Sich bewegen lernen heißt seine Umwelt “erobern”

Dr. Heinz Krombholz
Hkrombholz

Nicht nur für ihre gesunde körperliche Entwicklung ist Bewegung für Kinder wichtig, sondern auch für ihre geistige, emotionale und soziale Entwicklung. Der Beitrag beschreibt die Entwicklung der grundlegenden Bewegungsfertigkeiten und Möglichkeiten und Ziele einer kindgerechten Bewegungsförderung im Kleinkindalter.

Die Bedeutung der Bewegung für die Gesundheit und die körperliche Entwicklung ist allgemein akzeptiert. Zunehmend wird aber auch anerkannt, dass die Bewegung für die Entwicklung der Wahrnehmung und für die kognitive, emotionale und nicht zuletzt soziale Entwicklung von grundlegender Bedeutung ist. Ohne Bewegung ist selbst das Sehen unmöglich; zum Schauen ist die Bewegung der Augen, das Wenden des Kopfes, das Ausrichten des Körpers notwendig.

Gerade in der frühen Kindheit erfolgt die unmittelbare Erfahrung (vgl. Krombholz 2012), das “Begreifen” der Umwelt, vorwiegend durch die Tätigkeit des Kindes, über seine körperlichen und seine sinnlichen Erfahrungen. Diese unmittelbare Auseinandersetzung mit der Umwelt gilt als wesentlich für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und des Denkens. Dies hat insbesondere der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget in seinem umfangreichen Werk nachgewiesen (Piaget 1969). Auch die Äußerungen des Kindes erfordern motorische Aktivitäten: Das erste Lächeln des Säuglings, das die Eltern entzückt, alle mimischen Ausdrucksformen sind Bewegung. Nicht zuletzt erfordert auch gerade das Sprechen ein ausgeprägtes, fein abgestimmtes Zusammenspiel vielfältiger Bewegungen. Beim Zeichnen und Malen und beim Schreiben werden Bewegungen festgehalten.

Das Kleinkind, das lernt, sich selbständig fortzubewegen, kann dadurch seinen Lebensraum beständig erweitern und erforschen, seine Unabhängigkeit steigern und neue Erfahrungen sammeln, die für seine weitere Entwicklung entscheidend sind. Bei dieser “Eroberung” der Umwelt ist das Kind zunächst in hohem Maße auf die Mithilfe anderer Personen, in erster Linie natürlich seiner Eltern, angewiesen.

Wie entwickelt sich die Bewegung des Kleinkindes?

Im folgenden wollen wir einige Überlegungen zur motorischen Entwicklung des Kindes in der frühen Kindheit vorstellen, die für die Förderung der motorischen und damit der Gesamtentwicklung des Kindes von Bedeutung sind, und die vor allem Fertigkeiten wie Laufen, Steigen, Klettern, Springen, Fangen und Werfen betreffen. (Eine ausführliche Darstellung der motorischen Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter findet sich in Krombholz 1999, im Vorschulalter in Krombholz 1985a.)

Die motorische Entwicklung des Kindes beginnt bereits vor der Geburt: ab dem 5. Schwangerschaftsmonat können Bewegungen des Fötus von der Mutter wahrgenommen werden und sie werden im weiteren Verlauf der Schwangerschaft zunehmend intensiver. Bei Neugeborenen sind verschiedene Reflexe vorhanden, von denen einige für das Überleben des Neugeborenen unerlässlich sind, z.B. Saugreflex, Inspirationsreflex und Schluckreflex. – Der spektakulärste der bei der Geburt vorhandenen Reflexe ist der Darwin-Reflex, der es einigen Neugeborenen ermöglicht, sich mit beiden Händen z.B. an einem waagrechten Seil festzuklammern. In der frühen Kindheit entwickeln sich – nach Abschluss der notwendigen Reifung des Nerven- und Muskelsystems – die elementaren motorischen Fertigkeiten: Sitzen, Krabbeln, Stehen und Laufen, aber auch das Greifen. Diese Grundformen sind bei allen Kindern zu beobachten, wobei jedoch erhebliche individuelle Unterschiede im Zeitpunkt des Auftretens und in der gezeigten Güte dieser Bewegungsformen bestehen, d.h. verschiedene Kinder beherrschen diese Bewegungsformen in unterschiedlichem Alter. Altersangaben für das Auftreten dieser Bewegungsformen sind daher nicht unproblematisch. Allerdings ist die Reihenfolge, in der die elementaren Grundfertigkeiten normalerweise auftreten, für alle Kinder gleich, lediglich die Geschwindigkeit, in der die einzelnen Entwicklungsschritte stattfinden, variiert erheblich, und es können auch einzelne Fertigkeiten übersprungen werden (z.B. krabbeln einige Kinder angeblich nie, vgl. Zaichkowsky, Zaichkowsky & Martinek 1980, S. 31).

