Entwicklung von Einzelkindern

Prof. Dr. Dr. Hartmut Kasten
 Bild-kasten-web1

 

Familien mit Einzelkindern sind heutzutage keine Sonderform mehr sondern werden immer mehr zur Regel. Wie entwickeln sich nun Einzelkinder gegenüber Kindern mit Geschwistern? Gibt es überhaupt Unterschiede? Der Autor geht bei der Suche nach Antworten auf statistische Werte und Untersuchungsergebnisse ein und zeigt Gründe für die sinkende Geburtenquote auf.

1. Einleitung

In Deutschland ist die Geburtenquote in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken; seit ungefähr einem halben Jahrzehnt hat sie sich bei knapp 1,35 Kindern (pro Frau im gebärfähigen Alter) eingependelt. Nur in ungefähr 35% der deutschen Haushalte wachsen noch Kinder auf! In über der Hälfte dieser Haushalte lebt nur ein Kind, in 36% leben zwei Kinder, nur in gut 10% drei und mehr Kinder. Betrachtet man die Bevölkerungsstatistik des 20. Jahrhunderts im Überblick, so wird der Trend zur kleinen Familie noch deutlicher: Ende des 19. Jahrhunderts lebten in der deutschen Durchschnittsfamilie fünf Kinder, zu Beginn des zweiten Weltkriegs waren es nur noch drei Kinder, zwei Jahrzehnte später nur noch zwei und im Jahre 1990 schließlich nur noch 1,4 Kinder im Durchschnitt.

Familien mit nur einem Kind sind damit innerhalb weniger Jahrzehnte vom Sonderfall zur Regel geworden. Dieser Tatsache wird in breiten Kreisen der Öffentlichkeit und über weite Strecken auch in der Sozialwissenschaft noch zu wenig Rechnung getragen. Denn es besteht zwar Einigkeit darüber, dass sich die Tatsache, in welcher Position in der Geschwisterreihe ein Kind aufwächst, auf sein späteres Leben, auf seine Persönlichkeit als Erwachsener, auswirkt (z.B. Zajonc und Markus 1975). Es besteht auch Einigkeit darüber, dass das Vorhandensein von Geschwistern sowohl positive Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale, wie Teilen und Kooperativität, als auch negative Dispositionen, wie Aggressivität oder Konkurrieren, hervorbringen kann.

Bei Einzelkindern jedoch wird in der Regel aber noch heute unterstellt, dass sich das Fehlen von Geschwistern nur negativ auswirkt. (In der sozialwissenschaftlichen Forschung und in der statistischen Datenverarbeitung gelten als Einzelkinder alle Kinder, die mindestens sechs Jahre ohne Geschwister aufgewachsen sind.) Einzelkinder werden zumeist als egoistisch, schlecht angepasst, neurotizistisch, altklug, verwöhnt, erwachsenenorientiert und einsam angesehen. Wenig Popularität und entsprechend geringe wissenschaftliche Aufmerksamkeit genießen bis heute die positiven Aspekte des Keine-Geschwister-Habens. Als Hauptgrund für diesen Tatbestand kann die in unserem Kulturraum vorherrschende pronatalistische Ideologie ins Feld geführt werden: Wir alle – Durchschnittsbürger wie Sozialwissenschaftler – verinnerlichen die Norm, dass jeder gesunde Erwachsene Kinder haben sollte (vgl. Falbo 1982).

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den gegenwärtigen Forschungsstand bezogen auf Einzelkinder im Umriss darzustellen und nachzuprüfen, inwieweit die verbreiteten, populären Ansichten über Einzelkinder und die behaupteten negativen Effekte des Nichtvorhandenseins von Geschwistern einer wissenschaftlichen Analyse standhalten. Unsere Übersicht wird sich dabei auf die Bereiche der Einzelkindforschung konzentrieren, in denen fundierte Forschungsbefunde vorgelegt wurden.

2. Die Familien von Einzelkindern

Einzelkinder wachsen mehrheitlich in ganz normalen Familien auf, wie aus Tabelle 1 zu ersehen ist:

Tabelle 1: Familienstand der Eltern von Einzelkindern und Geschwisterkindern

Familientyp

verheiratet

geschieden

verwitwet

ledig

Ein-Kind-Familie

79,4%

11,1%

1,6%

7,9%

Zwei-Kind-Familie

87,9%

7,6%

2,6%

1,9%

Drei-und-mehr-Kinder-Familie

88,3%

7,3%

3,7%

0,7%

Quelle: Kasten (1995)

Die in Tabelle 1 präsentierten Daten verdeutlichen aber auch, dass Einzelkinder etwas seltener als Geschwisterkinder in “regulären Familienverhältnissen” , d.h. zusammen mit beiden leiblichen Eltern in einem Haushalt, aufwachsen. Vier Fünftel aller Einzelkinder unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von Geschwisterkindern, von denen ungefähr 8% mehr in sogenannten Kernfamilien leben.

Einzelkinder sind etwas häufiger als Geschwisterkinder in Ein-Eltern-Familien anzutreffen, d.h. mit nur einem (ledigen, getrennt lebenden, geschiedenen oder verwitweten) Elternteil, meist der Mutter, zusammen in einem Haushalt. Darüber hinaus leben Einzelkinder etwas häufiger als Geschwisterkinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, d.h. zusammen mit Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind. Sie leben auch häufiger als Geschwisterkinder in vom leiblichen Vater bzw. von der leiblichen Mutter eingegangenen weiteren Partnerschaften, also als unterhaltsberechtigte Kinder in Stiefvater- bzw. Stiefmutterfamilien (Zweit- oder Drittehen der Partner). Häufiger als Geschwisterkinder wachsen sie auch in Adoptiv- oder Pflegefamilien bzw. nicht bei den Eltern, sondern bei Verwandten, in Heimen, Internaten o.ä. auf. Fazit: Einzelkinder leben etwas häufiger als Geschwisterkinder in Familien und familienähnlichen Verhältnisse, die vom “Normalfall” der Kernfamilie abweichen.

