Therapien bei Autismus

Prof. Dr. Matthias Dalferth

Immer wieder wird behauptet, dass autistische Menschen geheilt werden können. Berichte von spektakulären Heilungserfolgen sind natürlich geeignet, große Hoffnungen zu erzeugen. Tatsächlich ist aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine vollständige Heilung nicht möglich und eine völlig selbständige Lebensführung nur in Einzelfällen bekannt. Auch bei den am stärksten zur Kompensation befähigten Menschen bleiben Auffälligkeiten in der Kommunikation, in der Selbständigkeit und im Sozialverhalten bestehen.

Dennoch gibt es keinen Grund für Pessimismus! Denn wissen wir heute sehr viel mehr darüber, wie autistische Menschen am besten lernen und wie sie in ihrer Entwicklung wirkungsvoll unterstützt werden können. Dadurch sind die Chancen für autistische Kinder, mit ihren Beeinträchtigungen in unserer komplizierten Gesellschaft zurechtzukommen und einen ihnen gemäßen Platz einnehmen zu können, deutlich gewachsen.

Welche Therapien haben sich als wirkungsvoll erwiesen?

Da über das Zusammenwirken der verschiedenen verursachenden Faktoren bei Autismus noch keine Klarheit herrscht, ist eine kausale Therapie nicht möglich. Da zudem die Ausprägung einer autistischen Behinderung sehr unterschiedlich sein kann, erfordert dies zwangsläufig ein Vorgehen, das sich am Einzelfall und dem jeweiligen Entwicklungsstand orientiert.

In jedem Falle erscheint ein mehrdimensionaler Ansatz (“Komplextherapie”) sinnvoll zu sein. Bei der Erstellung eines Behandlungsplanes sollten Eltern, Therapeut/innen und andere Fachkräfte eng zusammenarbeiten. Hilfestellung leisten Autismusambulanzen, Kinder- und Jugendpsychiatrien.

Es existieren ca. 30 verschiedene Behandlungsansätze (Baron-Cohen 1996, Dzikowski 1990, Janetzke 1993, Weiß 2002), von denen sich einzelne als besonderes sinnvoll erwiesen haben. Zu diesen Verfahren, die hier im Detail nicht vorgestellt werden können, gehören:

  • Aufmerksamkeits-Interaktionstherapie (Hartmann),
  • Sensorische Integrationstherapie (Ayres),
  • Differentielle Beziehungstherapie (Janetzke),
  • Verhaltenstherapie,
  • TEACCH-Programme (Schopler),
  • Ergotherapie,
  • Musiktherapie,
  • Sprachunterstützende und sprachersetzende Therapien,
  • Körperbezogene Verfahren,
  • Medikamentöse Therapien.

Folgende Möglichkeiten bestehen, wie der Anspruch von Menschen mit Autismus auf Teilhabe am Leben der Gemeinschaft und am Arbeitsleben wirksam unterstützt werden kann:

