Motive von Adoptiveltern und Entwicklung ihrer Kinder

Prof. Dr. René A.C. Hoksbergen

Der gesellschaftliche Wandel in den letzten 60 Jahren hat z.B. dazu geführt, dass immer weniger einheimische Kinder zur Adoption freigegeben und deshalb zunehmend ausländische Kinder adoptiert wurden. Im folgenden Beitrag wird dargestellt, wie sich im Verlauf dieser Zeit die Motive für die Adoption ausländischer Kinder änderten. Ferner werden die besonderen Probleme in der Eingewöhnungsphase – aber auch danach – beschrieben, die aus der (traumatischen) Vorgeschichte ausländischer Adoptivkinder und ihrer gestörten (frühkindlichen) Entwicklung resultieren.

Einleitung

Zwischen 1950 und heute hat sich die Welt der Adoption in Europa grundlegend verändert. In diesem Beitrag werden wir diesen Wandel und seinen Einfluss auf Adoptiveltern und Adoptivkinder verdeutlichen. Zuerst nennen wir einige wichtige Veränderungen im 20. Jahrhundert:

Im Laufe der sechziger Jahre wurden alle möglichen Familienangelegenheiten offener diskutiert. Die Situation der abgebenden Mutter wurde in einem anderen Licht gesehen. Ihr Schmerz und ihr Kummer über die Fortgabe des Kindes wurden erkannt. Diese größere Offenheit hatte zur Folge, dass Adoptivkinder ihre Ursprungseltern finden konnten. Kinderschutzeinrichtungen waren in dieser Richtung unterstützend tätig.
Ende der sechziger Jahre wuchs auch das Verständnis sowohl für die große Not einer Mutter, die ihr Kind abgeben muss, als auch für die psychischen Probleme eines Adoptierten, weil er weggegeben worden war. Seit dem Ende der sechziger Jahre bemühen sich deshalb die Sozialarbeiter, die im Adoptionsbereich arbeiten, das Abgeben eines Kindes – wenn möglich – zu verhindern.
Die Anzahl ungewünschter Schwangerschaften nahm in den sechziger und siebziger Jahren in ganz Europa durch verlässliche Verhütungsmittel wie die Pille stark ab.
Die Einführung von Sozialhilfegesetzen, die jedem Bedürftigen ein Existenzminimum garantieren, erlaubte es allein stehenden jungen Müttern, ihr Kind selbst zu versorgen und aufzuziehen.

Diese Entwicklungen und die verbesserten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse waren in den sechziger und siebziger Jahren die Ursache für die schnell abnehmende Zahl europäischer Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden. Wer adoptieren wollte, war bald fast vollkommen auf Kinder aus dem Ausland angewiesen. Die “Adoptionswelt” hatte sich grundlegend verändert.
Konsequenzen für den Adoptionsbereich

Nach unseren Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen führte dieser Wandel zu Veränderungen in der Motivation von Adoptiveltern. In Verlauf der letzten 50, 60 Jahre lassen sich vier zentrale Einstellungen unterscheiden:

(1) Als das Phänomen der Adoption von Kindern noch wenig bekannt und akzeptiert war, waren Adoptiveltern zumeist traditionell und ziemlich verschlossen eingestellt. In den Jahren vor etwa 1970 wurde die Adoption eines Kindes meistens tabuisiert. Nahezu nur ungewollt kinderlose Ehepaare meldeten sich für ein “einheimisches” Adoptivkind. Über die Adoption ihres Kindes wurde nicht oder so wenig wie möglich gesprochen. Zwar klärten die meisten Eltern das Kind über die Situation auf. Dazu waren sie schließlich in fast allen Ländern auch verpflichtet, ansonsten wurde jedoch die Existenz der Ursprungseltern negiert. Anderen Personen gegenüber wurde die Adoption meistens verschwiegen. Die vorherrschende Einstellung der Adoption gegenüber lässt sich daher ganz kurz umschreiben mit Verneinung des Unterschiedes zwischen Adoptiv- und biologischer Elternschaft.