Die statistischen Daten untermauern auch, dass Einzelkinder nicht über einen Kamm geschert werden dürfen: Die relativ größte Gruppe von geschwisterlosen Kindern lebt nach wie vor in Kernfamilien. Was die Einzelkinder-Untergruppen betrifft, die in vom Regelfall abweichenden familialen Verhältnissen leben, so ist zum einen festzuhalten, dass auch Geschwisterkinder tendenziell immer häufiger in einer nicht der Kernfamilie entsprechenden Familiensituation groß werden. Der prozentuale Anteil ist bei den geschwisterlosen Kindern jedoch höher, was sicherlich damit zusammenhängen dürfte, dass Paare mit nur einem Kind sich leichter wieder trennen und Mütter (oder Väter) mit nur einem Kind eher ledig bzw. in der Situation des Alleinerziehenden bleiben. Nicht von der Hand zu weisen ist auch, dass Kinder ohne Geschwister leichter in Adoptiv- oder Pflegefamilien vermittelt werden können und sich für sie auch leichter (nicht zuletzt aus finanziellen Gründen) eine institutionelle Unterbringung, z.B. in Heimen oder Internaten, arrangieren lässt.

Genauere statistisch verallgemeinerbare Daten über die konkreten, sozialen und psychischen Lebensverhältnisse von Ein-Kind-Familien und Einzelkindern existieren so gut wie gar nicht, sieht man von einigen strukturell-demographischen Befunden, wie Alter, Familienstand, Einkommen, Bildungsniveau der Eltern, Alter und Geschlecht des Kindes, ab. Kaum zur Verfügung stehen nähere Informationen über die Einzelkinder, z.B. ihre Schullaufbahn, Bezugspersonen, Betreuungsumwelt, Freunde, Wohnung und Wohnumgebung.

Nur wenige sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben sich mit den spezifischen Lebensverhältnissen von Einzelkindern befasst und die veröffentlichten Daten sind durchaus widersprüchlich. Sie werden in der folgenden tabellarischen Übersicht einander gegenübergestellt:

Tabelle 2: Gegenüberstellung widersprüchlicher Daten über die Familienverhältnisse und Lebenssituationen von Einzelkindern

Einzelkinder leben häufiger in finanziell gutsituierten Obere-Mittelschicht- bzw. Oberschichtfamilien.

Einzelkinder kommen häufiger aus zerrütteten familialen Verhältnissen, aus “broken homes” , haben Eltern, die getrennt voneinander leben oder mit individuellen oder Partnerschafts-Problemen belastet sind.

Einzelkinder haben häufiger als Geschwisterkinder Eltern mit überdurchschnittlicher Schulbildung und beruflicher Qualifikation

Einzelkinder wachsen häufiger mit Eltern (bzw. einem Elternteil) auf, die keine abgeschlossene Schulausbildung und/oder eine unterdurchschnittliche berufliche Qualifikation besitzen.

Einzelkinder werden häufiger als Geschwisterkinder partnerschaftlich und nicht autoritär und nicht direktiv erzogen.

Einzelkinder leiden häufig unter einer kontrollierenden, überbehütenden, übermäßig verwöhnenden Erziehung von Seiten der Eltern.

Einzelkinder haben genauso regelmäßig wie Geschwisterkinder Kontakt zu anderen Kindern in ihrem sozialen Umfeld.

Im Unterschied zu Geschwisterkindern verfügen Einzelkinder seltener über regelmäßige soziale Kontakte zu anderen Kindern (einem anderen Kind).

Einzelkinder haben häufig eine physisch belastbarere Mutter.

Einzelkinder haben häufiger als Geschwisterkinder eine physisch weniger belastbare Mutter.

Einzelkinder leben häufiger in einer Familie, in der die Mutter nicht bzw. nur teilzeit berufstätig ist.

Einzelkinder leben häufiger als Geschwisterkinder mit Eltern, die beide berufstätig sind.

In Ein-Kind-Familien befassen sich die Eltern häufiger und intensiver mit ihren Kindern.

In Mehr-Kind-Familien befassen sich die Eltern häufiger und intensiver mit ihren Kindern.

Einzelkinder sind sozialer eingestellt als Geschwisterkinder und interessierter daran, individuelle und gruppenbezogene soziale Kontakte aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Einzelkinder verbringen mehr Zeit allein und mit musischen Aktivitäten, Geschwisterkinder verbringen mehr Zeit mit sozialen und gruppenbezogenen, praktischen Beschäftigungen.

Einzelkinder verfügen häufiger als Nicht-Einzelkinder über eine positive, qualitativ hochwertige Elternbeziehung.

Einzelkinder leben häufiger in belasteten Beziehungen zu ihren Eltern.

Einzelkinder wachsen genauso häufig wie Kinder mit Geschwistern in Ein-Eltern-Familien auf.

Einzelkinder wachsen häufiger als Geschwisterkinder in Ein-Eltern-Familien auf.

Quelle: Kasten (1995)

Wenn über Einzelkinder geredet wird, müssen also, das machen die skizzierten widersprüchlichen Daten deutlich, bereits bei der äußeren Betrachtung ihrer Familiensituation einige Differenzierungen bzw. eine Einteilung in Gruppen und Untergruppen vorgenommen werden.

