Lernbehinderung (Lernbeeinträchtigung) bei Kindern – Ursachen und Chancen

Prof. Dr. Hans Weiß
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Wenn Eltern im Zusammenhang mit ihrem Kind von Fachleuten Begriffe wie „Entwicklungsstörung“, „Lernstörung“, vor allem aber „Lernbeeinträchtigung“ oder „Lernbehinderung“ hören, so löst dies bei ihnen Verunsicherungen, Sorgen und Ängste aus: Was heißt all dies für unser Kind – im Hinblick auf die Schule, auf den Beruf und sein späteres Leben? Worauf haben wir uns einzustellen und was ist zu beachten? Dazu möchte ich einige Orientierungen geben.

Lernbehinderung und Lernbeeinträchtigung – zwei mittlerweile bedeutungsgleiche Begriffe

Die Begriffe „Lernbehinderung“ und „lernbehindert“ entstanden um 1960 im Zusammenhang mit der Umbenennung der damaligen „Hilfsschule“ in „Schule für Lernbehinderte“ und hatten sich über Jahrzehnte etabliert. Seit den 1990er-Jahren werden sie jedoch – insbesondere im Zuge der Integrations- und jetzigen Inklusionsdiskussion – zunehmend infrage gestellt. Vor allem aber wird eingewendet, dass die Bezeichnung „lernbehindert“ für die betroffenen Kinder und Jugendlichen stigmatisierend wirkt und ihre Identitätsentwicklung belasten kann. Daher bemüht man sich um stigmatisierungsärmere Klassifizierungsbegriffe. So hat die Kultusministerkonferenz in ihren „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen“ (KMK 1999) den Begriff „Lernbehinderung“ durch „Lernbeeinträchtigung“ ersetzt und verwendet durchgehend die Bezeichnungen „Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen“ oder mit „Beeinträchtigungen des Lernens“. In der wissenschaftlichen Diskussion hat „Lernbeeinträchtigung“ den Begriff „Lernbehinderung“ zu einem guten Teil abgelöst, wie z. B. Grundlagenbuch „Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens“ (Schroeder 2015) belegt. Gleichwohl findet sich auch in neueren wissenschaftlichen Veröffentlichungen Lernbehinderung als Fachbegriff (etwa Grünke 2014). Ebenso nennt sich der wesentlich von betroffenen Eltern getragene Verein LERNEN FÖRDERN „Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Lernbehinderungen“.

Im Folgenden verwende ich beide Begriffe in derselben Bedeutung. Benutze ich „Lernbehinderung“, kann die Leserin oder der Leser diesen durch „Lernbeeinträchtigung“ austauschen und umgekehrt. Welchen Begriff man auch immer bevorzugt, entscheidend ist, sich über die damit klassifizierten Menschen und ihre Herkunfts- und Lebenswelten mit gebührendem Respekt zu äußern sowie darauf zu achten, dass sie mit ihren Hilfebedürfnissen auch begrifflich in den sozialrechtlichen Hilfen (vor allem den entsprechenden Sozial gesetzbüchern SGB VIII, SGB IX und SGB XII) verankert sind.

Was heißt „Lernbehinderung“ oder „Lernbeeinträchtigung“?

Es ist nicht einfach, Lernbehinderung oder Lernbeeinträchtigung inhaltlich klar zu fassen und von anderen Begriffen wie z. B. Schulleistungsschwäche, Lernversagen, Lernstörungen abzugrenzen. Was bei einem Kind als Lernbehinderung bezeichnet wird, springt nicht „ins Auge“, wie z. B. die Bewegungsbeeinträchtigung bei einem körperbehinderten Kind oder die offensichtlichen Orientierungsprobleme bei einem blinden Menschen. Gleichwohl möchte ich einige Orientierungspunkte zur begrifflichen Klärung von Lernbehinderung (Lernbeeinträchtigung) anbieten. Der erste Schritt besteht darin, deutlich zu sagen, was sie nicht ist:

