Das Traglingskonzept

Teil 2: Ein stammesgeschichtliches „Betreuungsmodell“ von täglicher Relevanz

Dr. Evelin Kirkilionis
Kirkilionis - Photo

Tragen und Körperkontakt wirkt sich nicht nur auf die kindliche Entwicklung positiv aus, auch Eltern profitieren davon. So wird das intuitive Elternverhalten gestärkt, auf das Eltern vor allem durch Stress und Unsicherheit oft nicht zurückgreifen können. Oft werden daher kindliche Verhaltensweisen nicht erkannt oder fehlinterpretiert. Die Betreuungsgepflogenheiten in traditionale Kulturen vermitteln uns ein „stammesgeschichtliches Betreuungsmodell“, das Ansatzpunkte liefert, wie wir die Betreuung in unserer heutigen Umwelt bedürfnisgerechter für Kind und auch Eltern umgestalten könnten – was sich, wie Untersuchungen belegen, positiv auf die Feinfühligkeit und das Stillverhalten der Mütter auswirkt, und ebenso auf die kindliche Bindung.

Ein Säugling zählt zu dem biologischen Typ des Traglings, ist also daran angepasst, ständig im Kontakt mit einer seiner Betreuungspersonen zu sein und getragen zu werden. Tragen und Körperkontakt wirkt sich in vielerlei Hinsicht positiv auf die kindliche Entwicklung aus (siehe Teil 1). Tragen und Körperkontakt ist jedoch kein einseitiges Geschehen. Auch Eltern werden beeinflusst und profitieren ebenfalls davon, wenn sie sich und ihrem Baby viel Nähe „gönnen“ und es tragen. Und von Anfang können Eltern auf biologisch begründete Verhaltensweisen zurückgreifen, die sie in ihrem Bemühen um eine möglichst gute Versorgung ihres Kind unterstützen. Vorausgesetzt jedoch es bestehen geeignete Rahmenbedingungen, die den „Zugriff“ auf diese Verhaltensweisen zulassen. Hier lohnt ein Vergleich mit traditionalen Kulturen, die uns eine Vorstellung vom Zusammenleben in stammesgeschichtlicher Zeit geben. Dieser Vergleich verdeutlicht die Unterschiede zwischen unserer heutigen Lebensweise und der, an die wir aufgrund unserer Stammesgeschichte angepasst sind.

Körperkontakt – wichtig für Eltern und Kind

Sprechen wir von einer gelungenen Bindung eines Kindes, so sprechen wir eigentlich davon, dass Eltern geeignete Rahmenbedingungen geschaffen haben, damit ihr Kind eine sichere Bindung zu ihnen aufbauen konnte. Zwar benötigt ein Kind mehrere Monate, bis es sich individuell und unverwechselbar an seine Elternpersönlichkeiten gebunden hat. Doch es lernt vom ersten Tag an wie die Menschen in seiner Umwelt auf seine Signale reagieren, und lernt somit, wie seine Eltern es umsorgen. Sie „arbeiten“ von Anfang an bereits an der Bindungsbeziehung ihres Kindes.

Eltern müssen vom ersten Tag bereit sein, das kleine Wesen zu umsorgen und auf seine Signale zu reagieren. Es ist heute keine Frage mehr: Frühkontakt zwischen Eltern und Kind gleich nach der Geburt fördert den Aufbau der emotionale Beziehung von Mutter und Vater zu ihrem Neugeborenen. Doch selbst wenn Mütter keine Gelegenheit hatten, so frühen Kontakt mit ihrem Kleinen aufzunehmen, ist „nur“ eine erste Chance vertan. Verbringen sie in den nächsten Tagen viel Zeit im direkten Kontakt, so kann das anfängliche Manko ausgeglichen werden.

Das intuitive Elternprogramm – biologisch begründet, aber störanfällig

Mütter, Väter und alle Erwachsenen, die bereit zur Kontaktaufnahme mit einem Kind sind, sind auch dazu befähigt, seine Signale zu verstehen und auf die kindlichen Bedürfnisse feinfühlig und adäquat zu reagieren. Obwohl das intuitive Elternprogramm eine biologische Basis besitzt, ist es störanfällig. Die Betreuungsbereitschaft ist beim Menschen keineswegs instinktsicher in unserer genetischen Ausstattung „abgespeichert“. Es ist „lediglich“ eine so genannte Prädisposition, also eine angeborene Bereitschaft hierzu, die – sind die Bedingungen ungünstig – gegebenenfalls nicht umgesetzt werden kann. Unkenntnis und Unerfahrenheit, Unsicherheit und insbesondere Stress, z.B. in Form von Überforderung, verhindern, dass Eltern auf ihr intuitives Programm zurückgreifen können.

Ein liebevoller, feinfühliger Umgang mit dem Säugling führt normalerweise zu einer sicheren Bindung des Kindes an seine Eltern. Dessen sind sich Eltern zumeist sehr wohl bewusst. In jungen Familien ist jedoch Stress und Unsicherheit aufgrund von Unkenntnis oft ein ständiger Begleiter. Schließlich ist in unserem Kulturkreis das eigene Baby nicht selten das erste Kind, das junge Eltern „in die Hand bekommen“. Hinzu kommt der Wunsch, alles richtig zu machen. Ein zusätzlicher Faktor, der das intuitive Elternprogramm blockieren kann, das ja außerhalb der gedanklichen Kontrolle abläuft. So hält die Furcht, ein Kind schon früh zu verwöhnen, Eltern nicht selten davon ab, ihrem ersten Impuls zu folgen und ihrem eigenen Bedürfnis gemäß ihr weinendes Baby auf den Arm zu nehmen, wenn hinter dem Aufweinen keine offensichtliche Not zu erkennen ist. Das Grundbedürfnis eines Babys nach spürbarer Nähe fällt bei Eltern und noch häufiger bei Großeltern nicht unter diese Kategorie. Es wird vielmehr als frühe Anspruchshaltung eines Kindes bewertet und sein Aufnehmen fälschlicherweise mit Verwöhnen gleichgesetzt. Ein Blick auf die Betreuungsgepflogenheiten und die Art des Umgangs mit Kindern in traditionalen Kulturen wirft auf diese Situation jedoch ein anderes Licht.

Traditionale Kulturen – ein Blick in unsere Vergangenheit

Traditionale Kulturen, die nach wie vor als Jäger und Sammler leben, vermitteln uns ein Bild davon, wie die Lebensbedingungen, an die wir und unsere Kinder eigentlich auch heute noch angepasst sind, während unserer Stammesgeschichte ausgesehen haben mögen. Die Versorgung der Kleinen und Kleinsten ist in diesen Kulturen durch ganz bestimmte Faktoren charakterisiert:

  • Es besteht ein enger Kontakt zwischen Mutter und Kind, das üblicherweise oft getragen wird
  • Stillen nach Bedarf (bis 4mal pro Stunde)
  • Mutter und Kind schlafen zusammen (Co-sleeping)
  • Ein soziales Netzwerk reduziert die Belastung der Mutter, d.h. mehrere vertraute Personen kümmern sich zusätzlich um heranwachsende Kinder vom Neugeborenenalter an  
  • Schon Kleine wachsen in altersgemischte Spielgruppen hinein, da bereits Säuglinge älteren Geschwistern anvertraut werden, so lernen sie früh den Umgang mit den Kleinsten und diese werden frühzeitig in die Kindergruppen eingeführt
  • Allgemein gilt eine hohe Toleranz bezüglich der Bedürfnisse und Anforderungen abhängiger Kinder

Dieses „stammesgeschichtliche Betreuungsmodell“ bietet verschiedene Ansatzpunkte, wie wir in unserer modernen Welt unseren Bedürfnissen und denen unserer Kinder eher gerecht werden können.

