der Seele” bezeichnete der Philosoph Friedrich Nietzsche die Langeweile. Er war der Ansicht, dass man ihr Stand halten, durch sie hindurch gehen muss, damit sich dahinter etwas Neues auftut. Ganz ähnlich argumentiert Verena Karst: Statt Ablenkung um jeden Preis, empfiehlt sie sich der Langeweile zu stellen, sich geradezu auf sie zu konzentrieren. “Was will mir die Langeweile sagen?”, wäre also zu fragen. Es gilt die “lange Weile” zu akzeptieren und zu nutzen, um zu den eigenen Interessen zurückzufinden. Über kurz oder lang, erklärt die Psychologin, wird die Fantasie aktiv werden, wird die Innenwelt von allein in Bewegung kommen.
Wenn sich Lina also an einem heißen Sommertag (in einem Gottesdienst, an Tante Klaras Kaffeetafel) langweilt, dann sollten ihre Eltern sich davon nicht beeindrucken lassen. Statt Vorschläge zu machen oder gar selber ein Spiel anzufangen, sollten sie vielmehr Verständnis für die Gefühle des Kindes und vor allem Vertrauen in seine Fähigkeiten zeigen: “Ich kann verstehen, dass du dich jetzt ein bisschen langweilst. Ich bin aber sicher, das geht gleich vorbei. Dir wird bestimmt wieder etwas einfallen.” Auf diese Weise ermutigen sie Lina, eigene Strategien gegen die Langeweile zu entwickeln und die momentane Krise selbst zu überwinden. Früher oder später wird ihre Fantasie sich regen, wird ihre innere Welt sich ausbreiten. In der Mittagshitze entdeckt sie vielleicht ein spannendes Buch, das sie bisher nicht beachtet hat (in einem Gottesdienst regt das Altarbild sie vielleicht dazu an, eine Geschichte zu erfinden). Jeder Erfolg dieser Art hilft Lina, ihr wirkliches Interesse zu erkennen und stärkt ihr Selbstbewusstsein.
Und wenn die Langeweile zur Dauerlangeweile wird?
Nicht ganz so einfach liegt die Sache allerdings, wenn ein Kind über lange Zeit lustlos und desinteressiert ist. Dann müssen Eltern nach den Ursachen suchen und handeln. Ein Grund könnte sein, dass es unter Reizüberflutung durch zu viel Spielsachen, Computer- oder Fernsehkonsum leidet. Da hilft nur eins: Entrümpeln und reduzieren, damit die Fantasie wieder Raum bekommt ihre Flügel auszubreiten. Möglich ist aber auch, dass sich hinter Dauerlangeweile geheime Ängste oder Probleme verbergen. Hier gilt es behutsam nach den Ursachen zu forschen und das Übel bei der Wurzel zu packen. Aus einer schwierigen Situation in Kindergarten oder Schule weiß ein Kind mitunter alleine keinen Ausweg. Wenn es sich bei Mama oder Papa aussprechen kann und den Rücken gestärkt bekommt, dann hilft das schon weiter. Manchmal muss aber auch die Erzieherin oder die Lehrerin eingeschaltet werden. Ist das eigentliche Problem aus der Welt, verflüchtigt sich die Langeweile von allein. Die Blockade ist gelöst, das Mädchen, der Junge findet zu seiner inneren Lebendigkeit zurück.
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Autorin
Ingrid Leifgen ist freie Journalistin und Autorin mit dem Schwerpunkt Familie und Erziehung. Sie hat drei Kinder.
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Erstellt am 15. März 2004, zuletzt geändert am 25. Juli 2013