In den fünfziger Jahren und zu Beginn der sechziger Jahre gab es wenig Widerstand gegen die verschiedenen Anforderungen des Adoptionsgesetzes. Wie in dieser Zeit üblich, waren die Menschen und auch die Adoptionsbewerber sehr obrigkeitshörig. Beispielsweise akzeptierten sie in den Niederlanden klaglos, dass sie erst fünf Jahre verheiratet sein mussten und das Kind drei Jahre bei ihnen in Pflege gewesen sein musste, bevor sie es gesetzlich adoptieren konnten. Trotzdem ließ die Adoptionspraxis bald erkennen, dass das Gesetz einiger Änderungen bedurfte. So war eine Adoptionspflege von drei Jahren nicht im Interesse des Kindes. Wenn beispielsweise ein Elternteil innerhalb dieser drei Jahre starb, konnte die Adoption nicht ausgesprochen werden und das Kind befand sich in einem juristischen Vakuum. Erst 1998 mussten die Eltern in den Niederlanden nicht mehr fünf Jahre verheiratet sein, sondern nur drei Jahre. Außerdem ist eine standesamtliche Heirat in den Niederlanden nicht mehr Voraussetzung für eine Adoption. Ein Partnerschaftsvertrag ist jetzt ausreichend. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch Alleinstehende eine Adoption beantragen (zum deutschen Adoptionsrecht siehe den Beitrag “Adoption – rechtlich gesehen”).

(2) Im Zeitraum nach etwa 1970 wurde in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Schweden, Norwegen und Dänemark viel offener mit Themen wie Adoption, Familiengründung, Sexualität und Abtreibung umgegangen als in den Jahren zuvor. Die in der Gesellschaft existierende größere Offenheit hinsichtlich der Adoption hatte auch zur Folge, dass diese immer mehr als Möglichkeit der Familiengründung angesehen wurde. Als logische Konsequenz nahm die Zahl der kinderlosen und nicht kinderlosen Ehepaare, die ein Kind adoptieren wollten, in den siebziger Jahren schnell zu. Die Zahl der Adoptionen stieg dadurch in Ländern wie Schweden, Holland, Belgien, Dänemark und Norwegen beträchtlich an.

Hierzu trug auch das Fernsehen bei, das es seit 1951 gab und das schon in den sechziger Jahren in unserer Welt zum Allgemeingut geworden war. Im Fernsehen wurden unmittelbar Bilder des großen Elends gezeigt, in dem Millionen von Kindern in der Dritten Welt (z.B. in Südkorea, Biafra, Vietnam, Indien und Kolumbien) lebten. Viele Menschen nahmen sich das Schicksal dieser Kinder sehr zu Herzen.

Durch diese Entwicklung entstand eine neue, global orientierte Offenheit hinsichtlich der Adoption. Es war die Zeit der idealistischen, offenen Adoptiveltern. Nicht nur ungewollt kinderlose Ehepaare bewarben sich um ein Adoptivkind, sondern zunehmend auch Ehepaare, die schon ein oder mehrere biologische Kinder hatten. Dies hing damit zusammen, dass nun die Einstellung Anerkennung des Unterschiedes zwischen Adoptiv- und biologischer Elternschaft zunehmend akzeptiert wurde. Mehr und mehr wird seitdem von Adoptiveltern anerkannt, dass sich ihre Elternschaft in einigen wesentlichen Aspekten von der biologischen Elternschaft unterscheidet. Die Adoptionsmotivation der neuen Generation von Adoptiveltern müssen wir vor dem Hintergrund dieses Einstellungswandels sehen. Es handelte sich öfters um Eltern, die bereits Kinder hatten. Auch war die idealistische und oft leidenschaftlich engagierte Elterngruppe nicht so obrigkeitshörig wie die vorherige Adoptiveltern-Generation.

Immer mehr Ehepaare, die selbst schon ein oder mehrere Kinder hatten, wollten nun ein Kind aus Südamerika, Asien oder Afrika adoptieren. Ihre Motivation ist eher extern bestimmt: Im Mittelpunkt stand mehr das Kind in seiner Not und weniger das Befriedigen eines unerfüllten Kinderwunsches. Voller Begeisterung und Idealismus knüpften die Adoptiveltern Kontakte in viele Länder. In dieser Zeit wurde eine große Zahl von Kindern aus Asien (Vietnam, Thailand, China u.a.), Südamerika (Kolumbien, Brasilien, Bolivien u.a.), dem Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika (Äthiopien, Marokko u.a.) adoptiert. Die Anzahl der Adoptionen einheimischer oder europäischer Kinder ging weiter zurück.