  • Lernbehinderung ist, auch wenn es das Wort nahelegen könnte, keine „umfassende Behinderung einer allgemeinen Lernfähigkeit“ (Schröder 2005, S.80); denn eine allgemeine Lernfähigkeit gibt es nicht. Jeder Mensch entwickelt in verschiedenen Lernbereichen individuell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten, die im Vergleich zu anderen Menschen über, im oder unter dem Durchschnitt liegen. Auch ein Kind, dem eine Lernbehinderung zugeschrieben wird, kann in speziellen Bereichen, z.B. in praktischen Dingen, in der Pflege von Angehörigen, im Sport, aber auch im treffsicheren Einschätzen von Personen oder der Atmosphäre von Situationen, überdurchschnittliche Leistungen erbringen.
  • Lernbehinderung ist ferner keine individuelle Eigenschaft, „die als Ursache der Lernschwierigkeiten – sozusagen hinter den schwachen Schulleistungen stehend – oder gar als Wesensmerkmal bestimmter Kinder angesehen werden könnte“ (Schröder 2005, S.104). Daher erscheint die Aussage nicht sinnvoll, „ein Kind versage in der Allgemeinen Schule und sei dort nicht zu fördern, weil es eine Lernbehinderung habe“ (ebd.).
  • Lernbehinderung ist schließlich nicht einfach mit einer Intelligenzschwäche gleichzusetzen; denn die davon betroffenen Schülerinnen und Schüler weisen in ihren Intelligenztestleistungen eine hohe Streuung von unter 60 bis über 100 IQ-Punkten auf. Bei einem Teil dieser Schüler/innen zeigt sich eine unterschiedlich niedrige Intelligenz; ein anderer Teil reicht bis in den Durchschnittsbereich der Intelligenz hinein. Auch sonst gibt es kein eindeutig trennendes Merkmal zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Lernbehinderung.

Was aber, so wäre in einem zweiten Schritt zu fragen, ist Lernbehinderung dann? Lernbehinderung zeigt ein Missverhältnis an, eine mangelnde Passung zwischen den Handlungs- und Lernmöglichkeiten eines jeweils konkreten Kindes und den aus Lehr- bzw. Bildungsplänen abgeleiteten Lernanforderungen sowie den entsprechenden Unterrichtsmethoden und -ritualen einer jeweils konkreten Allgemeinen Schule, die dieses Kind besuchen muss (Abb.1). Passungsprobleme können einerseits aufseiten des Kindes und seiner erschwerten Lerngeschichte im Zusammenhang mit
biologischen Risiken (z. B. einer Frühgeburt), vor aber auch mit benachteiligten Lebenslagen entstehen. Passungsprobleme können andererseits aufseiten von Bildungseinrichtungen, vor allem in der Schule und im Verhältnis zu Lehrkräften, auftreten, z. B. durch einen Unterricht, der die Auswirkungen von Lebenslagen, die damit verbundenen Erfahrungen und Umgehensweisen sozial benachteiligter Schüler/innen mit möglichen Misserfolgen und Diskriminierungen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Diese – oftmals doppelseitige – mangelnde Passung wird allzu oft einseitig zulasten der Lernenden als problematische, falsch verlaufende und scheiternde schulische Lernprozesse verrechnet, weil man die Angebote, die unterrichtlichen Vermittlungsformen und das Anforderungsniveau der jeweiligen Allgemeinen Schule als nicht hinterfragbare Bezugspunkte der Beurteilung nimmt. Da Lernen und Lehren jedoch stets wechselseitig aufeinander einwirken, ist eine Lernbehinderung nur als Resultat jener Wechselwirkungsprozesse zwischen Lernen und Lehren angemessen zu begreifen. Sie kann also niemals auf ein individuelles Merkmal von Lernenden verengt werden.

