“… und es beginnt ein neues Leben! – Ein behindertes Kind verändert die Familie

Dr. Petronilla Raila
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Der behinderte Mensch wird in der Forschung bislang sehr stiefmütterlich behandelt. Welche Veränderungen finden jedoch in Familien durch die Geburt eines behinderten Kindes statt? In diesem Beitrag lesen Sie Ergebnisse einer Studie – die erste ihrer Art, die sich über alle Behinderungsarten erstreckt – aus dem Jahre 2008, an der sich fast 1000 Eltern beteiligten. Die Ergebnisse zeigen, dass einerseits mit alten Vorurteilen aufgeräumt werden kann, andererseits alle Eltern ihr behindertes Kind als Bereicherung empfinden.

Am 28. Februar 1992 änderte sich mein Leben schlagartig. Am Vortag wurde mein erstes und einziges Kind geboren. 36 Stunden nach der Geburt teilte man meinem Mann und mir technokratisch und lapidar mit, dass Veronika wahrscheinlich kein Gehirn besäße. Uns wurde empfohlen, diese Mangelgeburt am besten zur Seite zu legen. Die Erfahrungen, die wir danach machten, teilen wir mit vielen Eltern, die ebenfalls ein behindertes Kind zur Welt brachten. Viele werden meine Meinung teilen, dass ein neues Leben zum einem, das des Kindes, und zum anderen, für uns Eltern, begonnen hat. Bei den Wegen, die unsere Familie gezwungenermaßen durch unsere Gesellschaft und deren Institutionen gegangen ist, stellte ich fest, dass sie sich veränderte. Woran das lag, und ob es anderen Familien ebenso erging, war Gegenstand dieser Untersuchung.

Veränderungen entstehen immer durch die Auseinandersetzung mit einer Gegebenheit, einer Person oder Sache. Dieses führt in den meisten Fällen zu einem Leidensdruck. Die Belastungssituationen, denen eine Familie ausgesetzt ist, habe ich in zwei Kategorien eingeteilt. Belastungen, die zum einen von außen auf eine Familie einwirken können, und Belastungen, die zum anderen im Inneren einer Familie entstehen. Wohl ist mir bewusst, dass eine äußere Belastung zu einer inneren Belastung werden kann, und umgekehrt. Beginnen möchte ich mit den Belastungen von außen, da oft genannt wurde, dass diese ab Geburt zunächst vorherrschend waren.

Die erste dieser Belastung ist meist die Art und Weise der Diagnosemitteilung. Der Wortlaut dieses Gespräches bleibt bei vielen Eltern oft jahrelang gespeichert. Fast jedes fünfte Paar gab an, dass die Art der Mitteilung kalt und herzlos gewesen sei. Etwas mehr als die Hälfte erinnerten einen neutralen, sachlichen Ton. Nur wenige bekamen diese, das Leben komplett verändernde Nachricht, warm und einfühlsam überbracht.

Zu einem hohen Belastungsfaktor zählen desweiteren Schuldvorwürfe, denen man sich ausgesetzt fühlt. Etwa ein Drittel der Familien haben dies erlebt. Ca. die Hälfte davon wurde von außen (Nichtverwandte) angegriffen. Diese Schuldvorwürfe waren unabhängig von der Behinderungsart.
Neben diesen Belastungen wurden noch andere ermittelt:

  • Es kostet sehr viel Zeit, den richtigen Ansprechpartner für die medizinische/therapeutische Behandlung zu finden;
  • Ärzte wissen eher weniger über die Behinderung und deren Behandlung;
  • Anträge für Therapien und Hilfsmittel bei Kassen und Behörden sind zu aufwendig;
  • Krankenkassen lassen sich oft viel Zeit, um Anträge zu bewilligen;
  • Viele Anträge werden abgelehnt, so dass man kämpfen muss;

Die Verantwortlichkeit wird oft zwischen den Versicherungen und Ämtern hin- und hergeschoben;
Die finanziellen Belastungen (vom Finanzamt anerkannt) betragen im Schnitt ca. 2.200 € pro Jahr, wobei diese Summe, je nach Behinderungsart, stark variieren kann. Zusätzlich fallen je nach Behinderungsart und -grad Kosten für Wohnungsumbau, das Umrüsten des Autos und für Therapien, die nicht von einem Träger übernommen werden, an. Dass diese Werte sich nicht am tatsächlichen Bedarf orientieren, sondern vom Einkommen limitiert sind, liegt auf der Hand.