An Erziehungsprobleme, die Adoptiveltern bei der Adoption von Kindern aus Asien, Südamerika oder Afrika bekommen könnten, oder an die mögliche Diskriminierung dieser Kinder in unserer Gesellschaft wurde jedoch noch kaum gedacht. Erst in den achtziger Jahren wurden diese Fragen in Büchern und Zeitungsartikeln immer häufiger aufgegriffen. Die Adoptiveltern wurden ermuntert, nicht zu lange alleine nach Lösungen für die manchmal sehr belastenden Verhaltensprobleme ihres Kindes zu suchen. Aus Untersuchungen und aus der Adoptionspraxis heraus wurde nämlich gefolgert, dass diese idealistischen Eltern recht lange zögerten, bevor sie für ihre Familienprobleme professionelle Hilfe in Anspruch nahmen. Ein sehr wichtiger Punkt für die Adoptiveltern war daher die Anerkennung der Tatsache, dass die Erziehung eines Adoptivkindes mit mehr psychosozialen Problemen verbunden sein kann.

(3) Zu diesem neuen Problembewusstsein haben sicherlich auch einschlägige Berichte in den Medien sowie Bücher beigetragen – Bücher, die von Adoptiveltern verfasst wurden, die sehr problematische Erfahrungen mit ihrem Adoptivkind gemacht hatten. So waren ausländische Kinder bei der Platzierung in die Familie öfters etwas älter als einheimische Kinder. Vielfach lebten sie zunächst für einige Zeit in einem Kinderheim, wo sie aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen häufig vernachlässigt wurden. An mögliche Erziehungsprobleme als Folge dieser negativen Lebensumstände wurde vor drei Jahrzehnten jedoch noch kaum gedacht. Erst jetzt wurden diese Fragen in Büchern und Zeitungsartikeln aufgegriffen.

In dieser Zeit begannen Adoptiveltern, Erziehungsproblemen weniger verkrampft und viel realistischer gegenüber zu stehen als die idealistische Adoptiveltern-Generation. Verschiedene Untersuchungen zeigten, dass sie sich nicht scheuten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch in dieser Hinsicht herrscht jetzt eine größere Offenheit. Adoptiveltern trauten sich – manchmal wohl notgedrungen – zuzugeben, dass ihre Familienprobleme sehr kompliziert waren und sie dieser Aufgabe alleine nicht gewachsen waren.

Mögliche psychosoziale Probleme in Adoptivfamilien wurden nun antizipiert. Objektive Untersuchungsergebnisse wurden publiziert und viele sinnvolle Empfehlungen und Ratschläge, die Adoptiveltern nutzen können, in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht. Zunehmend wurde erkannt, dass Adoptiveltern viel besser auf die Adoption eines ausländischen Kindes vorbereitet werden müssen, eine bessere Vorbereitung auf ihr “Adoptionsabenteuer” benötigen. So entwickelte z.B. das 1989 in den Niederlanden gegründetes Amt für die Vorbereitung zwischenstaatlicher Adoption (Bureau Voorbereiding Interlandelijke Adoptie) einen Vorbereitungskurs für Adoptionsbewerber.

In dieser Zeit wurde zunehmend die Praxis kritisiert, dass Paare, die als Adoptionsbewerber nicht überprüft und registriert worden waren, im außereuropäischen Ausland Kinder adoptierten. Viele Paare suchten sich in Südamerika oder Asien selbst Kinder – ohne Einschaltung anerkannter Adoptionsvermittlungsstellen. Zum Teil adoptierten sie Kinder, deren Eltern noch lebten, aber ihre Kinder nicht (ausreichend) ernähren konnten. In solchen Fällen erhielten die leiblichen Eltern oft eine Entschädigung. Aber auch Provisionen und Bestechungsgelder flossen, so dass in den Medien diese Praxis als “Kinderhandel” thematisiert wurde. Ferner wurde vermehrt von der Diskriminierung älterer Adoptivkinder aus dem nicht europäischen Ausland an Schulen und in der Gesellschaft berichtet. Dies hatte zur Folge, dass z.B. Terre des Hommes die Vermittlung von Adoptivkindern einstellte und forderte, hilfsbedürftigen Kindern (und ihren Eltern) solle in deren Heimatland geholfen werden. Die bei einer Auslandsadoption benötigten Mittel könnten vielen Familien den Lebensunterhalt auf längere Zeit sichern. Der deutsche Gesetzgeber hat auf den Kinderhandel mit Änderungen des Strafgesetzbuches und des Adoptionsvermittlungsgesetzes reagiert. Aber auch die meisten asiatischen und südamerikanischen Länder haben Adoptionsgesetze erlassen – zumal sie wegen des “Kinderhandels” um ihren Ruf in Europa und Nordamerika besorgt waren.

(4) Die heutige Generation von Adoptionsbewerbern hat eine andere Haltung bezüglich der Erziehungsmöglichkeiten eines (ausländischen) Adoptivkindes. Sie konfrontieren Adoptionsvermittler sehr explizit mit ihren Vorstellungen bezüglich des Alters des Kindes und sie sind weniger bereit, Kinder mit medizinischen Risiken anzunehmen. Oft wird fordernd, fast zwingend, ein möglichst kleines Kind – auf jeden Fall jünger als zwei Jahre – verlangt. Kinder mit drei Jahren oder älter sind immer schwieriger vermittelbar und manchmal schon gar nicht mehr. In dieser Hinsicht hat sich die Situation völlig verändert. In den siebziger und achtziger Jahren wurden erst Kinder mit sechs Jahren und älter als “alt” bezeichnet. Heute liegt die Altersgrenze viel niedriger. Früher war es für die Adoptionsvermittlungsstellen fast immer möglich, Adoptiveltern für ein Kind zu finden. Heute ist das nicht mehr so.

Allerdings sind Adoptionsbewerber in höchstem Ma?e abhängig vom Urteil und Wohlwollen der Vermittlungsstellen. Während der Vermittlung haben die Vermittlungsstellen im “gebenden” Land (Deutschland oder Ausland) bzw. im “empfangenden” Land (Deutschland und sonstige westeuropäische Länder) sehr viel Macht über die Bewerber. Während in den Jahren direkt nach Auflösung des Ostblocks nochmals viele Kinder ohne Einschaltung von Adoptionsvermittlungsstellen adoptiert wurden und es auch wieder zu “Kinderhandel” kam, wurde in den letzten Jahren der Vermittlungsprozess in den osteuropäischen Ländern – wie zuvor in den asiatischen und südamerikanischen – gesetzlich geregelt und formalisiert (einen allgemeinen Überblick über Adoptionsvermittlung in Deutschland finden Sie hier).

Die heutigen Adoptiveltern sind hinsichtlich der Erziehungsmöglichkeiten bei einem sehr jungen Adoptivkind jedoch auch optimistischer. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass weniger das Adoptionsalter, sondern vielmehr die Erfahrungen, die das Kind in seinem Herkunftsland gemacht hat, ausschlaggebend dafür sind, ob das Kind später Verhaltensprobleme zeigen wird. Für alle Adoptiveltern ist es daher notwendig, möglichst viel über den Hintergrund des Adoptivkindes zu erfahren.

Einige Erwägungen hinsichtlich der unterschiedlichen Motivationen

Am Adoptionsprozess sind drei Gruppen von Menschen beteiligt: die biologischen Eltern, die Adoptivkinder und die Adoptiveltern. Für die traditionellen und verschlossenen Adoptiveltern ist es ganz wichtig zu realisieren, dass fast immer ihr Kind später und ganz bestimmt als Adoleszent mehr über seinen Hintergrund wissen will. In den Niederlanden haben wir z.B. Adoptivkinder, die in Griechenland geboren worden waren und zum Zeitpunkt der Untersuchung 25 Jahre alt und älter waren, danach gefragt, ob sie sich “griechisch” oder “holländisch” fühlen und ob sie einmal gerne mit ihren biologischen Eltern sprechen möchten. Die Mehrheit fühlte sich “in-between” Holland und Griechenland – teils Holländer, teils Griechen -, und zwei Drittel hatten schon entweder nach ihren griechischen Eltern gesucht oder waren diesen schon begegnet.

Das Wissen um die eigene Herkunft gehört einfach zu der Identität eines Kindes bzw. erwachsenen Adoptierten. In den Niederlanden gibt es schon seit fast 15 Jahren Vereine von fremdländischen “Adoptivkindern” , z.B. anno 2002 Vereine für Adoptierte aus Korea, Indonesien, Brasilien, Kolumbien, Äthiopien, Indien, Sri Lanka, Holland, Peru, Bangladesh, Griechenland und Österreich. Diese Vereine sind wichtig für gegenseitige Kontakte und helfen bei Reisen in das Herkunftsland.

Aus Untersuchungen und aus der Praxis wissen wir, dass Offenheit der Adoptiveltern über die Herkunft des Kindes zu größerem gegenseitigen Verständnis in der Familie führt. Wir wissen jetzt auch, dass Idealismus allein nicht ausreicht, um alle Erziehungsmöglichkeiten seitens der Eltern zu nutzen – und insbesondere dann nicht, wenn das Kind in der Eingewöhnungszeit und/ oder später psychosoziale Probleme zeigt. Dann brauchen Eltern neben Liebe, Zeit und Energie insbesondere – so würden wir fast sagen – Erziehungsprofessionalität, nämlich Wissen, wie man mit vernachlässigten oder sonstwie beeinträchtigten Kindern umgeht. Diese Eltern müssen die Realität wahrhaben – die Realität, dass die Erziehung ihres Kindes schwierig sein wird. Nur mit Idealismus kann man kein Kind erziehen.

Die realistischen Eltern und besonders die heutigen optimistischen und fordernden Adoptiveltern tun gut daran, ihre vielleicht zu optimistischen Erwartungen zu mäßigen. Das Kind hat seine eigene Identität, eigene Fähigkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Letzteres ist sicherlich durch die Folgen der Trennung und oft auch Vernachlässigung mitbedingt. Der Einfluss der Adoptiveltern ist groß, aber nicht übermächtig. Wenn man sich über das Adoptivkind Gedanken macht und es bewusst fördert, kann man viel erreichen. Erwartet man hingegen, dass sich das Kind sofort und auch später gut in der Familie einpasst, wird die Wahrscheinlichkeit von Enttäuschungen groß sein.

Die Eingewöhnungszeit und besondere Erziehungsfragen

Viele Forschungsergebnisse machten deutlich, dass eine große Anzahl von Adoptiveltern Unterstützung braucht. Adoptivkinder aus dem Ausland zeigen öfters schwierig zu lösen Verhaltensprobleme. Meistens wissen wir wenig über die Situation der Herkunftsfamilie und die Versorgung des Kindes in den ersten Lebensjahren. Deshalb ist es sehr wichtig, detaillierte Informationen über Dauer und Qualität der Heimaufenthalte, die Qualität der Bindungen an die Eltern oder Betreuer und über die frühkindliche Entwicklung einzuholen.

Wenn es sich um Adoptivkinder aus der Dritten Welt oder aus Osteuropa handelt, können wir davon ausgehen, dass viele dieser Kinder unterernährt und langfristig psychisch bzw. körperlich vernachlässigt wurden. Manche von ihnen sind zudem misshandelt und sexuell missbraucht worden. Nahezu alle Adoptivkinder erleben ernsthafte psychische Folgen aufgrund der Trennung von ihren leiblichen Eltern und vielleicht auch von sonstigen Betreuern, aufgrund ihrer Vernachlässigung, Unterernährung und vielleicht auch Misshandlung. Viele Adoptivkinder haben Schwierigkeiten, positive Bindungen mit Erwachsenen und Altersgenossen einzugehen. Psychische Probleme – wie die “posttraumatische Belastungsstörung” (PTBS), das “post-institutionelle autistische Syndrom” (PIAS), Aufmerksamkeitsdefizitstörung (Konzentrationsprobleme) und Hyperaktivität (ADHS) – werden häufig diagnostiziert. Häufig werden Symptome mehrerer Störungen festgestellt (Komorbidität).