In der frühen Kindheit erfolgt – entsprechend der körperlichen Reifung – eine zunehmende Vervollkommnung der Grundfertigkeiten, gleichzeitig werden sie modifiziert und es entwickeln sich neue Fertigkeiten. Die Fähigkeit zur selbständigen Fortbewegung verbessert sich rasch, die Bewegungen werden sicherer, zielgerichteter und ökonomischer. Später zeigen sich die Grundformen der sportlichen Motorik wie Laufen oder Rennen, Klettern, Springen, Balancieren, Fangen und Werfen. Diese Fertigkeiten ermöglichen den Kindern eine effektivere Auseinandersetzung mit der Umwelt, eine Erweiterung ihres Lebensraumes und damit auch ihres sozialen Umfeldes. Die genannten Grundformen entwickeln sich im wesentlichen in der Zeit vom 2. bis zum 6. Lebensjahr. Sie werden in der Folge weiter verfeinert, flüssiger und besser kontrolliert. Zudem werden sie bei Bewegungsspielen eingesetzt und können miteinander kombiniert werden (z.B. Werfen eines Balls im Laufen). Bei entsprechender Anregung können die Kinder bereits im Vorschulalter neue spezifische Fertigkeiten wie Rollschuhlaufen, Turn- und Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen, Radfahren erlernen.

Bemerkenswert für unsere Vorstellungen von der motorischen Entwicklung sind Untersuchungsergebnisse (in der Regel an Zwillingen), wonach die motorischen Leistungen in den ersten beiden Lebensjahren, z.B. Laufen lernen oder auf eine Leiter steigen, durch systematisches Üben offenbar nicht beschleunigt werden können bzw. dass ein durch Training erzielter Entwicklungsvorsprung in kürzester Zeit wieder aufgeholt wird (McGraw 1935). Auch Studien an Kindern, die unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt sind, kommen zu entsprechenden Ergebnissen: So lernen Hopi-Kinder (die Hopi sind ein nordamerikanischer Indianerstamm), die in ihrem 1. Lebensjahr traditionell so gewickelt werden, dass sie sich praktisch nicht bewegen können, keineswegs später laufen als Kinder, die nicht derartig in ihrer Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt werden (Dennis 1940). – Dies schließt natürlich nicht aus, dass extrem ungünstige Bedingungen, die nicht nur die Bewegungsmöglichkeiten betreffen, auch die motorische Entwicklung erheblich verzögern können.

Die Wissenschaft neigt aufgrund dieser Befunde zur Ansicht, dass die Entwicklung der motorischen Grundfertigkeiten vorwiegend durch Reifungsvorgänge (also gleichsam “von innen”) gesteuert wird, und erst nach dem 2. – 3. Lebensjahr Lernvorgänge für den Erwerb und die Ausprägung der motorischen Leistungen an Bedeutung gewinnen. – Erst dann ist auch ein systematisches Üben oder Trainieren einzelner Fertigkeiten möglich (z.B. im Turnen und Eislaufen). Vor diesem Alter fehlen vielfach die biologischen Voraussetzungen zum Erwerb bestimmter Fertigkeiten, und es muss abgewartet werden, bis die notwendigen Reifungsvorgänge abgeschlossen sind.

Aufgrund des derzeitigen Erkenntnisstandes der Entwicklungsbiologie und
-psychologie sind Bewegung und Sport unverzichtbare Bestandteile der Erziehung des Kindes. Für das Kind ist die Bewegung zunächst Ausdruck seiner natürlichen Lebensfreude, dient dem Wohlbefinden und der Förderung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Dass dem Aspekt der Gesundheit eine erhebliche Bedeutung zukommt, belegen Erhebungen, wonach ein erheblicher Prozentsatz der eingeschulten Kinder Haltungs- und Organleistungsschwächen aufweist. Auch auf eine Zunahme der Störungen der Körperkoordination, d.h. des aufeinander abgestimmten Zusammenwirkens verschiedener Muskeln und Muskelgruppen bei Bewegungen, wird verschiedentlich hingewiesen. Da eine gut entwickelte Körperkoordination eine Grundvoraussetzung für viele motorische Aktivitäten und Sportarten darstellt und bewegungsgeschickte Kinder in vielen kritischen Situationen weniger unfallgefährdet sind, erscheint es lohnend, der Körperkoordination besondere Beachtung zu schenken und Übungen, die diese Fähigkeit steigern, anzuregen.
Was will die Bewegungserziehung?