Alle Eltern haben über die Schulsituation der Kinder berichtet. Ein Viertel besuchen eine Regelschule, ein bisschen weniger als ein Viertel eine Integrative Einrichtung, fast die Hälfte eine Fördereinrichtung. Da zum Erhebungszeitraum der Begriff „Inklusion“ zwar in vielen Mündern, aber sehr selten umgesetzt war, entschloss ich mich diese Kategorie noch nicht zu erfragen. Der Rest ließ sich keiner dieser Kategorien zuordnen. Eine Tendenz weg von der Fördereinrichtung, hin zur Regelschule, bzw. Integrativen Einrichtung ist deutlich festzustellen. Viele behinderte Kinder besuchen einen integrativen Kindergarten, wechseln aber dann auf eine Förderschule. Dass dies oft nicht den Wünschen der Eltern entspricht, zeigte sich an folgenden Ergebnissen: Mehr als ein Drittel der Eltern, deren Kinder eine Fördereinrichtung besuchen, hätten sich eine Regel-, bzw. eine Integrative Einrichtung gewünscht. Die höchste Zufriedenheit mit der Schule zeigt sich bei Eltern, deren Kinder in eine Integrative Einrichtung gehen, die höchste Unzufriedenheit bei Eltern, deren Kinder in eine Fördereinrichtung gehen.

Ebenfalls mehr als ein Drittel der Eltern, deren Kinder in eine Fördereinrichtung gehen, denken, dass die Schule zu weit weg ist. Bedenkt man, dass bei fast allen Kindern dieser Studie im Behindertenausweis das Merkmal „hilflos“ und „benötigt Begleitperson“ steht, so wird die Frage aufgeworfen, wie diese beiden Forderungen vom Busfahrer, der sich auf den Verkehr konzentrieren sollte, erfüllt werden können. Ganz deutlich lässt sich hier ein Trend ablesen, der auf eine von vielen Eltern bevorzugte Beschulung ihrer behinderten Kinder im Regelschulsystem, bzw. in integrativen Einrichtungen hinweist. Dazu benötigt man oft einen Integrationsassistenten, Stützer oder ähnliches. Dieser Assistent wird meist aus den Mitteln des persönlichen Budgets bezahlt. Eltern sind dann oft mit der Behauptung konfrontiert, dass diese Art der Beschulung einen erheblichen finanziellen Mehraufwand für den Kostenträger bedeutet. Das statistische Bundesamt, hat einen Vergleich der Bildungskosten, zwischen den einzelnen Schularten und Bundesländern aufgrund der Zahlen von 2007 aufgearbeitet. Für einen Schüler fallen in den unterschiedlichen Schularten pro Monat folgende Kosten an :

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Bildet man nun die Differenz zwischen den Kosten einer Förderschule und einer Regelschule, so bleibt ein Unterschied zwischen 8900 € bis 7300 €. Nicht mit eingerechnet sind hier die anhängenden Kosten, wie z. B. der Fahrdienst, Nachmittagsbetreuung, und die Kosten, die aus der Tatsache heraus erwachsen, dass, wie Prof. Wocken nachgewiesen hat, Kinder, die in Förderschulen unterrichtet werden, in einem höheren Maße unselbstständig bleiben und lebenslang auf Hilfe angewiesen sind. Meiner Erfahrung nach, kann von diesem Differenzbetrag nicht nur ein Integrationshelfer bezahlt, sondern auch noch viele weitere Anschaffungen getätigt werden. Es wird also konstatiert: Integration bzw. Inklusion ist nicht kostenintensiver. Meist ist diese Variante für die Allgemeinheit deutlich kostengünstiger als die Beschulung in einer Förderschule.

Nicht minder belastend, wie die äußeren, sind die Belastungen, die im Innern einer Familie entstehen.
Ca. ein Drittel der Mütter und nur jeder zehnte Vater entwickelten Schuldgefühle. Wenn Schuldvorwürfe geäußert werden, dann gegenüber der Mutter. Ein Fünftel hatte damit zu kämpfen. Es zeigte sich, dass diese vor allem von der Oma väterlicherseits, dann von der Oma mütterlicherseits kamen. Ebenfalls kamen sehr viele Schuldvorwürfe von Nichtverwandten (medizinischen Personal, Passanten, etc.).