Je schlechter der Gesundheitszustand des Kindes bei seiner Ankunft in der Familie ist, umso mehr Erziehungsprobleme sind sofort und später zu erwarten. In der Eingewöhnungszeit treten Probleme hinsichtlich der Anpassung an die neuen Lebensumstände in der Adoptivfamilie auf. Die Kinder sind oft auch sehr ängstlich – gerade bei Kleinkindern ruft alles Neue viel Angst hervor. So sollten sie z.B. während der ersten Monate nicht allein in einem dunklen Zimmer schlafen. Schlafstörungen und Probleme mit dem Essen sind häufig. Plötzliche Störungen mit der Ausscheidung, Enkopresis und Enuresis, treten öfters auf. Die wichtigsten Anpassungsprobleme haben jedoch mit den menschlichen Beziehungen zu tun. Typische Reaktionen eines bei der Ankunft etwas älteren Kindes sind anklammerndes oder sehr schüchternes Verhalten, Distanzlosigkeit (was viele Jahre dauern kann), Angst vor Körperkontakt, Zurückweisung von einem (meistenfalls der Mutter) oder beiden Elternteilen, Zerstörungswut, unverständliche Aggressivität und Rückfall in eine frühere Lebensphase – die so genannte Regression. Insbesondere wenn das Kind bei seiner Ankunft in der Attachments-Phase ist (sechs Monate und älter), kann es unerwartet lange dauern, ehe es sich den neuen Eltern anpasst.

Besonders entscheidend für die psychische Entwicklung sind offenbar die Dauer und Qualität von Heimaufenthalten. Je länger und diskontinuierlicher – häufiger Wechsel der Betreuer – diese Zeit im Herkunftsland war, desto ungünstiger verläuft die Entwicklung des Selbstvertrauens und des Selbstwertempfindens der Adoptierten. Oft zeigen diese Kinder, was wir das “Hotelbenehmen” nennen: Die erste Zeit benehmen sich die Adoptivkinder ganz nett und lieb. Sie sind gehorsam, tun alles, was die Eltern sagen, sind auch ein bisschen schüchtern usw. Sie benehmen sich wie in einem Hotel. Jedoch erst wenn das Kind anfängt, sich normaler, also auch negativer und Grenzen suchend zu benehmen, beginnt es, sich endlich daheim zu füllen.

Wenn das adoptierte Kind in die Adoleszenz kommt, haben viele Adoptiveltern (genauso wie leibliche Eltern) mit großen Erziehungsproblemen zu kämpfen. Oft müssen antisoziales Verhalten wie Aggressivität, Stehlen, Lügen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, sogar Brandstiftung, kaum gefühlsmäßige Bindungen, wenig soziales Interesse und emotionale Probleme wie Depressivität bekämpft werden. Empirische Untersuchungen geben Grund zu der Annahme, dass eine erhebliche Anzahl der fremdländischen Adoptivkinder solche Symptome zeigt.

Wenn ein Kind einem unerwarteten traumatischen Ereignis (Unfall, Gewalt, Naturkatastrophe) ausgesetzt wird oder dauernde Vernachlässigung bzw. wiederholt extreme negative Ereignisse wie Misshandlungen und Trennungen erlebt hat, kann es schwere Verhaltensstörungen wie PTBS, PIAS und Bindungsstörungen oder sogar Störungen in der Persönlichkeit entwickeln. In unserer langjährigen Behandlungspraxis mit Adoptivkindern sehen wir, dass die traumatischen Erfahrungen von Adoptivkindern ihre weitere Entwicklung weitgehend beeinflussen. Wesentlich ist hierbei, dass bei allen Adoptivkindern eine, meistens aber mehrere Trennungen stattgefunden haben. In der psychiatrischen und entwicklungspsychologischen Literatur wird betont, dass eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind für die weitere emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes sehr wichtig ist. Die Trennung von der Mutter oder von anderen wichtigen Bezugspersonen kann für das Kind pathogene Folgen haben.

Wenn die Adoptivfamilie nicht imstande ist, die andersartige Identität des Kindes zweckmäßig in die Erziehung zu integrieren, wird die Reihe von aufeinander folgenden Traumatisierungen – die faktische Trennung von den Eltern und von anderen Bezugspersonen, das spätere Bewusstwerden dieser Trennungen und des Adoptionsstatus – nicht abreißen. Dies gelingt nur, wenn die Adoptiveltern bei ihrem Adoptivkind Gefühle der Loyalität gegenüber den leiblichen Eltern und anderen Angehörigen akzeptieren und respektieren.

Die belastenden Erfahrungen können im Phantasieleben des Kindes wiederholt auftreten. Bei manchen Adoptierten beobachten wir während der Adoleszenz sogar Schuldgefühle, wenn sie glauben, dass sie selbst Schuld daran tragen, dass die Mutter sie zur Adoption freigegeben hat oder dass sie misshandelt wurden. In manchen Untersuchungen bei klinischen Populationen ist der Zusammenhang zwischen gewissen Verhaltensauffälligkeiten im Erwachsenenalter und (wiederholtem) Abbruch von emotionalen Bindungen in der Jugend immer wieder festgestellt worden.