3. Die Eltern von Kindern ohne Geschwister

Was über die Eltern von geschwisterlosen Kindern geschrieben worden ist, entbehrt über weite Strecken einer seriösen erfahrungswissenschaftlichen Grundlage und spiegelt nicht selten ähnliche Vorurteile wider, wie sie bezogen auf die Persönlichkeit von Einzelkindern nach wie vor angetroffen werden können: Einzelkind-Eltern, insbesondere Mütter, sind egoistisch und karriereorientiert (weil sie sich, um ihre berufliche Laufbahn nicht zu gefährden, für nur ein Kind entscheiden). Sie neigen dazu, ihre unerfüllten Wünsche und Erwartungen in dieses eine Kind zu projizieren (das dadurch über Gebühr belastet und nicht selten neurotisiert wird). Einzelkind-Eltern praktizieren aber auch oft eine übermäßige Behütung, Versorgung und Verwöhnung und lassen dem Kind so keinen Freiraum zur eigenen Entwicklung. Sie erdrücken ihr Einzelkind mit Zuwendungen, Anregungen und steter Aufmerksamkeit. Schließlich finden sich auch Autoren/innen, die davon ausgehen, dass Einzelkind-Eltern ihren Sohn/ihre Tochter häufig vernachlässigen. Bei solchen Eltern nimmt das Kind lediglich eine randständige Position einnimmt, läuft nur so mit und kommt vor allem gefühlsmäßig zu kurz, weil für diese Eltern andere Dinge, z.B. der Beruf, eigene Freizeitinteressen, die Partnerschaft, wichtiger sind.

Auf der Grundlage einer Reanalyse des repräsentativen Familiensurveys, der vom Deutschen Jugendinstitut (Bertram 1991) durchgeführt wurde, konnten folgende Ergebnisse zutage gefördert werden, die zu einer Versachlichung der teilweise polemischen Einschätzungen und zu einer Klärung der widersprüchlichen Befundlage beitragen.