Fast zu erwarten war das Ergebnis, dass vor allem die Mütter mit zusätzlicher Arbeit belastet sind. Väter übernehmen von der breiten Aufgabenpalette am ehesten den Schriftverkehr mit Versicherungen und Behörden.

Ferner wurden die Belastungen nach folgenden Kriterien bewertet:

  • Belastungen durch den täglichen Umgang mit dem behinderten Kind
  • Belastungen durch die Nichtakzeptanz des Kindes innerhalb der Familie
  • Sorge um die Zukunft des Kindes
  • Sorge um die finanzielle Situation der Familie
  • Sorge, keine Kraft für andere Familienmitglieder zu haben

Vor allem die Sorge um die Zukunft des Kindes wurde als sehr belastend empfunden.
Die Sorge, keine Kraft für andere Familienmitglieder zu haben, wurde je nach Behinderungsart und finanzieller Situation der Familie als mehr oder weniger belastend empfunden.

Die Hälfte der Eltern änderte nach Geburt eines behinderten Kindes die Familienplanung. Davon gab wiederum die Hälfte an, dass sie noch weitere Kinder wollen, unter dem Hauptaspekt, dass das behinderte Kind viel von einem Geschwisterkind lernen kann. Die andere Hälfte, die sich dazu entschloss, die Familienplanung abzuschließen, hatte entweder Angst, dass ein weiteres Kind ebenfalls behindert sein könnte, oder dass sie keine Zeit mehr für ein zusätzliches Familienmitglied aufbringen können.

Um auftretende Konflikte lösen zu können, benötigt man viel Zeit für Gespräche. Am häufigsten wird dabei über die richtige Auswahl von Therapien, Betreuung und Schule und Kindergarten diskutiert. Um die anfallenden Aufgaben besser bewältigen zu können, organisieren sich ca. zwei Drittel der Eltern in Selbsthilfegruppen. Diese erfüllen vor allem die Aufgabe, Eltern psychologisch/moralisch zu unterstützen. Etwas weniger häufig nehmen Eltern das Angebot der Selbsthilfegruppen an, die über die Besonderheiten der Behinderung informieren.
Innerhalb der Familie erhalten die Eltern meist viel Unterstützung. Ich fragte nach der

  • Hilfe bei der tagtäglichen Aufgabenbewältigung
  • Finanziellen Unterstützung
  • Psychischen Unterstützung

Auffallend ist das unterschiedliche Engagement der Großeltern mütterlicherseits zu den Großeltern väterlicherseits. Deutlich fällt der relativ hohe Einsatz auf, den die Oma mütterlicherseits erbringt, gefolgt vom Einsatz ihres Ehemannes und der Oma väterlicherseits. Der Opa väterlicherseits hält sich am meisten zurück.

Ein Drittel der Mütter nahmen professionelle Hilfe zur psychologischen Unterstützung in Anspruch, bei den Vätern war es nur jeder zehnte.

Belastungen, egal ob sie von außen auf die Familie einwirken, oder im Inneren entstehen, verändern jede Familie. Die vier, für mich wichtigsten und überraschendsten Ergebnisse, zur Veränderung der Familie möchte ich hier darlegen.

Beim Familienstand ergab sich bei mehr als zwei Dritteln der Befragten keine Veränderung. Ca. jedes achte Elternpaar hat sich getrennt oder ließ sich scheiden, einige haben ihren bisherigen Partner geheiratet, genauso viele haben sich einen neuen Partner gesucht. In vielen Elternrunden herrscht die Meinung vor, dass ein behindertes Kind eine Ehe so stark belastet, dass Väter oft aus der Verantwortung herausgehen und die Ehe verlassen. Dieses Vorurteil, bestätigte sich nicht. Väter sind wesentlich besser als ihr Ruf! Es gibt zwar Trennungen bzw. Scheidungen, aber das Gros der Eltern veränderte seinen Familienstand nicht.

Die Einstellung zum Glauben veränderte sich ebenfalls. Eltern, die vor der Geburt ihren Glauben für wichtig erachtet haben, vertiefen diesen eher als die Eltern, die ihren Glauben vor der Geburt für unwichtig hielten.