Von wesentlicher Bedeutung sind die Art und Weise, wie sich die Bindungen und die Verhältnisse nach der Geburt entwickelt haben, wie sie dann abgebrochen wurden und was daraufhin mit dem Kind geschah. Sehr wichtig ist der Befund, dass die Qualität der Erziehung und der Betreuung in der Adoptivfamilie für den Abbruch der Folge traumatisierender Ereignisse wesentlich ist. Für Adoptiveltern ist diese Erkenntnis selbstverständlich von großer Bedeutung.

Mehrere Untersuchungen machten deutlich, dass Adoptivkinder, die bei ihrer Platzierung zwei Jahre und älter sind, sich viel häufiger in die Problemgruppe befanden als die jüngeren Kinder. Deren Adoptiveltern sollten wenigstens über folgende drei Charakteristika verfügen:

  • Geduld, Flexibilität und Distanz. Bei einer Gruppe von rumänischen Adoptivkindern, die schon mindestens fünf Jahre bei ihren Adoptiveltern waren, haben wir festgestellt, dass die Probleme erst dann stark zurückgingen. Im Hinblick auf Aufmerksamkeitsprobleme, aggressives Verhalten, Probleme mit dem Sozialverhalten und Gesamtzahl von Problemen wies diese Gruppe signifikant weniger Verhaltensprobleme auf als die Gruppe von rumänischen Adoptivkindern, die weniger als fünf Jahre in der Familie war.
  • Eine gewisse Zurückhaltung beim Zeigen von Gefühlen ist auch sehr wichtig. Adoptivkinder sind oft nicht daran gewöhnt, dass sie plötzlich so viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen. Deshalb treten manchmal Reaktionen wie Ängstlichkeit, weitgehende Zurückhaltung und aggressive Abwehr auf.
  • Adoptiveltern sollten auch bereit sein, ihre Ansichten und Erwartungen über die Erziehung von Kindern zu ändern, sie dürfen nicht rigide sein. Insbesondere wenn sie mit einem eigenen Kind schon Erziehungserfahrung haben, haben diese Eltern oft bestimmte, sehr explizite Erwartungen.

Eine langfristige und ernsthafte Vernachlässigung kann, wie schon gesagt, auch zum post-institutionellen autistischen Syndrom (PIAS) führen. In unserer Untersuchung von 80 rumänischen Adoptivkindern waren insgesamt 13 dem autistischen Bereich zuzuordnen. Weil generell sehr wenige, d.h. nur vier bis sechs von 10.000 (deutschen) Kindern die Basisformen der autistischen Störung zeigen würden, ist es offensichtlich, dass bei den rumänischen Kindern die Ursache nicht genetisch bedingt ist. Daher sprechen wir vom post-institutionellen autistischen Syndrom.

Für die Diagnose von Autismus ist ausschlaggebend:

  • die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, z.B. Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit;
  • die qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation, z.B. verzögertes Einsetzen oder völliges Ausbleiben der Entwicklung von gesprochener Sprache, also ernsthafte sprachliche Störungen;
  • beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten, z.B. ständige Beschäftigung mit Teilen von Objekten und Widerstand gegen Änderungen.

Wir meinen mit PIAS die Gesamtheit dieser Symptome autistischen Verhaltens. Jede Kategorie ist mindestens während dreier Monate beobachtbar.

Wir können eine Verbindung zwischen ernsthafter Vernachlässigung und autistischem Verhalten vermuten. Es gibt bei den Kindern jedoch keine neurologische Basis für das autistische Benehmen. Faktoren und Umstände wie die Erfahrungen im Kinderheim oder mit Eltern bzw. Betreuern, die das Kind extrem vernachlässigen, sind überwiegend die Ursachen der autistischen Symptome. Für die Prognose ist daher ausschlaggebend, ob es nach der Adoption positive Veränderungen geben wird. Wenn sich die Lebensumstände verbessern und das Kind besser betreut wird, können wir eine positive Veränderung im Verhalten erwarten und manche autistische Symptome werden verschwinden. In einer Adoptivfamilie ist dies selbstverständlich meistens zu erwarten.

Fast alle Adoptivkinder benötigen ein besonderes Einfühlvermögen seitens der Adoptiveltern. Auch sollten die Eltern besonders vorsichtig sein, damit sie keine falschen Erwartungen äußern. Wenn sie sofort viel positive Gegenseitigkeit und Freude an ihrem Kind erwarten und damit persönliche Glückserwartungen verbinden, kann die Enttäuschung groß sein. Dies gilt umso mehr, wenn die Eltern erwarten, dass das problematische, vielleicht sogar autistische Verhalten des Kindes zeitlich sehr begrenzt auftreten und nach einigen Wochen oder Monaten verschwinden wird.

Für das Beratungs- und Betreuungsangebot bedeutet das Vorhergehende, dass sich einzelne Berater und Therapeuten stärker hinsichtlich der besonderen Probleme von Adoptivfamilien bzw. Adoptierten spezialisieren sollten. Die Vermittlungsstellen und -organisationen müssten eng mit diesen Spezialisten zusammenarbeiten. Dann ist es möglich, dass die Adoptiveltern eher erkennen, dass ihr höchstwahrscheinlich traumatisierten Kind eine Vielzahl an ernsthaften Störungen zeigt und dass die Erziehung mit besonderen Problemen verbunden sein wird. Auch kann frühzeitig abgeklärt werden, ob es sich um eine Bindungsstörung, autistische Symptome, ADHD oder etwas anderes handelt.

Im Hinblick auf die schulischen Leistungen kann erwartet werden, dass relativ viele fremdländische Adoptivkinder Sonderschulen besuchen werden. Auch in dieser Hinsicht müssen also viele Adoptiveltern ihre Erwartungen reduzieren. Allerdings zeigen diese Kinder auch oft ein “Survivor” -Verhalten. In der Schule kann dies bedeuten, dass sich das Adoptivkind während der ersten Jahre fast übermäßig anstrengt. Das Kind will überleben und auch in der Schule Erfolg haben. Auch hier ist wieder Einfühlungsvermögen seitens der Adoptiveltern unentbehrlich.

Literatur

  • Brodzinsky, D.M./ Schechter, M.D. & Henig, R.M. (1992). Being Adopted, the Lifelong Search for Self. New York/ London: Doubleday.
  • Federici, R.S. (1998). Help for the Hopeless Child. A Guide for Families. With Special Discussion for Assessing and Treating the Post-Institutionalized Child. Alexandria, Virginia: Federici and Associates.
  • Hoksbergen, R.A.C./ Textor, M.R. (Hrsg.) (1993). Adoption – Grundlagen, Vermittlung, Nachbetreuung, Beratung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag.
  • Hoksbergen, R.A.C. (1999). Trauma, ein relevantes Konzept bei der Untersuchung von Adoptivkindern. Kindeswohl, 4, 23-25 und Kindeswohl, 5, 8-10.
  • Hoksbergen, R.A.C. (2002). Fünfzig Jahre Adoption in den Niederlanden. Eine historisch-statistische Betrachtung. Utrecht: Universität Utrecht, Abt. Adoption.
  • Hoksbergen, R.A.C. und die Mitarbeiter des Rumänien-Projektes (2002). Die Folgen von Vernachlässigung. Erfahrungen mit Adoptivkindern aus Rumänien. Idstein: Schulz Kirchner Verlag.
  • Paulitz, H. (Hrsg.) (2000). Adoption – Positionen, Impulse, Perspektiven. München: Beck Verlag.
  • Selman, P. (Ed.) (2000). Intercountry Adoption. Developments, Trends and Perspectives. London: British Agencies for Adoption and Fostering.
  • Verrier, N.N. (1993). The Primal Wound – Understanding the Adopted Child. Baltimore: Gateway Press.

Autor

Prof. Dr. René A.C. Hoksbergen ist Psychologe und Spezialist für Adoption an der Universität Utrecht. Er hat eine eigene Praxis für Adoptivkinder und Adoptiveltern, hält auch in Deutschland und Österreich Vorträge über Adoption und hat viele Bücher und Artikel in Holländisch, Englisch, Deutsch und Französisch veröffentlicht.

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Prof. Dr. R.A.C. Hoksbergen

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Erstellt am 14. Januar 2003, zuletzt geändert am 10. März 2010

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