  1. Einzelkind-Eltern unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Erziehungsziele tendenziell von Eltern mit mehreren Kindern. Sie schätzen die drei Erziehungsziele “Pflichtbewusstsein” , “Selbständigkeit” , “Umgangsformen/Manieren” häufiger als unwichtig ein, die Erziehungsziele “Schulleistung” , “Verantwortungsbewusstsein” und “Selbstvertrauen” dagegen häufiger als wichtig.
  2. Einzelkind-Eltern treten deutlicher für die Berufstätigkeit beider Elternteile ein als Eltern von mehreren Kindern.
  3. Einzelkind-Eltern haben eine etwas materialistischere und karriereorientiertere Einstellung zum Beruf als Eltern von mehreren Kindern: Dies gilt besonders für die Untergruppe der jüngeren Eltern, die sich – nicht nur im Hinblick auf den Familienzyklus – noch in der Aufbauphase befinden. Auch Alleinerziehende müssen aufgrund ihrer zumeist angespannten ökonomischen Verhältnisse ihren Beruf nicht selten zwangsläufig in erster Linie unter finanziellen Gesichtspunkten betrachten. Auch bei der Gruppe der (zumeist schon deutlich über 30 Jahre alten) Eltern, die sich bewusst für nur ein Kind entschieden haben, weil sie ihre Partnerschaft und berufliche Laufbahn (und möglicherweise auch die vielzitierte Lebensqualität) hoch bewerten und nicht auf längere Zeit beeinträchtigt sehen wollen, könnte es sich um eine Untergruppe mit einer stärker materialistischen Grundorientierung handeln.
  4. Einzelkind-Eltern sind in akademischen, selbständigen und qualifizierten handwerklichen oder technischen Berufen überrepräsentiert und finden sich seltener in landwirtschaftlichen Berufen.
  5. Für Einzelkind-Eltern haben Wertorientierungen, die sich auf Ehe, Familie und Kinder beziehen, einen etwas weniger zentralen Stellenwert als für Eltern mit mehreren Kindern.
  6. Einzelkind-Eltern wohnen häufiger in Großstädten, seltener in kleinen Gemeinden:Dass Einzelkind-Eltern häufiger in Großstädten anzutreffen sind, kann mehrere Gründe haben:
    - Es fehlen die familialen und sozialen Netze, welche das Aufziehen von mehr als einem Kind erleichtern.
    - Die konkrete Wohnsituation: Es überwiegen kleine, teure Mietwohnungen mit nur einem Kinderzimmer.
    - Häufiger anzutreffen sind Einstellungen und Werthaltungen, innerhalb derer Kindern ein nicht ganz so hoher Stellenwert beigemessen wird, Berufserfolg, Karriere und gehobener Lebensstandard dagegen höher eingeschätzt werden (als von Eltern mit mehreren Kindern).
  7. Einzelkind-Eltern nutzen öffentliche Einrichtungen auf unterschiedliche Weise: Was die Nutzung von in der Nähe der Wohnung liegenden öffentlichen Einrichtungen angeht, so fällt bei den Einzelkind-Eltern auf, dass sie auf der einen Seite anscheinend größere Flexibilität mitbringen, als Eltern mit mehreren Kindern: Sie sind bei der Nutzung von öffentlichen Einrichtungen für Kinder weniger angewiesen auf in der Nähe liegende verkehrsberuhigte Wege, Spielplätze, Kindergärten, Grund-, Haupt- und weiterführende Schulen. Sie nutzen auch häufiger als Mehr-Kind-Eltern nahegelegene Einrichtungen, wie Kinos, Kneipen und Theater, was deutlich macht, dass sie es arrangieren können – sei es durch Babysitting oder Betreuung ihres Kindes durch Freunde oder Nachbarn – abends auch einmal außerhalb der eigenen vier Wände Unterhaltung zu suchen. Auf der anderen Seite sind sie aber, vor allem, wenn ihr Kind das Schulalter erreicht hat, abhängiger als Eltern in Mehr-Kind-Familien von der Verfügbarkeit eines Kinderhorts,der eine gesicherte, regelmäßige Betreuung ihres Kindes während der Nachmittagsstunden gewährleistet.
  8. Einzelkind-Eltern nutzen staatliche Unterstützungen auf unterschiedliche Weise: Der Befund, dass Einzelkind-Eltern deutlich häufiger als Eltern in Mehr-Kind-Familien staatliche Unterstützungen, wie Arbeitlosen- oder Sozialhilfe, Ausbildungs- oder Umschulungsförderungsbeihilfe, Erziehungs- oder Mutterschaftsgeld in Anspruch nehmen, verweist auf die Tatsache des Vorhandenseins von Untergruppen:Ein-Eltern-Familien (allein erziehende Mütter und Väter) oder sozial schwächer gestellte Familien mit einem Kind sind auf solche staatlichen Unterstützungsmöglichkeiten vergleichsweise dringender angewiesen als besser situierte Ein-Kind-Familien.
  9. Einzelkind-Eltern nehmen in ihrer Partnerschaft häufiger etwas weniger konventionelle Aufgabenverteilungen und traditionelle Rollenverteilungen vor als Mehr-Kind-Eltern(auch die Männer kaufen ein, helfen im Haushalt, versorgen das Kind; gemeinsam wird über finanzielle Ausgaben entschieden; jeder ist für sich selbst zuständig, was die Anbahnung und Aufrechterhaltung von Kontakten außerhalb der Familie und Partnerschaft angeht).
  10. Einzelkind-Eltern haben Außenorientierungen und soziale Netzwerke, die sie von Mehr-Kind-Eltern unterscheiden.
    Beispielsweise besprechen Einzelkind-Eltern häufiger Dinge, die ihnen persönlich wichtig sind, nicht nur mit dem Partner, sondern auch mit anderen Bezugspersonen (Freunden, Verwandten, Bekannten). Außerdem nehmen Einzelkind-Eltern (aufgrund ihrer beruflichen Situation) häufiger als Geschwisterkind-Eltern ihre Hauptmahlzeiten nicht im Familienkreis, sondern außerhalb der Familie ein.Diese Ergebnisse werden verständlich, wenn man davon ausgeht, dass Einzelkind-Eltern nicht nur im familialen Bereich, sondern (mindestens ebenso stark) im beruflichen Umfeld Selbstverwirklichung und persönliche Befriedigung suchen. Aus diesem Grunde sind sie offener dafür, intensive Beziehungen auch zu Personen außerhalb der Familie (mit denen sie sich dann auch über persönliche Dinge austauschen) aufzubauen und zu gestalten. Zudem sind sie durch ihre beruflich bedingte Abwesenheit von zu Hause auch oft oder regelmäßig darauf angewiesen, ihre Mahlzeiten in Kantinen, Lokalen o.ä. mit Kollegen/innen einzunehmen.
  11. Die typischen Probleme von Einzelkind-Eltern unterscheiden sich von den typischen Problemen von Mehr-Kind-Eltern:
    - Einzelkind-Mütter berichten häufiger als Mehr-Kind-Mütter von
    Schwangerschaftsabbrüchen und Fehlgeburten;

    a. Einzelkind-Eltern erwähnen häufiger sexuelle Problemeund
    b. in Zusammenhang mit dem Kind aufgetretene Probleme.
    c. Einzelkind-Eltern fühlen sich häufiger als Mehr-Kind-Eltern durch Probleme belastet, die sie in den vergangenen 12 Monaten durch Ausbildungs- oder Berufswechsel, Examen, Prüfungen usw. erlebt haben.
  12. Die Bereitschaft zu Einschränkungen von Einzelkind-Eltern erstreckt sich auf andere Lebensbereiche als die von Mehr-Kind-Eltern, z.B. auf den Bereich Wohnen/Wohnung, nicht aber auf den Bereich Haushaltshilfe/Kinderbetreuungshilfe.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Einzelkinder ganz unterschiedliche Eltern besitzen können, die sich sowohl von Ein-Kind-Familie zu Ein-Kind-Familie als auch von Eltern in Zwei- oder Mehr-Kind-Familien unterscheiden.

4. Die Perspektive der Mütter und Väter von Einzelkindern

Einzelkinder werden von ihren Eltern nur höchst selten geplant. In der Regel sind es “die Umstände” , die dazu beitragen, dass man sich keine weiteren Kinder mehr anschafft. Erwähnt werden vor allem die folgenden Umstände und Begründungen:

  1. Eine angemessene Versorgung und Betreuung eines zweiten Kindes hätte nicht gewährleistet werden können;
  2. die Rückkehr in den Beruf bzw. die berufliche Karriere hätten Vorrang gehabt;
  3. man hätte sich vom Alter, der Gesundheit bzw. von den Kräften her der Herausforderung eines weiteren Kindes nicht mehr gewachsen gefühlt;
  4. die Qualität der Ehe/Partnerschaft hätte ein weiteres Kind nicht zugelassen;
  5. man hätte sich finanziell oder was die Wohnumstände betrifft unzumutbar einschränken müssen;
  6. der Partner/die Partnerin wäre gegen ein weiteres Kind gewesen;
  7. man habe sich nicht dem Druck der Verwandtschaft, Eltern/Schwiegereltern beugen wollen;
  8. man hätte sich mit der Einschränkung auf die Rolle als “Nur-Hausfrau” und Mutter nicht mehr arrangieren können (Mütter);
  9. man hätte sich zu sehr abhängig vom Partner und zunehmend isoliert gefühlt (Mütter).