Tragen beeinflusst Eltern in verschiedener Hinsicht

Tragetuch - Sepia

Tragen Eltern ihre Kleinen im direkten Körperkontakt, spüren sie jede Bewegung und Regung ihres Kindes und können so schnell auf deren Bedürfnisse und Signale reagieren. Im direkten Körperkontakt spüren Eltern bedeutend früher, dass das Kleine wach zu werden beginnt, dass es Hunger bekommt oder das Windelpaket gerade zum Einsatz kam. Das erleichtert den Zugang zu den anfangs noch etwas rätselhaften kleinen Wesen. So können Mütter z.B. früher einen geeigneten Platz zum Stillen aufsuchen, als wenn die Signale auf Kinderwagendistanz erfasst werden müssen. Zudem beruhigt das Tragen, und ein seltener weinendes oder unruhiges Kind bestärkt Eltern in dem Wissen, dass sie den neuen „Job“ ganz gut hinbekommen. Das unterstützt ihr Kompetenzgefühl und die Sicherheit im Umgang mit ihrem Baby. Dieses Kompetenzgefühl lässt Eltern auch dann gelassener reagieren, wenn das normalerweise ausgeglichene Kleine, aus welchen Gründen auch immer, einmal ausgesprochen ungnädig ist und sich als kaum zu beruhigender kleiner Schreihals zeigt.

Wie eine Untersuchung belegt, sind Kinder, die getragen wurden, häufiger sicher an ihre Mutter gebunden als Kinder, die nicht getragen wurden. Die Beobachtungen ergaben, dass zur Vergleichs­gruppe die Trage-Mütter feinfühliger auf ihre Kinder eingingen. Auf diese Weise bereiteten sie die sichere Bindung ihres Kindes vor. Nicht nur, dass das Tragen das Bedürfnis des Kindes nach Körper­kontakt und Nähe erfüllt, es unterstützt ebenso die emotionale Beziehung der Eltern zu ihrem Kind. Diese Untersuchung wurden übrigens in Familien durchgeführt, deren Kinder üblicherweise aufgrund des kritischen sozialen Familienumfelds überwiegend eine unsichere Bindung entwickelten.

Auch auf einer anderen, wichtigen Ebene beeinflusst Tragen die Mütter direkt: nämlich hinsichtlich ihres Stillverhaltens. Eine Gruppe von Müttern erhielt bereits im Krankenhaus außer einer Stillberatung auch eine Einweisung in den Gebrauch einer Tragehilfe, während der anderen Gruppe lediglich eine Stillberatung geboten wurde. Alle beobachteten Mütter stillten bei der Entlassung aus dem Krankenhaus ihr Kind. Beide Gruppen unterschieden sich jedoch bald in ihrem Stillverhalten. Nach 2 Monaten stillten in der Trage-Gruppe noch 74 %, in der Nicht-Trage-Gruppe lediglich 51 %. Nach 5 Monaten waren die Unterschiede noch gravierender, in der Trage-Gruppe stillten nach wie vor 48 % der Mütter, doppelt so viele Mütter wie in der Nicht-Tragegruppe. Zudem stillten die Tragemütter durchweg häufiger im Verlaufe eines Tages und auch häufiger ausschließlich.

Soziale Entlastungswünsche der Mütter

Ein wichtiger Faktor, in der sich die Situation der Mütter in traditionalen Kulturen von denen in den westlichen Kulturkreisen unterscheidet, ist das soziale Umfeld. In traditionalen Kulturen steht stets mindestens eine erfahrene Person zur Verfügung, die zum einen der Mutter das Kind schon im Säuglingsalter immer wieder abnimmt. Zum anderen ist eine Mutter in schwierigeren Situationen nicht alleine, sie wird üblicherweise sofort von einer erfahrenen Person unterstützt.

Auch die Freiburger Studie zeigt, dass sich Mütter vor allem Entlastung und Unterstützung bei der Betreuung ihres Babys wünschen.

Wünsche der Mütter (Freiburger Studie)

  • … wäre gut, wenn mein Mann mehr zu Hause gewesen wäre. Im Bekanntenkreis hätte ich mir mehr adäquate Gesprächspartner gewünscht, die in der gleichen Situation sind …
  • ... grundsätzlich toll, wenn man mit Freundin/Großeltern und anderen Kindern zusammen wäre, zwischendurch eine halbe Stunde Entlastung …
  • ... eine Person, die sich tagsüber um das Baby kümmert, wenn ich andere Dinge zu erledigen habe …
  • ... zwei Nachmittage in der Woche frei zu haben …
  • ... das Baby 2 Stunden nehmen und spazieren fahren, damit ich Zeit für mich habe …
  • ... Freundinnen mit größeren Kindern, die Tim mitbetreut hätten …
  • ... Leute, die einem was abnehmen, Mittagessen kochen, präsent sind …
  • … Oma die mal aufpasst und hilft …
  • ...