Ziele der Bewegungsförderung sind:

  • motorische, psychische und kognitive Anreize vermitteln
  • vielfältige Bewegungserfahrungen sammeln
  • motorische Kompetenzen erweitern
  • die Gesamtpersönlichkeit stärken
  • positive soziale Verhaltensweisen einüben.

Es ist nicht vordringliche Aufgabe, die Kinder körperlich leistungsfähiger und kräftiger, gelenkiger, schneller und ausdauernder zu machen, auch wenn dies bei allen gut geplanten und durchgeführten Bewegungsprogrammen erwartet werden darf.

Bei der Planung und Durchführung von Bewegungsprogrammen mit Kindern muss die Erkenntnis im Vordergrund stehen, dass zwischen motorischem Verhalten, emotionalem Erleben und kognitiven Prozessen – also zwischen Bewegen, Fühlen und Denken – nur willkürlich unterschieden werden kann. Jedes Verhalten umfasst motorische, emotionale und kognitive Aspekte. Für Kinder ist die Bewegung ein wichtiges Mittel, Informationen über ihre Umwelt, aber auch über sich selbst, ihren Körper, ihre Fähigkeiten zu erfahren, die eigenen Fähigkeiten einzuschätzen, das notwendige Selbstvertrauen zu entwickeln und im (Bewegungs-) Spiel mit anderen soziale Lernerfahrungen zu sammeln. Kinder sollen daher möglichst vielfältige Bewegungserfahrungen machen können; diese Erfahrungen betreffen die physikalische Umgebung, Objekte, die bewegt werden können, akustische und optische Reize, die vorgegeben oder selbst erzeugt werden können. Dabei müssen Kinder ausreichend Gelegenheit erhalten, in möglichst offenen Bewegungssituationen ihre motorischen Möglichkeiten selbständig zu erproben und zu vertiefen. Übungen sollen, aufbauend auf der natürlichen Bewegungsfreude des Kindes, möglichst in spielerischer Form stattfinden. Auch hochkomplexe Bewegungsfertigkeiten und spezielle Fertigkeiten, wie der Umgang mit Kleingeräten und grundlegende Spielformen können auf diese Art erlernt werden.

Für das Erlernen sozialer Verhaltensweisen sind vor allem Bewegungsspiele geeignet. Sie bieten die Möglichkeit, soziale Verhaltensweisen anzuregen und zu fördern, z.B. beim Anpassen an einen Partner, dem Respektieren bestimmter Regeln. – Solchen sozialen Lernerfahrungen kommt wachsende Bedeutung zu, da die Zahl der Kinder in der Bundesrepublik abnimmt und die Zahl der Einzelkinder, also der Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, zunimmt. Kinder wachsen somit zunehmend ohne Kontakt zu anderen Kindern auf. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die kindliche Entwicklung. Zwar zeigen Ergebnisse der Entwicklungspsychologie, dass Einzelkinder hinsichtlich ihrer geistigen Entwicklung keineswegs benachteiligt sind, eher ist das Gegenteil der Fall. Es ist jedoch zu befürchten, dass der fehlende Kontakt mit Gleichaltrigen zur Verkümmerung der sozialen Kompetenz führt. (vgl. den Beitrag in diesem Handbuch von H. Kasten: Entwicklung von Einzelkindern)

Bewegung fördern – aber wie?

Für die Bewegungsförderung im Kleinkindalter eignen sich Übungen und neue, kindgemäße Übungs- und Spielgeräte, z.B. Zeitlupenbälle und Pedalos. Es können Übungen zu folgenden Bereichen angeboten werden:

  • Sinneserfahrung (wobei taktile, visuelle und akustische Reize angesprochen werden sollen, also Fühlen Sehen, Hören)
  • Körpererfahrung (Bewegungs- und Lageempfinden, Körperstruktur)
  • großräumige Bewegungserfahrung (Kraftentfaltung, Raumorientierung, Überwinden von Hindernissen)
  • kleinräumige Bewegungs- und Materialerfahrung (Kraftdosierung, Geschicklichkeit, Auge-Hand-Koordination).

Hinzu können rhythmisch-musikalische, pantomimische und tänzerische Darstellungsformen sowie Wassergewöhnungs- und Schwimmübungen treten.