Die meisten Untersuchungen untermauern jedoch auch, dass das Ideal der Zwei-Kind-Familie nach wie vor Gültigkeit besitzt. Die Mehrheit der befragten Frauen und Männer scheinen die Norm, dass eine normale, glückliche Familie aus Vater, Mutter und mindestens zwei Kindern bestehen muss, verinnerlicht zu haben. Zu einer Verwirklichung dieser Einstellung kommt es jedoch nur bei einer hohen Gesamtzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation. Um von hoher Gesamtzufriedenheit sprechen zu können, müssen eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Zum ersten Kind muss eine gute Beziehung aufgebaut worden sein, mit dem Partner (und sonstigen Bezugspersonen) muss man sich verständigt haben, mit der eigenen Lage (als “Nur-Hausfrau” bzw. berufstätige Mutter) sich angefreundet haben, die äußeren Bedingungen (Finanzen, Betreuung, Wohnung) müssen geebnet worden sein, gegebenenfalls muss sogar eine Umorientierung stattgefunden haben, was den Stellenwert von Kindern im eigenen Leben betrifft. Deutlich wird damit auch, dass es letztlich die persönliche Wahrnehmung der jeweils gegebenen sozialen und ökonomischen Verhältnisse ist und nicht die objektive Situation, welche den Kinderwunsch formt. Entscheidend ist also z. B. nicht das faktische Einkommen der Familie, sondern wie man die finanzielle Lage persönlich einschätzt.

5. Die besondere Situation von männlichen Einzelkindern

In einigen nordamerikanischen Untersuchungen (z.B. Katz & Boswell 1984) finden sich Hinweise darauf, dass männliche Einzelkinder vergleichsweise restriktiver aufwachsen als weibliche Einzelkinder. Dies wird in Zusammenhang damit gebracht, dass sich Väter durch die Geburt eines Stammhalters stärker veranlasst sehen, Einfluss auf dessen Erziehung zu nehmen als Väter, denen ein Mädchen geboren wird. Erstgeborene Söhne werden von ihren Vätern häufig im Sinne der Vorgaben der traditionellen patriarchalen männlichen Geschlechtsrolle erzogen; es wird darauf geachtet, dass die Söhne sich nicht mit Mädchenspielzeug und Mädchendingen beschäftigen. Im Vergleich dazu zeigen Väter von Einzelkind-Mädchen erheblich mehr Toleranz und sind durchaus bereit für ihre Töchter auch typisches Jungenspielzeug zu akzeptieren. Bezieht man die Mütter mit ein, so ergibt sich für Ein-Kind-Familien mit Jungen eine etwas konflikthafte Konstellation: Denn die Mütter nehmen eine liberalere und weniger an traditionellen Geschlechtsrollen ausgerichtete Haltung ein und es macht ihnen nichts aus, sie begrüßen es teilweise sogar, wenn ihre Söhne sich auch mit Mädchensachen befassen. Es finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die von den Jungen während der Vorschuljahre möglicherweise empfundene Konfliktsituation im Verlaufe der Grundschuljahre mehr und mehr verschwindet dadurch, dass sich die Jungen immer stärker am Vater und seinen Vorgaben und Wünschen orientieren.

Über die Hintergründe der Tatsache, dass sich die Geburt eines männlichen (Einzel-)Kindes auf Väter ganz anders auswirkt als die Geburt einer Einzel-(Tochter), kann nur spekuliert werden: Die Geburt eines Sohnes dürfte bei vielen Männern in der Regel dazu führen, dass sie sich in ihrer männlichen Identität bestärkt fühlen, ihre eigenen männlichen Persönlichkeitsanteile stärker betonen und – in vorbildhafter Weise für das Kind – auch ausleben wollen. Sie spüren die Verantwortung, die ihnen als Geschlechtsgenossen obliegt und bemühen sich, ihrem Nachwuchs in klarer und eindeutiger Weise zu zeigen, wie Jungen nun einmal zu sein haben. Dass sie sich selbst dabei orientieren an traditionellen männlichen Geschlechtsrollenmerkmalen, dürfte ihnen wohl nur selten zu Bewusstsein kommen. Sie greifen bei der Ausübung ihrer Vaterrolle zurück auf das Bewährte, auf Maßstäbe, Werte und Verhaltensweisen, die sie in ihrer eigenen Kindheit und Jugend erlernt und erworben haben. Ausschlaggebend ist, dass sie sich in ihrer eigenen Männlichkeit gefordert sehen und alles tun, um ihren Söhnen ein gutes Vorbild zu sein.

Ganz andere Prozesse spielen sich bei Vätern nach der Geburt einer Tochter ab (besonders dann, wenn sie sich mit ihrer Partnerin schon weitgehend darüber geeinigt haben, dass es kein weiteres Kind geben soll): Sie fühlen sich nicht genötigt als männliches Vorbild zu agieren, sondern können sich im Gegenteil und nach individueller Lust und Laune auch einmal “unmännliches” , weiches, behutsames und zärtliches Verhalten erlauben. Sie müssen keine männlichen Programme abspulen und keine musterhafte Rolle übernehmen, sondern können ganz entspannt und gelassen zuschauen, wie sich Mutter und Tochter auseinandersetzen und miteinander umgehen. Wenn sie wollen und ihnen daran liegt, können sie ihrer Tochter auch Dinge beibringen, die Mädchen nicht unbedingt zu wissen brauchen, weil sie eigentlich eher “Männerangelegenheiten” sind und z. B. technisches oder naturwissenschaftliches Verständnis voraussetzen.