Wei _ Lernbehinderung GrafikAbb. 1: Lernbehinderung als dynamischer Prozess im Spannungsfeld von Lehren und Lernen

Es ist daher eine vordringliche Aufgabe der Schulsysteme, unzureichende Passungsverhältnisse zu minimieren. Dies erfolgt traditionell in der Weise, dass Kinder, denen eine Lernbehinderung bzw. – in der neuen Begrifflichkeit der Kultusministerkonferenz (vgl. KMK 1999) – ein „sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“ attestiert wird, in eine Schule für Lernbehinderte ein- oder umgeschult werden (diese Schule wird heute je nach Bundesland unterschiedlich, z. B. als „Schule für Lernhilfe“ oder „Förderschule Schwerpunkt Lernen“, bezeichnet). Zunehmend werden Schüler/innen mit Beeinträchtigungen des Lernens jedoch auch in inklusiver Form in Allgemeinen Schulen beschult. Dort wird das bei ihnen bestehende Missverhältnis zwischen ihren Lernmöglichkeiten und den schulischen Anforderungen dadurch behoben, dass sie, wo dies erforderlich erscheint, nach individuellen Bildungszielen, also zieldifferent, unterrichtet werden. So besuchten 2014 von den Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen gut 60 Prozent die entsprechende Förderschule und knapp 40 Prozent Allgemeine Schulen (KMK 2016, S.XIX).

Während sich Lernstörung auf erschwerte Lehr-/Lernprozesse in einem enger begrenzten Bereich bezieht (z. B. eine Lese-Rechtschreibschwäche), liegt bei einer Lernbehinderung ein umfängliches, langdauerndes und schwerwiegendes Missverhältnis zwischen den individuellen Lernmöglichkeiten einerseits und schulischen Anforderungen und Lehrarrangements andererseits vor. Erlebt ein Kind in der Schule laufend Misserfolge und werden dadurch seine Zuversicht und Freude am Lernen empfindlich geschwächt, dann kann sich eine Lernstörung zu einer Lernbehinderung ausweiten und verfestigen – wenn z. B. im Unterricht dem erschwerten Lehr-/Lernprozess bei einer Lese-Rechtschreibschwäche nicht hinreichend Rechnung getragen wird und dadurch schwerwiegende Probleme in weiteren Fächern hinzukommen.

Von einer sog. geistigen Behinderung unterscheidet sich die Lernbehinderung durch das geringere Missverhältnis zwischen den Möglichkeiten eines Individuums und den Erwartungen seiner Umwelt, besonders der Schule. Deshalb ist auch der Grad der Abhängigkeit von psychosozialen und pädagogischen Hilfeleistungen bei Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung im Allgemeinen geringer als Menschen mit einer geistigen Behinderung (heute oftmals auch als kognitive Behinderung bezeichnet).

Wie wird ein Kind im Lernen beeinträchtigt bzw. behindert?

Lernbehinderung ist also kein statisches Wesensmerkmal, sondern sie entwickelt sich – unter bestimmten Belastungen – in einem dynamischen Prozess, der die Lebens- und Lerngeschichte eines Kindes oder Jugendlichen prägt. Zu diesen Belastungen gehören drei Faktorengruppen.

1. Entwicklungs- und lernerschwerende biologische Faktoren

Hier ist vor allem an Funktionsstörungen des Zentralnervensystems zu denken. Diese können entstehen im Zusammenhang mit Komplikationen vor, während oder nach der Geburt, bei Früh- und Mangelgeburten sowie als Folgezustände bei Unfällen und Krankheiten während der Kindheit. Gemeint sind hier nicht schwerwiegende Schädigungen des Zentralnervensystems, die zu körperlichen, geistigen oder anderen Behinderungen führen können, sondern leichtere, diffuse (unbestimmte) Funktionsstörungen. Bei Störungen in der Wahrnehmung haben z. B. die Kinder Probleme, Wahrnehmungsgegebenheiten richtig zu erfassen, was sich im Lesen- und Schreibenlernen hemmend auswirken kann. Bei Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen fällt es Kindern schwerer, sich selbststeuernd einem bestimmten Lerngegenstand gezielt zuzuwenden. Aufgabe der Lehrkraft ist es hier, den Kindern durch persönliches Ansprechen und Strukturierungsangebote Motivations- und Steuerungshilfen zu geben – was unter den Bedingungen der konkreten Schulsituation nicht immer genügend geschieht.