All diese Kommentare weisen darauf hin, dass Mütter sich mehr Entlastung und Hilfe von anderer Seite wünschen. Mütter sind prädisponiert, die Signale und Bedürfnisse ihrer Kinder zu verstehen und darauf adäquat und altersgerecht zu reagieren. Doch keine Mutter ist eigentlich prädisponiert dafür – Tag für Tag – über Monate hinweg – rund um die Uhr – nahezu die Alleinversorgung eines Babys zu bewältigen; auch wenn sie es oft dennoch bewundernswert meistert.

Umsetzbarkeit des stammesgeschichtlichen Betreuungsmodells

Die Eltern-Kind-Beziehung ist beeinflussbar, sowohl um von vornherein möglichst geeignete Ausgangsbedingungen und somit die Basis für ein gelungenes Bindungsgeschehen zu schaffen, als auch um zu intervenieren, gerät der Prozess in eine Krise. In unserem Kulturkreis sind, betrachten wir das stammesgeschichtliche Betreuungsmodell, wohl am einfachsten die Punkte Tragen, Co-Sleeping und Stillen nach Bedarf umsetzbar. Wobei das Tragen im Körperkontakt allgemein das Alltagsleben mit einem Säugling vereinfacht. Ein nicht zu unterschätzender Punkt, da er den Faktor Alltagsstress beträchtlich reduziert.

Auch wenn sich heute Väter bedeutend stärker bei der Betreuung ihrer Kinder engagieren und von Anfang an involviert sind, ist nach wie vor der Faktor Zeit ein kritischer Punkt. Nach einigen Ur­laubswochen oder einer vergleichsweise kurzen Elternzeit, die meist 2 Monate nicht übersteigt, diktiert üblicherweise das Arbeitsleben eine mehr als 8-stündige Abwesenheit das Familienleben. Wenn zudem die Mütter unter sozialer Isolation leiden, leidet oft auch die Eltern-Kind-Beziehung. Mütter sollten nicht davor zurückschrecken, sich Überlastung und das Gefühl, irgendwie alleine gelassen zu sein, einzugestehen und Hilfe einzufordern, sie sind berechtigt hierzu. Elterninitiativen, Mütter- oder Familientreffpunkte und Gesprächsrunden in Hebammenpraxen sind einfache und unverbindliche Gelegenheiten, Kontakte herzustellen – und sind ein erster Schritt aus der sozialen Isolation. Hier besteht zudem die Möglichkeit weiterer Hilfestellung in Erfahrung zu bringen, wenn sich dies als notwendig erweist.

Literatur

  • Anisfeld E et al.: Does infant carrying promote attachment? An experimental study of the effects of increased physical contact on the development of attachment. Child Development, 1990, 61, 1617 – 1627.
  • Freiburger Studie: Bensel, J: Frühe Säuglingsunruhe - Einfluss westlicher Betreuungspraktiken und Effekte auf Aktivitätsmuster und biologischen Rhythmus. VWB, Berlin, 2003.
  • Hassenstein B: Verhaltensbiologie des Kindes. Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat, Münster, 2007.
  • Keller H. et al.: Developing patterns of parenting in two cultural communities. International Journal of Behavioral Development, 2010, 35(3), 233 – 245.
  • Kirkilionis E: Bindung stärkt: Emotionale Sicherheit für Ihr Kind - der beste Start ins Leben. Kösel, München, 3. Aufl., 2016.
  • Kirkilionis E: Ein Baby will getragen sein. Alles über geeignete Tragehilfen und die Vorteile des Tragens. Kösel, München, komplett überarbeitete Aufl., 2013.
  • Konner M: Hunter-gatherer infancy and childhood - The Kung and others. In: Hewlett BS, Lamb ME (Hrsg.) Hunter-gatherer childhoods: Evolutionary, developmental, and cultural perspectives. Aldine Transaction, New Brunswick, London, 2005, 19 – 64.
  • Pisacane A et al.: Use of baby carriers to increase breastfeeding duration among term infants: the effects of an educational intervention in Italy. Acta Pædiatrica, 2012, 101, e434 – e438.
  • Salmon CA, Shackelford TK (Hrsg.): Family relationships. Oxford university press, New York, 2008.

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Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Dr. Evelin Kirkilionis
Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM)

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eingestellt am 11. Januar 2017

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