6. Die Ursachen der sinkenden Geburtenquote

Zunehmende Industrialisierung, Technologisierung und Verstädterung brachten gleichsam “automatisch” eine Abnahme der Geburtenquote mit sich: Zunächst wurden durch den Ausbau von Industrien immer mehr Arbeitsplätze geschaffen, die zunehmend auch von Frauen besetzt wurden. Dadurch dass nun mehr produziert und ein immer breiteres Angebot an Verbrauchsgütern hergestellt werden konnte, kam es zu einem immer größeren Konsum und zu einer sukzessiven Erhöhung des Lebensstandards. Gleichzeitig veränderte sich das Verhältnis der Geschlechter zueinander allmählich. Frauen standen immer öfter als Berufskollegen “ihren Mann” . Männer sahen sich genötigt, Frauen zunehmend als gleichberechtigte Partnerinnen am Arbeitsplatz zu akzeptieren.

Auch im privaten, zwischenmenschlichen und familialen Bereich setzten sich diese Emanzipationsprozesse (aus Sicht der Frauen) fort. Besonders die berufstätigen Ehefrauen waren zunehmend weniger bereit, sich den Entscheidungen ihrer Männer – wie es in vergangenen Generationen üblich war – unterzuordnen. Sie forderten und erreichten immer mehr Mitbestimmung an allen wichtigen Entscheidungen des Lebens. Frauendiskriminierende Rechtsnormen in vielen wichtigen Bereichen, am Arbeitsplatz, in der Berufsaus- und Fortbildung, in familienbezogenen Angelegenheiten, Scheidung, Versorgung, Lastenausgleich, in der Renten- und Sozialversicherung usw., wurden verändert.

Auf der einen Seite ist es sicherlich das veränderte, gesetzlich festgeschriebene, partnerschaftlichere Verhältnis der Geschlechter zueinander. Auf der anderen Seite sind es natürlich auch die gewandelten Werte. Individuumsbezogene Werte wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, persönliches Ansehen, Leistung, Glück und Erfolg, haben traditionellen gemeinschaftsbezogenen Werten (Volk, Sippe, Gruppe, Familie) den Rang abgelaufen. Beide Ursachenbereiche tragen dazu bei, dass heutzutage immer weniger Kinder geboren werden. Auch deren Status selbst hat sich gewandelt. Sie sind aus Sicht der Eltern nicht mehr unbedingt notwendig, um den Lebensabend zu sichern, sondern sie selbst stellen oftmals eine ökonomische Belastung und – nicht selten auch – eine psychische Bürde dar. Die Eltern sind gefordert, ihnen eine angemessene Betreuung und Versorgung in der Kindheit und als Jugendliche und junge Erwachsene eine adäquate Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Eine Verantwortung, die möglicherweise besonders bedrückend gerade dann erlebt wird, wenn man sich eingebunden fühlt in Doppel- und Dreifachbelastungen (der Haushalt, der Beruf, die Partnerschaft – und die Kindererziehung).

Deutlich wird somit, dass eine ganze Reihe von Bedingungen, die die Gesellschaft, die Partner und ihre Beziehung betreffen, sich gewandelt haben und immer noch Veränderungen unterworfen sind. Diese Tatsache ist im Auge zu behalten, wenn man sich mit der Frage befasst, warum eigentlich immer weniger Kinder geboren werden.

Das Ausmaß der Beteiligung des Mannes an der Entscheidung für oder gegen ein Kind dürfte von Einzelfall zu Einzelfall, von Partnerschaft zu Partnerschaft variieren. In traditionellen Ehen wird sein Wort den Ausschlag geben, in emanzipierten Beziehungen letztlich die Frau “über ihren Bauch bestimmen” . Dass daneben vielen anderen Faktoren, der finanziellen Situation der Familie, ihrem sozialen Netz, der Flexibilität des Arbeitgebers, dem Vorhandensein kindgemäßer Betreuungsmöglichkeiten außerhalb der Familie usw., gelegentlich entscheidende Bedeutung zukommt, braucht nach den vorangehenden Ausführungen nicht besonders betont werden.

7. Einzelkinder im Kontrast zu Geschwisterkindern

1. Die ersten Lebensjahre

Aufgrund der Tatsache, dass Einzelkinder etwas häufiger als Geschwisterkinder in vom “Normalfall” der Kernfamilie abweic henden familialen Verhältnissen aufwachsen und auch häufiger einen strukturellen familialen Wechsel (Scheidung, Trennung, Wiederheirat usw.) miterleben, kann davon ausgegangen werden, dass sie im Durchschnitt weniger Kontinuität im Hinblick auf die innerhalb und außerhalb der Familie ablaufenden Betreuungsverhältnisse erfahren. Die im Rahmen der Reanalyse der Erhebung des Deutschen Jugendinstituts zutage geförderten Befunde untermauern diesen Sachverhalt:

  1. Einzelkinder werden signifikant mehr Stunden wöchentlich außerhalb der Familie betreut als Geschwisterkinder.
  2. Kinder ohne Geschwister besuchen signifikant häufiger auch eine Krippe, einen Kinderladen oder eine andere Betreuungseinrichtung (z.B. eine private Kindergruppe).
  3. Sie werden signifikant häufiger als Geschwisterkinder von den Großeltern, anderen Verwandten, anderen außerfamilialen Bezugspersonen (Nachbarn, Freunde, Bekannte) oder von einer Tagesmutter betreut.
  4. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass Kinder ohne Geschwister häufiger als Geschwisterkinder keinen Kindergarten besuchen und nur innerhalb der Familie von einer familialen Bezugsperson, meist der Mutter, betreut werden.