  • Sobald ein Verdacht auf eine autistische Behinderung besteht, sollte eine diagnostische Abklärung am besten in einem Autismuszentrum oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen.
  • Auch bei einer drohenden Behinderung besteht Anspruch auf Frühförderung (FF) durch regionale Frühförderstellen. Es hat sich gezeigt, dass sich die Entwicklung durch frühzeitige Unterstützung der Angehörigen bei der Erziehung und durch geeignete therapeutische Interventionen positiv beeinflussen lässt.
  • Gleichfalls können die Angehörigen die Hilfe von Familientlastungsdiensten (FED) in der Region in Anspruch nehmen. Die ambulante Behindertenhilfe bietet Angehörigen, die Zeit zur Erholung oder zur Erledigung anderer wichtiger Aufgaben benötigen, die Möglichkeit, stundenweise, am Wochenende oder im Rahmen vorn Freizeitmaßnahmen die behinderten Kinder durch Fachkräfte betreuen zu lassen.
  • Etliche Modellversuche haben unter Beweis gestellt, dass eine Integration in einen Regelkindergarten nicht nur erwünscht, sondern auch möglich ist, wenn besondere Rahmenbedingungen (kleine Gruppen, Rückzugsmöglichkeiten, kundige Betreuer/innen für die behinderten Kinder, Elternarbeit und aktive Gruppenintegration) geschaffen werden (vgl. Kapitel “Nichtaussondernde Förderung behinderter Kinder in Kindertageseinrichtungen”). Ansonsten kommen Sonderkindergärten, in Bayern schulvorbereitende Einrichtungen (SVE) in Frage.
  • Eine wichtige Hilfe bei der therapeutischen Begleitung stellen die Autismusambulanzen dar (vgl. BV HAK).
  • Auch die Beratungslehrer für Autismus können in Orientierung an den “Empfehlungen zur Beschulung autistischer Kinder” (Kultusministerkonferenz, vgl. Kaminski et al. 2000) Hilfestellung bei der Auswahl einer geeigneten Schule leisten. Grundsätzlich kommt je nach Ausprägung der Behinderung nahezu jeder Schultypus in Frage. Für die integrative Beschulung sind kleine Klassen mit nicht mehr als 20% von Kindern mit Behinderungen, qualifizierte Förderlehrer, einschlägige Fortbildung des pädagogischen Personals, individuelle Förder- und Lehrpläne, geeignetes didaktische Material und spezifische räumliche Voraussetzungen erforderlich (vgl. Kaminski et al. 2000).
  • Die berufliche Bildung von jungen Menschen mit Autismus, insoweit eine Ausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit ausbildungsbegleitenden Hilfen nicht möglich ist, kann auch in überbetrieblichen Ausbildungsstätten (Berufsbildungswerken) erfolgen. Im BBW Abensberg findet gegenwärtig ein vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gefördertes Projekt zur beruflichen Förderung von jungen Menschen mit Autismus statt.
  • Eine berufliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt macht in der Regel die Vermittlung von geeigneten Arbeitsstellen durch die Arbeitsassistenten der Integrationsfachdienste zur beruflichen Eingliederung behinderter Menschen (IFD) erforderlich. Ohne einen job-coach, der die autistische Menschen bei der Arbeit einführt und begleitet, ist eine Teilhabe am Arbeitsleben, wie es das SGB IX fordert, erfahrungsgemäß nicht möglich.
  • Menschen mit einer autistischen Behinderung können auch in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) im Berufsbildungsbereich zwei Jahre gefördert werden und schließlich in einem geschützten Produktionsbereich beruflich tätig werden. Heute befinden sich dort ca. 60% der Erwachsenen mit Autismus.
  • Personen mit schwerst- und mehrfachen Behinderungen, die (noch) kein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit erbringen können, werden in den Werksstätten angeschlossenen Fördergruppen oder in heilpädagogischen Tagesstätten betreut.

Menschen mit Autismus wachsen heute vorwiegend im Elternhaus auf. Da sie in aller Regel auch im Erwachsenenalter Hilfe benötigen, um ihren Alltag zu bewältigen, sind sie auf eine geeignete Wohnform angewiesen. Nur wenige können völlig selbstständig leben, einige kommen mit geringer Unterstützung in betreuten Wohnformen zurecht. 75% sind auf kleine Wohneinheiten, Wohngemeinschaften oder auf Vollzeiteinrichtungen für Behinderte angewiesen. Vorzugsweise sollten sie in Einrichtungen Aufnahme finden, die sich durch Überschaubarkeit, kleine Gruppengröße (4-6 Bewohner/innen), autismuskundige Betreuer/innen und Lebensweltintegration auszeichnen. Dies erscheint notwendig, da es im Lebensverlauf immer wieder zu krisenhaften Entwicklungen kommen kann, die fachliche Kompetenzen erfordern. Im Einzelfall kann auch eine kurzfristige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik zur Krisenintervention unverzichtbar sein. Die weitere Entwicklung von geeigneten gemeinwesenintegrierten Wohnformen für schwerst- und mehrfachbehinderte Menschen mit Autismus ist erforderlich, um eine Fehlplatzierung in der Psychiatrie zu vermeiden, die für einen längerfristigen Aufenthalt nicht geeignet erscheint.