Bewegung, Sport und Spiel in der Kindheit stellen einen Wert an sich dar und bedürfen keiner weiteren Begründung für ihre Berücksichtigung in der Erziehung und im Leben der Kinder, ganz besonders in der frühen Kindheit. Es ist daher unnötig, die Bewegungsförderung mit “sekundären” Lernzielen aufwerten zu wollen (z.B. Förderung der Sprachentwicklung, Förderung der kognitiven Entwicklung), auch wenn solch übergreifende Wirkungen durchaus, gewissermaßen als Nebenprodukt, anfallen werden. Wichtig erscheint, dass die Freude, die Kinder bei Sport und Spiel erleben, erhalten bleibt und nicht inadäquaten Lehrmethoden und Inhalten zum Opfer fällt. Die vorhandene Bereitschaft der Kinder zu motorischer Aktivität sollte aufgegriffen und ermutigt und keinesfalls abgeblockt werden. Nur dann wird die Grundlage für eine lebenslang freudig betriebene sportliche Betätigung gelegt werden. Wichtig hierfür ist nicht zuletzt das Vorbild der Bezugspersonen, Eltern, Erzieher, Übungsleiter, aber auch eine Umwelt, in der diese Bereitschaft nicht aus Sicherheitsgründen, z.B. wegen der Gefährdung durch den Straßenverkehr, unterdrückt werden muss.

Unter dem Aspekt der Sicherheit ist zu beachten, dass Bewegung und Bewegungsspiele niemals frei von Gefahren sind. Absolute Sicherheit kann nicht erreicht werden und ist auch aus pädagogischen Gründen wenig sinnvoll: Kinder müssen lernen, ihre Fähigkeiten einzuschätzen, Risiken zu kalkulieren und ihr Handeln entsprechend auszurichten. So zeigt sich, dass zuviel (vermeintliche) Sicherheit die Verletzungsgefahr für Kinder erhöht und Bewegungssicherheit sich nur durch Bewegungserfahrung erreichen lässt (vgl. Kunz 1992). Dies entbindet natürlich keinesfalls die Verantwortlichen von der Verpflichtung, ernsthafte Gefahrenquellen auszuschalten!

Literatur

  • Appleton, T., Clifton, R. & Goldberg, S.: The development of behavioral competence in infancy. In: Horowitz, F.D. (Ed.): Review of child development research. Vol. 4. Chicago 1975, S. 101-186
  • Dennis, W.W.: The effect of cradling practices upon the onset of walking in Hopi children. Journal of Genetic Psychology, 1940, 56, 77-86
  • Frostig, M.: Bewegungserziehung – Neue Wege der Heilpädagogik. München 1973
  • Held, R. & Hein, A.: Movement-produced stimulation in the development of visually guided behavior. Journal of Comparative and Physiological Psychology, 1963, 56, 872-876
  • Kiphard, E.J.: Leibesübung als Therapie. Gütersloh 1975
  • Kiphard, E.J.: Motopädagogik im Krippenalter. Motorik, 1987, 10, 3
  • Kiphard, J.E. & Leger, A.: Psychomotorische Elementarerziehung. Gütersloh 1975
  • Krombholz, H.: Bewegung – ein notwendiger Schritt ins Leben. frühe Kindheit, 2012, 15 (3), 7-13
  • Krombholz, H.: Körperliche, sensorische und motorische Entwicklung im 1. und 2. Lebensjahr. In: Deutscher Familienverband (Hrsg.): Handbuch Elternbildung. Band 1: Wenn aus Partnern Eltern werden. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 533-557
  • Krombholz, H.: Motorik im Vorschulalter. Ein Überblick. Motorik, 1985a, 8, 83-96
  • Krombholz, H.: Sport und Bewegungserziehung. Unterschiedliche Ansätze für die Bewegungsförderung und für den Sport mit Kindern. Sportunterricht, 1985b, 34, 416-420
  • Kunz, T.: Mit Bewegungsspielen gegen Unfälle. Kindergarten heute, 1991, 21 (4), 27-33
  • McGraw, M.B.: Growth: a study of Jonny and Jimmy. New York 1935
  • Piaget, J.: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart 1969
  • Singer, R.: Motor learning and human performance. New York 1980
  • Zaichkowsky, L.D., Zaichkowsky, L.B. & Martinek, T.J.: Growth and development. The child and physical activity. St. Louis 1980
  • Zimmer, R.: Kreative Bewegungsspiele. Psychomotorische Förderung im Kindergarten. Freiburg i.Br. 1992

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Dr. Heinz Krombholz, Dipl.-Psychologe
Staatsinstitut für Frühpädagogik

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Erstellt am 17. Juni 2002, zuletzt geändert am 2. Dezember 2014

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