2. Untergruppen von Ein-Kind-Familien

 

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass es in jedem Fall angezeigt ist, Untergruppen von Ein-Kind-Familien zu unterscheiden. Eine relativ große Gruppe von Einzelkindern, die in durchaus “normalen” Familienverhältnissen (Kernfamilien) lebt, wird in den ersten Lebensjahren zuweilen ausschließlich innerhalb der Familie betreut und unter Umständen erst recht spät in einen Kindergarten geschickt. Für Einzelkinder, die in vom “Normal” fall abweichenden familialen Verhältnissen leben, ist dagegen eine – zuweilen sich (im Laufe der Zeit) verändernde – stärkere außerfamiliale Betreuung charakteristisch.

3. Einzelkinder im Schulalter

  1. Einzelkinder im Schulalter halten sich am Nachmittag wesentlich häufiger als Geschwisterkinder entweder im Schulhort oder in anderen Betreuungseinrichtungen oder bei den Großeltern, bei anderen Verwandten oder bei Freunden/Bekannten auf.
  2. Häufiger als Geschwisterkinder sind Einzelkinder am Nachmittag auch ganz ohne Beaufsichtigung/Betreuung. Besonders für Einzelkinder, deren beide Eltern berufstätig sind oder die nicht in Kernfamilien, sondern in vom “Normalfall” abweichenden familialen Verhältnissen leben, wechselt die nachmittägliche Betreuungsform deutlich häufiger als bei Geschwisterkindern.
  3. Kinder ohne Geschwister werden auch häufiger als Geschwisterkinder im Schulalter konfrontiert mit der Trennung, Scheidung und Wiederheirat ihrer Eltern.

Auch diese Ergebnisse untermauern, dass zumindest eine große Gruppe von Einzelkindern während der Schuljahre durchschnittlich weniger Kontinuität und Beständigkeit im Hinblick auf die familiale Situation und die außerhalb der Familie sich abspielende Betreuung erleben. Aufgeworfen werden kann in diesem Zusammenhang die Frage, ob die stärkeren Veränderungen, mit denen es Einzelkinder häufiger als Geschwisterkinder zu tun haben, eher als positive oder eher als negative Entwicklungseinflüsse einzuschätzen sind. Möglicherweise erwerben Einzelkinder in ihrer durch häufigeren Wechsel charakterisierten Sozialisationsumwelt in besonderem Maße Flexibilität und Anpassungsfähigkeiten, die ihnen in ihrem weiteren Werdegang gerade in zwischenmenschlicher Hinsicht nützlich sein können.

4. Freizeitaktivitäten von Einzelkindern und Geschwisterkindern

Die veröffentlichten spärlichen Befunde stützen die Annahme, dass Einzelkinder sich etwas besser als Geschwisterkinder allein beschäftigen können; möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass sie nicht von klein auf beständig mit einem anderen Kind zusammen waren. Entsprechend häufiger beschäftigen sie sich in ihrer Freizeit mit Aktivitäten, wie Lesen, Musizieren, Basteln, ein Haustier versorgen, bei denen sie nicht auf einen Partner oder Spielfreund angewiesen sind.

5. Schulleistungen, Schulerfolg und Bildungsniveau

Zuverlässige Befunde liegen kaum vor; die in US-amerikanischen Untersuchungen dokumentierte Tatsache, dass Einzelkinder in der Schule im Durchschnitt etwas besser abschneiden als Geschwisterkinder und sich selbst auch etwas positiver einschätzen in den Unterrichtsfächern Lesen und Rechtschreibung, lässt sich nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen. Analoges gilt für den Befund, dass Einzelkinder im Durchschnitt ein höheres Bildungsniveau als Geschwisterkinder erreichen.

6. Einzelkinder im Alter

In Einsamkeit das Alter verbringende Einzelkinder – dieses Klischee dürfte einer genaueren Überprüfung nicht standhalten. Bereits mehrfach nachgewiesen wurde, dass sich die sozialen Netzwerke von Einzelkindern und Geschwisterkindern nur geringfügig unterscheiden: Einzelkinder haben etwas weniger Verwandte, Freunde und Bekannte, zu denen sie etwas intensivere Beziehungen unterhalten – so lautet auf den Punkt gebracht das wichtigste Forschungsergebnis. Zwar wurde dieser Befund nur für junge Familien nachgewiesen, doch ist nicht einzusehen, warum sich älter werdende Einzelkinder in ihrem Sozialverhalten so grundlegend ändern sollten, dass sie schließlich im Alter sozial isoliert und ohne zwischenmenschliche Kontakte dastehen.