2. Entwicklungs- und lernerschwerende Umwelteinflüsse

Lernbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche kommen zu 80 bis 90 Prozent aus sozial benachteiligten Verhältnissen, oftmals auch mit Migrationshintergrund. Ihre häuslichen Lebens-, Entwicklungs- und Lernbedingungen sind häufig durch eine Kombination mehrerer Merkmale gekennzeichnet wie:

  • niedriger Bildungs- und Erwerbsstatus der Eltern und daher unsichere und auf Dauer knappe finanzielle Mittel;
  • kleinere und schlechter ausgestattete Wohnungen, oft in benachteiligten Wohnvierteln;
  • wenig eigen verfügbarer Wohnraum zum Lernen, Ausruhen, Sich-Zurückziehen;
  • unzureichende Befriedigung grundlegender kindlicher Bedürfnisse (Sicherheit, Geborgenheit, Pflege und Ernährung, Bewegung, Spiel und sonstige Aktivitäten...);
  • wenig familiäre Ermutigung und Anregungen zum Lernen in der Schule und in einer hochkomplizierten Zivilisation (z. B. weil die Eltern selbst mit Problemen der Lebensführung erheblich belastet sind oder auch an ihren negativen schulischen Erfahrungen zu tragen haben);
  • Leben in einer Sprach- und Kulturform, die von den in der Schule erwarteten und praktizierten Standards deutlich abweicht (Schröder 2005, S.158–163).

Mit dieser Merkmalsauflistung ist vorsichtig umzugehen; denn sie könnte zu Schuldzuweisungen an die Eltern führen, die ihren Kindern keine angemessenen Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen bieten (können). In der Tat werden nicht selten lernbeeinträchtigte Kinder in Armut und sozialer Benachteiligung, noch stärker freilich ihre Eltern und Familien, durch einseitige Schuldvorwürfe bloßgestellt, ohne dass z. B. Lehrer/innen die Hintergründe hinreichend mitbedenken, die in der Lebenssituation der Familien liegen und das elterliche Erziehungsverhalten prägen.

Hier entsteht ein Dilemma: Einerseits gilt es, sich in der Beschreibung der Bedingungsfaktoren, die zu Lernbehinderungen führen können, mit Schuldzuweisungen an die Eltern zurückzuhalten. Andererseits ist kritisch zu prüfen, inwieweit die Lebens- und Erziehungsverhältnisse Kinder und Jugendliche in Armut und sozialer Benachteiligung behindern, sich jene Kompetenzen anzueignen, mit denen sie den durchaus widersprüchlichen Anforderungen und Verlockungen unserer komplexen Gesellschaft standzuhalten vermögen. Mit diesem Dilemma können Beurteilende (z. B. Lehrer/innen, Wissenschaftler/innen und auch Eltern in günstigeren Lebenslagen) nur produktiv umgehen, wenn sie in möglichst fairer Weise – also selbstkritisch gegenüber den Beurteilungsmustern der eigenen bürgerlichen Lebensform – nach den Hintergründen fragen, warum Menschen in sozial prekären Verhältnissen spezifisch andere Formen des Zusammenlebens und Überlebens mit ihren Kindern entwickeln. Diesen Menschen mit Respekt zu begegnen, heißt auch zu fragen, wo in ihren (entwicklungshemmenden) Lebensformen „Stärken des Überlebens“ zu finden sind, die ein „bürgerlich“ bestimmter Blick leicht übersieht.

Keinesfalls lässt sich das Dilemma in der Weise auflösen, dass die entwicklungs- und lernerschwerenden Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Lernbehinderung unter den Teppich gekehrt werden. Dazu ist auf einen weiteren Sachverhalt hinzuweisen: Die Risiken, die aus den oben beschriebenen entwicklungs- und lernerschwerenden biologischen Faktoren entstehen können, sind nicht, wie vielfach angenommen wird, auf alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig verteilt. Das Risiko, davon betroffen zu werden, ist vielmehr bei Kindern in Armut, sozialer Benachteiligung und Randständigkeit deutlich höher (Lampert; Richter 2010). Dies hängt mit der belasteten Lebenssituation zusammen, in der diese Kinder aufwachsen.

Überdies kann sich eine sehr anregungsarme Lebens- und Erziehungssituation in den ersten Lebensjahren eines Kindes hemmend auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns, seiner Funktionen und Struktur, auswirken, wie die neuere Hirnforschung eindrucksvoll aufzeigt (vgl. z. B. Noble et al. 2012). Je länger ein Kind in einer belasteten familiären Umgebung aufwächst, ohne dass sich die Umweltbedingungen, bspw. durch Hilfen für die Familie, verbessern, desto negativer sind diese neurologischen Auswirkungen. Hingegen können günstige Bedingungen die entwicklungs- und lernerschwerenden Wirkungen biologischer Risiken ausgleichen oder vermindern. Treffen jedoch biologische Risiken mit ungünstigen Lebens- und Erziehungsbedingungen zusammen, dann wirken beide Faktorengruppen in der Lernbiografie eines Kindes und verstärken sich in ihren entwicklungs- und lernerschwerenden Folgen. Gerade wegen dieses engen wechselseitigen Zusammenhangs von Biologischem und Sozialem – im Positiven wie im Negativen – gilt es, biologische und soziale Entwicklungsrisiken frühzeitig zu erkennen und kontinuierlich entsprechende Hilfen, beginnend mit Frühförderung, anzubieten.

3. Ungünstige schulische Lehr-/Lernbedingungen

Da es sich bei Lernbeeinträchtigungen – wie dargelegt – um unzureichende Passungsverhältnisse zwischen individuellen Lernmöglichkeiten und schulischen Bildungszielen und deren Vermittlung handelt, darf bei der Frage nach erschwerenden Bedingungen in der Lernbiografie eines Kindes oder Jugendlichen die Schule selbst nicht ausgeblendet werden. Kobi (1975, S.88) sah vor rund 40 Jahren die „therapeutischen und unterrichtlichen Möglichkeiten, Lernbehinderungen zu vermeiden bzw. abzubauen“, als „noch nicht ausgeschöpft“ an. Seine Kritik bleibt weiter aktuell. So belegen die Ergebnisse der internationalen PISA-Studien, dass in Deutschland – mehr als in vergleichbaren Ländern – zumindest bislang der soziale Status der Schüler/innen in einem hohen Maße deren Schulerfolg mitbestimmt. Angesichts des überaus großen Anteils sozial benachteiligter Schüler/innen in Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen sind diese Ergebnisse höchst brisant. Zwar gibt es offenbar erste Anzeichen für positive Veränderungen, aber hier ist noch ein längerer Weg zu gehen.

Kobi (1975, S.13) spricht ferner zugespitzt davon, dass der Lernbehinderung aufseiten des Kindes eine „Lehrbehinderung“ aufseiten von Lehrpersonen entsprechen kann. Eine „Lehrbehinderung“ kann, auch in der Förder- oder Sonderschule, besonders dann auftreten, wenn Lehrer/innen ihre bürgerlichen Normen und Erwartungen hinsichtlich Verhalten und Leistung absolut setzen und daher keinen verstehenden Zugang zu den davon abweichenden Lebens- und Entwicklungsbedingungen und Alltagserfahrungen ihrer Schüler/innen finden.

Was ist zu tun?