Der Kontakt zu den Familienmitgliedern ist auch einer Veränderung unterworfen. Der Kontakt zu den Verwandten verbessert sich, durch die Geburt eines behinderten Kindes, auf der mütterlichen Seite deutlich mehr, als auf der väterlichen Seite.

Eltern machen durch die Geburt eines behinderten Kindes fast immer tiefgreifende, oft existenzielle Erfahrungen. Um diesen Erfahrungen möglichst breiten und individuellen Raum zu geben, stellte ich am Ende des Fragebogens zwei offene Fragen:

  1. Welche Auswirkungen der Behinderung Ihres Kindes waren oder sind für Sie besonders schlimm?
  2. Welche positiven Auswirkungen hatte die Behinderung Ihres Kindes?

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Ganz deutlich tritt als schlimmste Auswirkung, noch vor der Krankheit und Behinderung selbst, die Ausgrenzung hervor. Zwei Drittel der Eltern haben nicht nur Erfahrungen mit der Ausgrenzung gemacht, sondern sie sehen dies auch als besonders schlimm an. Die Diskriminierung trifft die ganze Familie, Geschwisterkinder, Eltern und sogar Großeltern.

Die mit Abstand wichtigste positive Auswirkung bei allen Eltern ist die Veränderung der Einstellung zum Leben. Alle Eltern gaben an, dass sie in ihrer Situation neue Werte für sich selbst gewonnen haben. Dies bedeutet, dass Eltern durch die Geburt eines behinderten Kindes einen Wendepunkt in ihrer persönlichen Entwicklung erfahren.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Geburt eines behinderten Kindes wohl zu den einschneidendsten Erlebnissen im Leben von Eltern gehört. Ihr ganzes Leben kann sich dadurch ändern, nicht nur das – diese Aufgabe wird für viele Eltern lebensbestimmend. Sie müssen mit Situationen zurechtkommen, auf die sie nicht vorbereitet sind. Viele Eltern beklagen, dass sie mit Problemen zu kämpfen haben, die mit der eigentlichen Behinderung und der daraus resultierenden Pflege, nichts zu tun haben. Diese Probleme sind in unserer Gesellschaft begründet. Es hat Tradition, einen Menschen mit Behinderung als Objekt der Fürsorge zu sehen, ein Objekt, das zu seinem eigenen Schutz eher von der Gesellschaft getrennt werden muss. Diese Gesellschaft macht sich jetzt langsam auf den Weg, eine Behinderung nicht als etwas Unnormales, sondern als eine Varietät der Natur, als eine der Möglichkeiten menschlichen Lebens zu betrachten. Carl Friedrich von Weizsäcker prägte diesen Satz: „Es ist normal, verschieden zu sein“. Erst wenn dieser Satz in den Köpfen der Menschen angekommen ist und umgesetzt wurde, werden es Eltern mit besonderen Kindern leichter haben, ihre Ängste werden abnehmen, ein Stück „Normalität“ wird einkehren können. Dann wird ein Mensch mit einer Varietät zu einem Individuum, der sehr wohl sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Leider ist der momentane Stand so, dass man oft auf veraltete Strukturen trifft, die es zu überwinden gilt. Nicht nur deshalb, weil die UN-Resolution dies verlangt, sondern aus einer zutiefst ethischen, humanistischen und/oder christlichen Betrachtungsweise heraus.

Angaben zur Veröffentlichung

Raila, Petronilla (2012): “…und es beginnt ein neues Leben”. Eine empirische Untersuchung zur Veränderung der innerweltlichen Situation vom Familien durch die Geburt eines behinderten Kindes, Context Verlag.

Autorin

Dr. Petronilla Raila, geboren 1959 in Augsburg. Studium der Ernährungswissenschaften und Chemie an der TU München. Seit 1987 unterrichtet sie in Augsburg. Nach der Veröffentlichung eines Rechenbuches wurde 1992 ihre Tochter Veronika, eine Autistin mit einer starken Körperbehinderung, geboren. Durch die Auseinandersetzung mit der Behinderung und den Begleiterscheinungen in der Familie und der Gesellschaft, wurde sie angeregt eine Arbeit darüber zu verfassen.

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Erstellt und zuletzt geändert am 8. Oktober 2013

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