Etliche Erwachsene würden gerne eine dauerhafte Partnerschaft eingehen oder eine Familie gründen. Jedoch hat es sich gezeigt, dass die Kommunikationsdefizite und das Ausmaß der sozialen Beeinträchtigung im Umgang mit dem anderen Geschlecht eine in der Regel unüberwindliche Hürde darstellen.

Menschen mit Autismus benötigen lebenslang Hilfe, um mit den Anforderungen des Alltags in einer differenzierten Gesellschaft zurechtzukommen. Wir wissen heute viel mehr als früher darüber, wie diese Menschen gefördert und unterstützt werden können, damit sie den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft einnehmen und ein glückliches Leben führen zu können.

Dieses Wissen sich zu Nutze zu machen, günstige Bedingungen für eine bestmögliche Förderung und Voraussetzungen für ein integriertes Leben autistischer Menschen in der Gesellschaft zu schaffen, ist erklärtes Ziel des Bundesverbandes und der Regionalverbände Hilfe für das autistische Kind. An diese Verbände können sämtliche Anfragen, die sich auf Diagnose und Förderung, Ausbildung und Erziehung, Therapie und Wohnen, Arbeit und soziale Integration beziehen, gerichtet werden.

Wichtige Kontaktadresse

Bundesverband Hilfe für das autistischen Kind (BV HAK)

Vereinigung zur Förderung autistischer Menschen e.V.
Bebelallee 141
22297 Hamburg
Tel.: 040/5115604

E-Mail

Website

Literatur

  • Baron-Cohen, S.; Bolton, P. (1996): Autism. The facts. Oxford University Press, New York
  • BV HAK (Hrsg.): Denkschrift zur Situation autistischer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 2001 (enthält das aktuelle Basiswissen über Autismus, wichtige Literaturhinweise und Hinweise auf Broschüren zu den verschiedensten Themen und Symptomlisten, die vom BV aufgelegt wurden, sowie die Anschriften sämtlicher Regionalverbände und Ambulanzen)
  • BV HAK (Hrsg.): Berufliche Integration autistischer Erwachsener (bearb. v. M. Dalferth). Hamburg 1996
  • Dzikowski, St.; Arens, Ch. (Hrsg.) (1988, 1990): Autismus heute, Bd. I und II. Neue Aspekte der Förderung autistischer Kinder. vml., Dortmund
  • Janetzke, H. (1993): Stichwort Autismus. Heyne, München
  • Kaminski. M.; Rumpler, F.; Stoellger, N. (Hrsg.) (2000): Pädagogische Förderung von autistischer Kindern und Jugendlichen mit Autismus. Tagungsbericht, hrsg. vom BV HAK und VDS, Würzburg
  • Remschmidt, H. (2000): Autismus. Erscheinungsformen, Ursachen, Hilfen. Beck, München
  • Schopler, E.; Lansing, M.; Waters, L. (2000): Übungsanleitungen zur Förderung autistischer und entwicklungsbehinderter Kinder. vml., Dortmund
  • Weiß, M. (2002): Autismus. Therapien im Vergleich. Marhold, Berlin

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Prof. Dr. phil. Matthias Dalferth (Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des BV Hilfe für das autistische Kind)
Fachhochschule Regensburg
FB Sozialwesen
Postfach 12 03 27
D-93025 Regensburg

Tel.: 0941/9431087/81

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Erstellt am 7. Februar 2004, zuletzt geändert am 16. März 2010
 

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