  1. Auch wenn sich Lernbehinderung als unzureichendes Passungsverhältnis zwischen individuellen Lernmöglichkeiten und Lern- und Bildungsanforderungen oft erst im Raum der Schule zeigt, sind bedingende Faktoren sozialer und biologischer Art häufig bereits in der frühen Lebens- und Bildungsgeschichte eines Kindes wirksam. Daher ist es sehr wichtig, solche Faktoren frühzeitig zu erkennen. Werden bei einem Kind selbst, vor allem aber auch in seinen Lebens- und Entwicklungsbedingungen entsprechende Auffälligkeiten beobachtet (sei es von den Eltern, von anderen Personen aus dem familiären Umfeld oder von Fachleuten, z. B. Kinderärzten), sollen die Eltern ermutigt werden, Kontakt mit geeigneten fachlichen Stellen aufzunehmen. So bieten sich vor allem Interdisziplinäre Frühförderstellen als Kompetenzzentren für die Entwicklungsprobleme von Kindern im Säuglings- und Kindergartenalter als Anlaufstellen für Eltern an, die sich um die Entwicklung ihres Kindes Sorgen machen.
  2. Kinder mit biologisch oder sozial bedingten Entwicklungs- und Lernproblemen brauchen möglichst frühzeitig eine für sie geeignete äußerhäusliche Förderung, insbesondere in inklusiven Kindertagesstätten einschließlich inklusiver Krippen – auch in Verbindung mit ehrenamtlichen Patinnen und Paten, mit „Wahlomas“ etc., die sich gerade auch sozial am Rande stehender Kinder annehmen, sie begleiten, sie anregen oder ihnen vorlesen. Im gemeinsamen Spielen, Arbeiten und Lernen mit anderen Kindern sollen diese Wertschätzung und Ermutigung für eine positive Selbstwertentwicklung erfahren, sich in dem, was sie können, bestätigt fühlen und ermutigt werden, sich mit Neuem auseinanderzusetzen und dadurch ihr Wissen und Können weiterzuentwickeln. Erzieher/innen brauchen dazu ein Wissen über die jeweiligen Stärken eines Kindes, aber auch darüber, wo mögliche Schwierigkeiten liegen, die das Kind in seiner Entwicklung hemmen. Kinder in ihren Stärken anzuerkennen ist ein zentrales Merkmal kindgerechter Pädagogik, jedoch auch die möglichen Probleme und Hemmnisse sensibel zu erkennen und damit behutsam umzugehen gehört wesentlich zu pädagogischer Kompetenz. Erst dann können dem Kind geeignete Hilfen angeboten werden, damit es Hindernisse auf seinem Lern- und Bildungsweg so gut wie möglich zu überwinden oder ihnen produktiv auszuweichen vermag.
  3. Bei aller notwendigen außerhäuslichen Förderung gerade auch jener Kinder, bei denen Bedingungen für die Ausbildung einer Lernbeeinträchtigung schon in der Frühzeit ihres Lebens auftreten, bleibt für diese Kinder weiterhin die Familie der zentrale Ort ihrer Lern- und Bildungsentwicklung. Daher ist es unabdingbar, besonders mit Familien in schwierigen Lebenslagen intensiv zusammenzuarbeiten und sie in ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag für ihre Kinder zu unterstützen. Dies ist eine wichtige Aufgabe von Kindertagesstätten und Schulen, in der die Kinder gefördert werden, aber auch der Frühförderung. Sie kann nur gelingen, wenn bei allen Problemen, die in Familien bestehen mögen, den Eltern und ihrer Lebenswelt prinzipiell mit Respekt begegnet wird.
  4. Wird bei einem Kind bei der Einschulung oder auch in der ersten Schulzeit ein Förderbedarf im Schwerpunkt Lernen festgestellt, bieten sich grundsätzlich die beiden schon kurz beschriebenen Alternativen an: entweder eine inklusive Beschulung oder der Besuch einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Beide Formen haben ihre Vor- und Nachteile. Es ist wichtig, dass sich die Eltern vor ihrer Entscheidung über diese unterschiedlichen Möglichkeiten genau informieren lassen, vielleicht auch selbst beide Schularten in Augenschein nehmen. Voraussichtlich wird der Anteil der inklusiv beschulten Schüler/innen mit dem Förderbedarf Lernen künftig weiter zunehmen, was allerdings auch angemessene Rahmenbedingungen voraussetzt. Schulen, die gut auf die Lebensbedingungen und Bildungsbedürfnisse der Schüler/innen ihres Einzugsgebietes ausgerichtet sind, stärken die Freude am Lernen der angebotenen Inhalte, weil die Kinder und Jugendlichen deren Bedeutung und Sinn für ihr Leben besser begreifen können.

Ausblick

Die Forschungslage zeigt eindeutig: Lernbehinderung (Lernbeeinträchtigung) entsteht zu einem ganz überwiegenden Teil in Wechselwirkung mit sozialer Benachteiligung. Daher kommt es nicht nur darauf an, ungünstige Lebens- und Erziehungsbedingungen – und damit auch betroffene Kinder und ihre Eltern – in Wissenschaft und Praxis möglichst fair, d. h. vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen, zu beschreiben und zu beurteilen. Es wäre darüber hinaus viel gewonnen, wenn sich jene Eltern mit guten (Bildungs-)Ressourcen und Artikulationsmöglichkeiten, deren Kind eine Lernbehinderung (Lernbeeinträchtigung) attestiert wird – in stellvertretender Solidarität mit „sozial schwächeren“ Eltern – für die Interessen von Kindern mit Lernbehinderung und ihren Familien einsetzten. Dieser Solidaritätsgedanke hat die Arbeit des Bundesverbandes LERNEN FÖRDERN – Bundesverband zur Förderung Lernbehinderter e. V. als Initiative vor allem betroffener Eltern seit seiner Gründung im Jahre 1968 bestimmt. In Kooperation mit Fachleuten hat der Verband hier weiterhin eine wichtige, gleichwohl schwierige Aufgabe. Als nicht betroffene Fachperson kann ich nur erahnen, was es für Eltern heißen mag, neben den Mühen, für das eigene Kind mit dem Handicap Lernbeeinträchtigung bestmöglich zu sorgen und für seine Belange nach außen einzutreten, in stellvertretender Solidarität auch die Interessen von Kindern und Familien jenseits der eigenen, letztlich fremden Lebenswelt wahrzunehmen und mit zu vertreten. Aber diese Solidarität könnte dazu beitragen, das bestehende System der Hilfen für Menschen mit diesem Handicap insgesamt weiterzuentwickeln, also inklusiv und partizipativ auszubauen: in den Bereichen Früherkennung und Frühförderung, schulische Erziehung und Bildung, Eingliederung in Beruf und Arbeitswelt sowie Begleitende Hilfen und Beratung. Viel wird auch davon abhängen, ob besonders beim oft schwierigen Übergang von der Schule ins Erwachsenenleben junge Menschen verlässliche und kompetente Erwachsene finden, vor allem wenn ihre Startchancen in diesen neuen Lebensabschnitt durch soziale und kulturelle Bedingungen erschwert sind. Sie brauchen dann Begleiter und Mentoren, die mit ihnen zusammen ein Stück ihres Wegs gehen (Hiller 2015). Gemeinsame Initiativen von Eltern und Fachleuten (Lehrer/innen an Förderschulen, Schulsozialpädagogen etc.) können, z. B. im Rahmen von Fördervereinen, Netzwerke für eine derartige Kultur des Helfens aufbauen.

Wichtige Kontaktadresse

Bundesverband LERNEN FÖRDERN – Bundesverband zur Förderung Lernbehinderter e. V.

Literatur

  • Grünke, Matthias; Grosche, Michael (2014): Lernbehinderung. In: Lauth, Gerhard W.; Grünke, Mattias; Brunstein, Joachim C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen, S. 76–89
  • Hiller, Gotthilf Gerhard (2015): Sema und Halim – Oder: Wie funktioniert und wem nützt Mentoring. In: Sonderpädagogische Förderung heute, Jg. 60, S. 78–90.
  • [KMK 1999] Sekretariat der Ständigen Konferenzder Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen. Berlin
  • [KMK 2016] Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sonderpädagogische
  • Förderung in Schulen 2005 bis 2016. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz. Dokumentation Nr. 210 – Februar 2016. Berlin.
  • Kobi, Emil E. (1975): Die Rehabilitation der Lernbehinderten. München, Basel
  • Lampert, Thomas; Richter, Matthias (2010): Armut bei Kindern und Gesundheitsfolgen. In: Holz, Gerda; Richter-Kornweitz, Antje (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folgen. München, Basel, 55–65
  • Noble, Kimberly G. u. a. 02012): (Neural correlates of socioeconomic status in developing human brain. In: Developmental Science, Jg. 15, 516–527
  • Schroeder, Joachim (2015): Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens. Stuttgart
  • Schroeder, Ulrich (2010): Lernbehindertenpädagogik. Grundlagen und Perspektiven sonderpädagogischer Lernhilfe. 2. Aufl. Stuttgart

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eingestellt am 21. September 2016

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