Ebenfalls nicht einzusehen ist, dass Einzelkinder sich schwerer tun im Umgang mit dem Sterben anderer oder dem eigenen, mehr oder weniger nah bevorstehenden Tod. Dieses Thema wird in unserer Gesellschaft nach wie vor weitgehend tabuisiert. Wahrscheinlich trägt gerade das eigene Älterwerden, welches mit sich bringt, dass immer häufiger selbst erlebt wird, wie andere, einem nahestehende Personen sterben, dazu bei, dass gleichsam automatisch eine mehr oder weniger intensiv verlaufende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Daseins in Gang gebracht wird. Sicherlich können einem bei dieser Auseinandersetzung Geschwister – aber auch andere, ungefähr gleichaltrige Bezugspersonen – nützlich sein, sie müssen es aber nicht.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es mehr Hinweise dafür gibt und auch mehr Überlegungen dafür sprechen, dass sich Einzelkinder von Geschwisterkindern auch im Erwachsenenalter und höheren Alter nicht wesentlich unterscheiden. Sollten in einzelnen Fällen Unterschiede vorkommen, so hängen diese in der Regel nicht mit dem Schicksal, ohne Geschwister aufgewachsen zu sein zusammen, sondern sind zurückzuführen auf individuelle kritische Lebensereignisse, z. B. Schicksalsschläge, wie Arbeitslosigkeit, der unerwartete Tod eines nahen Angehörigen, eine lebensbedrohende Krankheit usw.

7. Risiken des Aufwachsens ohne Geschwister

Zu belegen ist, dass Einzelkinder keine “Pufferzone” haben; kein Geschwister zu haben erweist sich dann als Risikofaktor, wenn die Eltern ihr Einzelkind zu sehr überfrachten mit Wünschen, Ansprüchen, Forderungen und Förderungen, wenn sie nicht loslassen können und es überbehüten und nicht angemessen abnabeln; aber auch das Sozialisiertwerden von Einzelkind-Eltern, die sich gefühlsmäßig wenig engagieren, distanziert bleiben und kaum Anteil nehmen am Wohl und Wehe ihres Kindes (z.B. weil ihnen ihre Partnerschaft oder der Beruf wichtiger sind), erweist sich als Risikofaktor.

8. Persönlichkeitsunterschiede zwischen Einzelkind und Geschwisterkind?

Sieht man von einigen wenigen Ausnahmen ab – eine Reihe von Einzelkindern scheint z. B. schneller bereit zu sein, die Verantwortung für eine Sache zu übernehmen, an der sie mittelbar oder unmittelbar beteiligt war -, so gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Einzelkinder typische Persönlichkeitsmerkmale ausbilden, hinsichtlich derer sie sich von Geschwisterkindern unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass sich im Einzelfall die Tatsache als Einzelkind – z.B. mit einer überbehütenden, grenzüberschreitenden Mutter aufzuwachsen – nicht schicksalhaft auswirken kann. Dies ist jedoch nicht typisch für eine größere Gruppe von Einzelkindern und lässt sich allenfalls übertragen auf andere, ähnlich beschaffene (und für die klinische Psychologie interessante) Einzelfälle.

Es gibt keine wissenschaftlich fundierte Berechtigung dafür, Einzelkinder in einen Topf zu werfen und zu vergleichen mit einem anderen großen Topf Geschwisterkinder. Denn es liegen zum einen zahlreiche Belege dafür vor, dass die Töpfe wohl nahezu dieselben sind, d. h. dass Einzelkinder heutzutage unter Bedingungen aufwachsen, die denen von Geschwisterkindern nicht nur teilweise sondern weitgehend entsprechen. Zum anderen aber gibt es sowohl in der Gruppe der Einzelkinder wie in der Gruppe der Geschwisterkinder so viele Teil-, Unter- und Unteruntergruppen, die sich voneinander teilweise deutlicher unterscheiden als Einzelkinder von Geschwisterkindern. Beispielsweise führt die Tatsache des Aufwachsens mit nur einem Elternteil bzw. die Berufstätigkeit beider Eltern zu vergleichbaren Effekten gleichgültig, ob ein Kind ein Geschwister hat oder keines. Zwangsläufig lassen sich aber auch Untergruppen von Einzelkindern anführen, die mit beiden Elternteilen groß werden bzw. bei denen nur ein Elternteil berufstätig ist und die sich im Hinblick auf diese wichtigen Sozialisationsbedingungen von den vorab genannten Einzelkindern unterscheiden. Zwischen solchen Untergruppen und entsprechenden Untergruppen von Geschwisterkindern dürften sich sicherlich viele Ähnlichkeiten und Entsprechungen aufweisen lassen.

Entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung sind die tagtäglichen Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen, mit denen es Einzelkinder und Geschwisterkinder zu tun haben sowie die Art und Weise, wie diese subjektiv wahrgenommen und verarbeitet werden. Mit der Erforschung der Auswirkung dieser Alltagsinteraktionen innerhalb des Systems Familie wurde erst in jüngerer Zeit begonnen.

Literatur

  • Bertram, H. (1991) (Hrsg.). Die Familie in Westdeutschland – Stabilität und Wandel familialer Lebensformen. Opladen: Leske + Budrich
  • Falbo, T. (1982). Only children: A review. In: Falbo, T. (Hrsg.). The single-child family. New York, London: Guilford Press
  • Kasten, H. (1995). Einzelkinder – Aufwachsen ohne Geschwister. Berlin: Springer
  • Katz, P.A. & Boswell, B.L. (1984). Sex-role development and the one-child family. In: Falbo, T. (Hrsg.). The single-child family. New York, London: Guilford Press
  • Zajonc, R.B. & Markus, G.B. (1975). Birth order and intellectual development. Psychological Review, 82, 74-88

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Prof. Dr. Dr. habil. Hartmut Kasten, Diplom-Psychologe

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik
 

Kontakt

Fastlinger Ring 98
85716 Unterschleißheim

Tel. 089-3171845

Homepage
 

Erstellt am 26. November 2001, zuletzt geändert am 29. Februar 2012

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
Logo: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz