Sexuelle Übergriffe durch Jugendliche

Elke Schmidt
Schmidt Elke

Eltern können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen vorzubeugen. Sie sind für Jugendliche auch heute noch – trotz Internet, Fernsehen und dem Einfluss der Gleichaltrigen – die wichtigste Informationsquelle, wenn es um Fragen der Sexualität geht. Welche Botschaften sie ihren Kindern vermitteln können, um ihnen den Zugang zu einer selbstbestimmten und Grenzen achtenden Sexualität zu ermöglichen, und wie sie reagieren können, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter von sexuellen Übergriffen berichtet, wird in dieser Broschüre vorgestellt.

Einführung

„Im Sportverein beim Duschen habe ich mit anderen Jungs beim Wettbewerb “Wer spritzt am weitesten“ mitgemacht – das ist mir jetzt total peinlich.“

„Bei der letzten Party haben drei Jungs ein Mädchen total abgefüllt. Als sie total betrunken war und sich nicht mehr wehren konnte, haben sie das Mädchen ausgezogen, überall begrapscht und Fotos gemacht. Ich hoffe, das passiert mir nie.“

„Ich habe mit meinem Freund geschlafen, weil ich Angst hatte, dass er sonst mit mir Schluss macht.“

„Als Rache dafür, dass ich Schluss gemacht habe, hat meine Exfreundin Nacktfotos von mir, die wir mal gemacht hatten, bei Facebook eingestellt – das finde ich richtig mies.“

„Beim Schulfest kamen Lisa und ich uns näher – wir haben auf dem Pausenhof geknutscht und sie hat mich dann in eine Ecke geschoben und mir ihre Hand in die Hose gesteckt – das ging mir viel zu schnell… Gesagt habe ich nichts – sonst denkt sie vielleicht, ich finde sie nicht gut.“

Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen sind nichts Neues und leider auch keine Seltenheit. Viele Mädchen, aber auch Jungen, erleben „blöde Anmache“, ungewollte Berührungen, erpresste oder sogar gewaltsam erzwungene sexuelle Handlungen durch Gleichaltrige. Die Bandbreite sexueller Übergriffe unter Jugendlichen ist groß und reicht von sexueller Belästigung bis hin zu massiven, strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt. Dennoch werden sexuelle Grenzverletzungen unter Kindern und Jugendlichen von Erwachsenen häufig bagatellisiert und erforderliche Grenzen nicht gesetzt – nach dem Motto: „Das wächst sich aus.“ Damit werden verantwortliche Erwachsene, insbesondere Eltern, weder den übergriffigen noch den betroffenen Jugendlichen gerecht. Sie lassen Kinder und Jugendliche allein, die beim Thema Sexualität Schutz, Unterstützung und Orientierung durch Erwachsene brauchen.

Gerade weil sexuelle Grenzverletzungen im Jugendalter häufig vorkommen, sind diese ernst zu nehmen. Sie als Eltern können durch die Vermittlung von Werten und klaren Grenzen, aber auch durch eine offene Sexualerziehung viel dazu beitragen, Ihr Kind zu stärken und damit sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen vorzubeugen und den Schutz vor Übergriffen zu verbessern.

Was sind sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen – Begriffsklärung

Sexuelle Grenzverletzungen unter Jugendlichen sind alle sexuellen Äußerungen und Handlungen gegen den Willen anderer Jugendlicher. Diese können spontan aus einer Situation heraus entstehen, aber auch vorsätzlich geplante oder wiederholte Übergriffe sein.

Dabei muss nicht immer körperliche Gewalt im Spiel sein – auch durch Geschenke, Überredung, Erpressung können sexuelle Handlungen erzwungen werden. Dies gelingt umso leichter, je größer der Machtunterschied zwischen den beteiligten übergriffigen und betroffenen Jugendlichen ist. Sexuell übergriffigen Jugendlichen geht es häufig nicht nur darum, sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um das Erleben von Macht, Überlegenheit und Unterwerfung anderer.

Welche Beispiele für sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen gibt es?

Delikte ohne Körperkontakt:
♦ verbale Belästigung, sexualisierte Schimpfwörter und Gesten, „Anbaggern“
♦ Zeigen von Pornografie
♦ obszöne Anrufe
♦ Voyeurismus, Exhibitionismus
♦ das Aufnehmen und Verbreiten von intimen Fotos und Filmen ohne Zustimmung der betroffenen Person (auch von sexuellen Übergriffen = Happy Slapping)
♦ sexualisiertes Mobbing, d.h. das Schlechtmachen einer anderen Person, v.a. im sexuellen Bereich (im Netz: Cybermobbing)
♦ sexuelle Übergriffe in Chats und sozialen Netzwerken
♦ Stalking (Belästigen, Verfolgen und Bedrohen einer anderen Person)

Delikte mit Körperkontakt:
♦ Grapschen, aufgedrängte Küsse
♦ unerwünschte Berührungen an Brust, Po, Genitalbereich, sich reiben an anderen
♦ Vergewaltigung (Eindringen in Mund, Scheide oder After mit Penis, Finger oder Gegenstand)
♦ Date Rape (sexuelle Gewalt bei einer Verabredung)
♦ Gang Bang (Gruppenvergewaltigung; der Begriff wird mittlerweile auch für Gruppensex verwendet)

Zur Einschätzung der Schwere eines Übergriffs und der erforderlichen Hilfen für die beteiligten Jugendlichen sind folgende Kriterien hilfreich:
♦ Größe des Unterschieds in Alter und Entwicklungsstand (je größer die Differenz desto schwerwiegender)
♦ Beziehung zwischen Opfer und Täter/-in (je weniger eng die Beziehung ist desto unangemessener)
♦ Intensität und Häufigkeit des sexuellen Übergriffs
♦ Art der Handlung (Delikte mit/ohne Körperkontakt)
♦ Einsatz von Manipulation, Druck, körperlicher Gewalt, Verabreichen von Substanzen, die das Leisten von Widerstand erschweren oder ganz unmöglich machen
♦ Vorhandensein von zwanghaftem sexuellem Verhalten, sadistischen oder symbolischen Handlungen oder Ritualen
♦ Fantasien des/der Täters/-in im Vorlauf des sexuellen Übergriffs

In der Summe zeigt sich die Schwere des sexuellen Übergriffs. D.h. bei einem großen Altersunterschied, einer fehlenden Beziehung zwischen Opfer und Täter/-in, mehrmaligen sexuellen Übergriffen mit durch Gewalt erzwungenem Körperkontakt, u.U. verbunden mit bestimmten Ritualen und einer deutlichen Erregungsphantasie im Vorfeld der Tat, haben wir es mit einer schwerstmöglichen Tat eines Jugendlichen zu tun.

Ebenso klar unterschieden werden muss zwischen sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen und sexuellem Missbrauch von Kindern – d.h. von unter 14-Jährigen – durch Jugendliche. Der sexuelle Missbrauch von Kindern gilt als besonders schwere Tat eines/einer Jugendlichen. Bereits der Versuch stellt eine Straftat dar (§ 176 StGB: Sexueller Missbrauch von Kindern).

Nicht alle sexuellen Übergriffe stellen Straftaten dar, viele Formen sind jedoch strafrechtlich relevant. Sofern die Täter/-innen bereits strafmündig sind, zählen sexuelle Übergriffe je nach Alter der Täter/-innen und dem der Betroffenen zu den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (13. Abschnitt StGB, §§ 174-186 StGB).

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (13. Abschnitt StGB)

♦ § 174: Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen
♦ § 176: Sexueller Missbrauch von Kindern (schon der Versuch ist strafbar) untersagt jeglichen sexuellen Kontakt mit unter 14-Jährigen unabhängig vom Alter der zweiten Person
♦ § 177: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
♦ § 178: Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge
♦ § 179: Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen
♦ § 182: Sexueller Missbrauch von Jugendlichen
♦ § 183: Exhibitionistische Handlungen, Erregung öffentlichen Ärgernisses
♦ § 184: Verbreitung pornographischer Schriften
♦ § 185: Beleidigungen (auch sexueller Art)
♦ § 186: Üble Nachrede (die letzten beiden evtl. relevant bei Übergriffen unter Gleichaltrigen im Netz)
♦ § 238: Nachstellung (hierunter fällt Stalking)

Die jeweiligen Gesetzestexte finden Sie beispielsweise hier.

Bei allen massiveren Formen sexueller Übergriffe brauchen sowohl das Opfer als auch der/ die Täter/-in weitreichende Unterstützung (Beratung oder Therapie), die Eltern allein nicht leisten können.

Zahlen und Fakten zu sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen

Die Häufigkeit sexueller Gewalt unter Jugendlichen in Zahlen auszudrücken, ist schwierig, da viele Übergriffe im sogenannten „Dunkelfeld“ bleiben, also nicht öffentlich bekannt oder angezeigt werden.

Laut polizeilicher Kriminalstatistik, in der alle angezeigten Straftaten erfasst werden, sind Jugendliche und Heranwachsende bei ca. einem Fünftel aller angezeigten Sexualstraftaten die Tatverdächtigen – mit deutlich steigender Tendenz. Auch beim sexuellen Missbrauch von Kindern sind in knapp 20% aller Fälle Jugendliche tatverdächtig. Aus Untersuchungen mit erwachsenen Sexualstraftätern ist bekannt, dass viele von ihnen bereits im Kindes- und Jugendalter sexuelle Übergriffe verübten. Männliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren stellen eine Hochrisikogruppe dar. Sie sind in der polizeilichen Kriminalstatistik als Tatverdächtige bei Sexualdelikten im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportional vertreten.

Häufig erfolgen sexuelle Übergriffe durch Jungen oder Männer, seltener durch Mädchen oder Frauen. Derzeit ist jedoch unklar, ob es tatsächlich einen Anstieg sexueller Gewalt unter Jugendlichen gibt oder ob durch die zunehmende Sensibilisierung und Enttabuisierung sexueller Gewalt die Anzeigebereitschaft gestiegen ist und dadurch mehr Fälle bekannt werden.

Während bei sexuellen Übergriffen unter Kindern Mädchen und Jungen etwa zu gleichen Teilen betroffen sind, steigt bei sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen der Anteil der betroffenen Mädchen deutlich an. Studien zufolge haben mehr als die Hälfte der Mädchen und jungen Frauen sowie ungefähr ein Drittel aller Jungen und jungen Männer zwischen 17 und 20 Jahren bereits unfreiwillige sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen gemacht. Die Täter/-innen sind den Opfern meist bekannt: (Ex-)Beziehungspartner/-innen, Freunde/-innen aus der Clique, Bekannte, aber auch Geschwister und andere Verwandte. Sexuelle Übergriffe durch fremde Jugendliche kommen hingegen seltener vor.

Warum kommt es zu sexuellen Übergriffen? Hintergründe und Risikofaktoren, die sexuelle Übergriffe begünstigen

So wenig wie es den sexuell übergriffigen Jugendlichen gibt, gibt es die Erklärung für sexuelle Übergriffe. Sexuelle Grenzverletzungen unter Jugendlichen entstehen durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren:
♦ Gesellschaftliche Faktoren
♦ Individuelle Faktoren
♦ Entwicklungsbedingte Faktoren

Die Frage nach dem Einfluss der Medien auf die Sexualität Jugendlicher wird häufig gestellt, kann aber nicht eindeutig beantwortet werden.

Tatsache ist, dass Jugendliche heute in einer Gesellschaft aufwachsen, in der Medien allgegenwärtig sind. Jugendliche sind in der Regel gut ausgestattet mit Handy, Computer, Fernseher, Spielkonsole usw. Der Zugang zu pornografischen Inhalten im Netz ist für sie kinderleicht und der Konsum von Pornografie ist für viele Jugendliche heute selbstverständlich und normal. Auch die Songs der „Porno-Rapper“, die aufgrund ihrer frauenfeindlichen und gewaltverherrlichenden Texte zum Teil sogar auf dem Index landen, sind vor allem bei Jungen beliebt. Selbst wenn die meisten Jugendlichen diesen Inhalten durchaus kritisch gegenüberstehen, die Darstellung von sexueller Gewalt überwiegend ablehnen und Pornokonsum nicht automatisch zu einer Akzeptanz sexueller Gewalt führt, kann der exzessive Konsum von (harter) Pornografie doch die Vorstellungen von Sexualität und die Einstellung dazu äußerst negativ beeinflussen.

Sexuelle Übergriffe im Jugendalter finden in einer Entwicklungsphase statt, in der Jugendliche verschiedene Herausforderungen zu meistern haben: die Loslösung von den Eltern, die Vorbereitung auf den Beruf, den Aufbau von Freundschaften zu Gleichaltrigen und Partnerschaftsbeziehungen sowie die Entwicklung einer eigenen – auch sexuellen – Identität.

Und dazu gehört auch, sich auszuprobieren, zu experimentieren und Grenzen zu testen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade Jugendliche ein erhöhtes Problem- und Risikoverhalten zeigen. In der Form und Ausprägung gibt es jedoch häufig geschlechtsspezifische Unterschiede: Jungen fallen nach wie vor eher durch Alkohol- und Drogenkonsum, Aggression, Dominanzverhalten auf, während Mädchen eher Depressionen, selbstverletzendes Verhalten oder Angst- und Essstörungen entwickeln. Hierbei handelt es sich um die Beschreibung von Tendenzen; dies schließt nicht aus, dass es auch Jungen mit Depressionen und Mädchen mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten gibt.

Die Peergroup, die Clique der Gleichaltrigen, die für Jugendliche immer wichtiger wird, hat dabei starken Einfluss auf die Haltung und das Verhalten, z.B. in Bezug auf Alkohol- oder Drogenkonsum, Regelverletzungen, Gewalt, Pornografiekonsum oder Ausmaß und Zeitpunkt sexueller Erfahrungen.

Bei Gruppenaktivitäten (z.B. im Rahmen der Schule, des Sportvereins oder bei privaten Treffen) kann sich durch das Anstacheln einzelner Gruppenmitglieder eine Dynamik entwickeln, in der Jugendliche zu sexuellen Handlungen gebracht werden, die sie eigentlich nicht wollten. So machen Jugendliche mehr oder weniger freiwillig bei Gruppenknutschen, Strippen, gemeinsamem Masturbieren, Gang Bang und Ähnlichem mit oder sie beteiligen sich an sexuellen Handlungen, die die Grenzen anderer verletzen, wie „Eierkneifen“, unbemerkt intime Filme von anderen drehen und verbreiten, bis hin zu Vergewaltigungen.

Nur wenige Jugendliche schaffen es, sich dem Druck der Gruppe zu entziehen. Meist machen Jugendliche mit oder schreiten bei Grenzverletzungen nicht ein. Sie möchten dazugehören und nicht als Spielverderber/-in dastehen und rechtfertigen sich damit, dass „alles ja nur Spaß war“.

Nicht nur in Gruppen, auch in Liebesbeziehungen zwischen Teenagern kommt es zu sexuellen Grenzverletzungen – häufig aus zunächst einvernehmlichen Situationen heraus. Einerseits wollen Jugendliche ihre (sexuelle) Attraktivität testen und sind neugierig auf die ersten sexuellen Erfahrungen. Andererseits sind viele unsicher, wie weit sie hier und heute gehen wollen und wie sie das ihrem Gegenüber deutlich machen können. Das kann zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen führen. Geht der Flirt, die Knutscherei, das Schmusen dann weiter als gedacht, ist es schwer, klar „Nein“ zu sagen oder das „Nein“ des Gegenübers zu verstehen. Vor allem, wenn in der Peergroup frühzeitige oder auch häufig wechselnde sexuelle Beziehungen befürwortet werden.

Jugendliche werden von ihren Partnern/-innen jedoch mitunter auch durch gezielten Einsatz von Manipulation, Erpressung oder Gewalt – worunter auch die weit verbreitete Androhung „Schluss zu machen“ fällt – zu sexuellen Handlungen gezwungen.

Alle oben beschriebenen Einflüsse können dann mit höherer Wahrscheinlichkeit zur Ausübung sexueller Gewalt führen, wenn Jugendliche bereits anderweitig belastet sind – durch schwierige familiäre Verhältnisse, eigene Opfererfahrung, mangelnden Kontakt zu Gleichaltrigen, geringes Selbstwertgefühl, frühes Einsetzen der Pubertät, fehlende Sexualerziehung oder mangelnde Impulskontrolle und Empathiefähigkeit.

Was können Eltern tun, um sexuelle Grenzverletzungen unter Jugendlichen zu verhindern?

Auch wenn es nicht einfach scheint – Eltern können viel tun, um sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen zu verhindern.

Der beste Schutz vor sexuellen Grenzverletzungen ist ein starkes Selbstbewusstsein. Und dies können Eltern durch eine Erziehung fördern, die die Bedürfnisse und Gefühle ihrer Kindern ernst nimmt, Grenzen achtet und die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung unterstützt.

Dabei haben Eltern immer auch eine wichtige Modellfunktion für ihre Kinder – sie leben vor, wie Beziehungen gestaltet werden können, wie mit Bedürfnissen, Gefühlen, Grenzen und Konflikten umgegangen werden kann. Durch einen liebevollen, wertschätzenden und rücksichtsvollen Umgang aller Familienmitglieder miteinander lernen Kinder und Jugendliche, auf Gefühle und Grenzen zu achten – ihre eigenen ebenso wie die der anderen.

Dies gilt auch für die Pubertät – eine intensive und aufregende Zeit für Kinder wie Eltern, denn die Mädchen und Jungen verändern sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig. Sie sind dabei, ihre Identität zu festigen, selbständig zu werden und in die Erwachsenenwelt hineinzuwachsen. Dazu gehört auch, sich auszuprobieren, eigene Erfahrungen zu machen, „unvernünftige Dinge“ zu tun und Grenzen zu überschreiten. Trotzdem sind Eltern nach wie vor für den Schutz ihrer Kinder verantwortlich und müssen aktiv werden, wenn sich diese ernsthaft in Gefahr begeben.
Hier müssen Eltern die schwierige Balance finden zwischen Loslassen und Halt bzw. Schutz geben.

Auch wenn im Verlauf der Pubertät der Einfluss der Peers zunimmt und für Jugendliche die Meinung der Clique wichtiger wird, orientieren sich die meisten auch weiterhin an der Haltung der Eltern – auch im Bereich Körper, Beziehung und Sexualität: Diese Chance sollten Eltern nutzen! Denn eine offene und umfassende Sexualerziehung ist die wesentliche Grundlage, um sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen vorzubeugen.

Dazu brauchen Jugendliche Eltern, die sie in ihrer (sexuellen) Entwicklung begleiten und ihnen als Gesprächspartner/-innen und Wissensvermittler/- innen zur Seite stehen und ihnen Orientierung geben, ohne sie einzuengen. Die Einstellung Jugendlicher zu Sexualität wird nicht nur geprägt durch die Erlebnisse und Erfahrungen, die sie mit ihrem Körper, mit Sexualität und Beziehung machen, sondern auch durch Haltungen und Werte, die Eltern ihnen vermitteln. Daher sollten Eltern mit ihren Kindern neben den klassischen Aufklärungsthemen auch über schwierige Themen ins Gespräch kommen. Schwierige Fragen fordern Eltern heraus, zunächst einmal über die eigene Einstellung zum Thema nachzudenken. Gelegenheiten wie Filme, Liedtexte, Videoclips oder Berichte über Stars und Sternchen in der Regenbogenpresse können geeignete Anlässe für solch ein Gespräch sein.

Gute Fragen sind zum Beispiel:

  • Was bedeutet „schön sein“ für dich oder mich, was gilt als schön
  • im Fernsehen und Internet?
  • Was macht einen „echten“ Mann, eine „typische“ Frau aus deiner Sicht aus?
  • Wie lerne ich ein Mädchen/ einen Jungen kennen?
  • Wo und wie oft treffe ich ihn oder sie?
  • Was unternehmen wir gemeinsam?
  • Welche Formen der Verhütung gibt es?
  • Welche sexuell übertragbaren Krankheiten gibt es?
  • Wie stehe ich zu Pornografie?
  • Sind Frauen „allzeit bereit“ und werden gerne „hart hergenommen“ wie im Porno? Wie ist das mit der Masturbation, ist das normal?
  • Wen liebe ich oder finde ich sexuell anregend – Mädchen, Jungen oder beide?
  • Wie weiß ich, ob mein Gegenüber etwas mag oder nicht?
  • Wie, wo und warum kommt es zu sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen?
  • Was kann ich tun, wenn ich in eine schwierige Situation komme?

Durch solche Gespräche können Jugendliche ihre Werte und Einstellungen reflektieren und realitätsbezogenes Wissen über Sexualität erwerben. Sie lernen, in angemessener Weise über Sexualität zu sprechen. Dies trägt dazu bei, eine respektvolle Beziehungsgestaltung zu erlernen und sexuelle Bedürfnisse angemessen zum Ausdruck bringen zu können. Das sind gerade in Teenagerbeziehungen wichtige Schutzfaktoren.

Darüber hinaus können bestimmte Kurse, z.B. Angebote zur Selbstverteidigung bzw. Selbstbehauptung, dazu beitragen, der eigenen inneren Stimme zu vertrauen, beginnende Grenzverletzungen frühzeitig wahrzunehmen und schneller adäquate Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Leider können auch gute Kurse keinen hundertprozentigen Schutz vor sexuellen Übergriffen garantieren, sie erhöhen jedoch zumindest die Fähigkeit, sich Hilfe zu holen.

Was können Eltern tun, wenn es zu sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen kam?

Wenn Eltern von sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen erfahren, fühlen sie sich häufig überfordert und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie unterschätzen ihre Möglichkeiten, einerseits Schutz zu gewähren und andererseits Grenzen zu setzen. Eltern müssen sich ihrer Verantwortung stellen und ihre Möglichkeiten ausschöpfen.

Für die Betroffenen ist es wichtig, Schutz und Unterstützung zu erhalten. Übergriffige Jugendliche können durch ein klares Einschreiten ihrer Eltern in ihrem Tun gestoppt werden. Daher sollten Eltern immer, auch schon bei scheinbar harmlosen (verbalen) sexuellen Übergriffen, einschreiten und eindeutig Position gegen sexuelle Gewalt beziehen. Sie machen Jugendlichen damit deutlich, dass sexuelle Grenzverletzungen kein Spaß sind und von ihnen nicht toleriert werden.

Was tun, wenn Ihr Kind einen sexuellen Übergriff erlebt hat?

Viele Eltern wissen nicht, wie sie reagieren sollen, wenn ihre Tochter oder ihr Sohn von sexuellen Übergriffen durch Gleichaltrige berichten. Hier gelten die gleichen Regeln, die auch bei anderen Übergriffen empfohlen werden:

  • Ruhe bewahren.
  • Zuhören.
  • Ernst nehmen.
  • Glauben schenken.
  • Nicht bagatellisieren.
  • Nach den Bedürfnissen fragen.
  • Hilfe anbieten.
  • Alle weiteren Maßnahmen absprechen.
  • Bei Bedarf für Unterstützung durch eine Fachstelle für die/den Jugendlichen und sich selbst sorgen.

Betroffene Jugendliche können ganz unterschiedlich auf das Erleben sexueller Grenzverletzungen reagieren: Manche ziehen sich zurück, entwickeln Schulprobleme oder Ängste, andere wiederum reagieren aggressiv auf ihre unmittelbare Umwelt, gehen wechselnde sexuelle Kontakte ein usw.

Wichtig ist es daher, die Hilfen für die Betroffenen mindestens ebenso ernst zu nehmen, wie die Bestrafung des Täters bzw. der Täterin. Bei sexuellen Übergriffen erleben die Betroffenen häufig massive Gefühle von Entwertung, Ohnmacht und (vermeintlicher) Schuld.

In manchen Fällen ist es wichtig, sich ärztlich untersuchen zu lassen. Dies kann z.B. durch eine Frauenärztin oder auch in einer Klinik erfolgen. Die Pflicht zu einer Anzeige besteht nicht, sollte jedoch, wenn der oder die Betroffene dies möchte, in Erwägung gezogen werden. Es ist allerdings zu empfehlen, zuvor mit einer Fachberatungsstelle den Nutzen und die mögliche Belastung für betroffene Jugendliche gegeneinander abzuwägen.
Hinweise auf entsprechende Fachberatungsstellen finden Sie im Kapitel „Rat und Tat“ am Ende dieser Broschüre. Eine Anzeige kann für übergriffige Jugendliche Signalwirkung haben: „Was ich getan habe, war nicht in Ordnung!“

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind sexuell übergriffig war?

Für Eltern ist es meist schockierend und zugleich unbegreiflich, wenn sie erfahren, dass ihr Kind sexuelle Gewalt ausgeübt haben soll. Es ist nachvollziehbar, dass Eltern übergriffiger Jugendlicher dazu neigen, das Unglaubliche zu leugnen oder zu bagatellisieren. Sie fragen sich insgeheim vielleicht, was sie falsch gemacht haben und haben Angst davor, die Schuld für das Verhalten ihres Kindes zugewiesen zu bekommen oder als Familie stigmatisiert zu werden.

Da die Jugendlichen selbst meist nicht bereit sind, die Übergriffe zuzugeben und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, stehen die Eltern übergriffiger Jugendlicher emotional vor der großen Herausforderung, die Vorwürfe ernst zu nehmen und ihr Kind trotzdem nicht abzulehnen. Dennoch gilt es, den übergriffigen Jugendlichen unmissverständlich klarzumachen, dass sexuelle Grenzverletzungen nicht in Ordnung sind.

Bei wiederholten oder massiveren sexuellen Übergriffen reichen pädagogische Maßnahmen der Eltern definitiv nicht aus. Dass Jugendliche das Unrecht ihres Handelns einsehen, ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihr Verhalten ändern und Wege finden können, ihre sexuellen oder machtorientierten Bedürfnisse nicht auf Kosten anderer auszuleben. Dazu brauchen sexuell übergriffige Jugendliche gezielte Hilfe durch eine Fachberatungsstelle bzw. therapeutische Einrichtung. Um die passende Hilfe für die Jugendlichen zu finden, muss daher zunächst eine Einschätzung des Problemverhaltens vorgenommen werden. Sie als Eltern sollten sich dessen bewusst sein, dass mithilfe guter therapeutischer Maßnahmen auch bei sexuellen Grenzverletzungen im Jugendalter eine positive Veränderung des problematischen Verhaltens möglich ist. Das Verhindern eines erneuten sexuellen Übergriffs ist vorrangiges Ziel der Behandlung. Dazu ist auch eine Zusammenarbeit mit den Eltern erwünscht und notwendig.

Wo finden Sie Hilfe?

Eltern, deren Kind einen sexuellen Übergriff erlebt hat oder sexuell übergriffig wurde, brauchen in der Regel für ihr Kind sowie für sich selbst Unterstützung und Beratung. Dazu können sie sich vor Ort an Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt, an Erziehungsberatungsstellen z.B. der Landkreise oder der Caritas oder auch an Mitarbeiter/-innen des zuständigen Jugendamts wenden. Viele Fachstellen sind auch im Internet vertreten (siehe Kapitel „Rat und Tat“).

Auf ein letztes Wort:

Sie als Eltern wünschen sich, dass Ihre Tochter bzw. Ihr Sohn ihre bzw. seine (ersten) sexuellen Erfahrungen positiv und selbstbestimmt erleben kann. Sie können viel dazu beitragen: Durch eine wertschätzende und partnerschaftliche Atmosphäre in der Familie lernt Ihr Kind einen achtsamen Umgang mit sich und anderen. Wenn Sie darüber hinaus interessiert Anteil nehmen am Leben Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes ohne sie übermäßig zu kontrollieren und ansprechbar sind für alle Fragen, Sorgen und Nöte – auch bei den Themen „Körper, Beziehung, Sexualität und sexuelle Gewalt“, tragen Sie wesentlich dazu bei, sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen vorzubeugen und Ihrem Kind den Zugang zu einer befriedigenden, selbst bestimmten und zugleich Grenzen achtenden Sexualität zu ermöglichen.

Rat und Tat

Beratung und Information im Internet

  • www.bke.de (Beratung für Jugendliche und Eltern, Vermittlung von Beratungsstellen vor Ort der Bundeskonferenz der Erziehungsberatung e.V.)
  • www.das-beratungsnetz.de (E-Mail- und Einzel-Chat-Beratung von Zartbitter Münster)
  • N.I.N.A. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexuellem Missbrauch, Vermittlung zu regionalen Beratungs- und Hilfsangeboten)
  • www.lag-gsg-bw.de (Information der Landesarbeitsgemeinschaft der feministischen Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt zu Beratungsstellen in Baden Württemberg)
  • www.zartbitter.de (Informationsmaterial zu sexueller Gewalt & Prävention für Eltern und Kinder von Zartbitter Köln)
  • www.amyna.de (Projekt GrenzwertICH: Beratung und Information zu sexueller Gewalt unter Kindern & Jugendlichen sowie zu Prävention)
  • www.kibs.de (Onlineberatung für Jungen und junge Männer bei sexueller Gewalt)
  • www.bzga.de (Informationen zum Thema Sexualität für Eltern, Jugendliche und Fachkräfte)
  • www.innocenceindanger.de (Projekte gegen sexuellen Missbrauch in Internet und neuen Medien)

Beratung und Information für Jugendliche im Internet

  • www.save-me-online.de (Onlineberatung für Kinder & Jugendliche bei sexueller Gewalt im Internet)
  • www.youngavenue.de (Internetangebot der Kinderschutzzentren mit E-Mail-Beratung)
  • www.spass-oder-gewalt.de (Präventionsprojekt zur Gruppenarbeit mit Jugendlichen gegen sexuelle Belästigung und Gewalt unter Jugendlichen, ab ca. 12 Jahren)
  • www.loveline.de (Infoportal und Chat der BZgA für Jugendliche zu Liebe, Sexualität, Verhütung)
  • www.klicksafe.de (Infoportal und Materialien für Eltern,Kinder und Jugendliche zu Internet und neuen Medien)

Literaturtipps für Eltern

  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.) (2007): Über Sexualität reden... Die Zeit der Pubertät. Zu beziehen über Website.
  • Stadt Nürnberg (Hrsg.): Broschüre „Jugendliche und Sexualität. Verboten oder erlaubt?“: Download.

Literaturtipps für Jugendliche

  • Bailey, Jacqui (2008): Sex, Zahnspangen und der andere Stress. Pubertät überstehen – so geht’s! Verlag an der Ruhr
  • Klees/Mebes (2009): Katrins Geheimnis. Eine Geschichte über sexuelle Übergriffe unter Geschwistern. Verlag mebes & noak, Köln
  • Stadt Wien: 3-teiliger Aufklärungsfilm „Sex we can“ für 14- bis 16-jährige: Link
  • www.amyna.de: Rezensionen (Jugendbücher)
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Broschüren zu unterschiedlichen Themen: Website 

Autorin

Elke Schmidt, Pädagogin (M.A.) und Mediatorin, ist Mitarbeiterin bei Amyna e.V. - Projekt GrenzwertICH in München

Quelle und Herausgeber

Dieser Beitrag erschien als ElternWissen Nr. 5 "Sexuelle Gewlt unter Jugendlichen"

Die Reihe ElternWissen wird herausgegeben von:
AGJ-Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg e.V.
Referat Prävention
Oberau 21
79102 Freiburg
Tel. 0761/2180741

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Die Übernahme hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

erstellt am 30.09.2015
 

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